# taz.de -- Abschiednehmen in Gaza: Schlafe in Frieden, mein Freund, denn du bist überall
       
       > Unser Autor verliert einen geliebten Freund. Und schreibt ihm einen Brief
       > – mit gemeinsamen Erinnerungen und einer Frage ins Jenseits.
       
 (IMG) Bild: Mit seinem Freund Bilal besuchte der Autor gerne das Meer in Gaza
       
       Hallo Bilal, ich bin nicht gekommen, um dir zu sagen, dass ich unsere
       Lieblingsmusik gehört und an dich gedacht habe. Auch nicht, um dir zu
       sagen, dass ich immer an dich denke, wenn ich am Meer sitze. Wir haben dort
       so viele Tage gemeinsam verbracht. Ich bin nicht hier, um dir zu sagen,
       dass meine dreijährige Tochter Elaine so oft nach dir fragt („Papa, wo ist
       Onkel Bilal? Hat er mir nichts Leckeres mitgebracht?“). Auch nicht, dass
       unser Lieblingsfußballspieler Messi wieder die Copa América gewonnen hat.
       
       Ich will dir nicht vom Grillgeruch erzählen, der mich immer wieder an
       unsere Abende auf dem Dach erinnert, und ich will dich auch nicht an unsere
       täglichen Spaziergänge in den Straßen des Lagers erinnern. Ich bin nicht
       gekommen, um dir zu sagen, dass mir deine letzte Umarmung bis heute im
       Gedächtnis geblieben ist. Genauso wenig will ich dir noch einmal von
       unserer Reise nach Ägypten erzählen. Wie wir durch Zamalek gelaufen sind,
       durch die Nächte Kairos, im November 2022. Du warst zum ersten Mal dort und
       wir füllten die Nächte mit unserem Lachen.
       
       Dein Gehen hat eine solche Leere hinterlassen, dass ich – wann immer ich
       versuche, sie zu füllen – feststelle, dass sie keinen Boden hat, sondern
       sich immer weiter ausdehnt.
       
       Ich bin nicht hier, um mit dir über den immer noch andauernden Krieg zu
       sprechen. Jeden Tag kommen mehr Freunde zu dir. Ich warte immer noch
       darauf, dass ich an der Reihe bin. Ich erinnere mich an das letzte Mal, als
       wir zwischen den Verkäufern auf dem Markt unseres Flüchtlingslagers Al
       Nuseirat spazieren gingen. Es gab die grundlegendsten Dinge nicht mehr zu
       kaufen. Wir kamen verzweifelt zurück. Du hattest für deine kleinen Brüder
       nichts zu essen bekommen und ich nichts für meine kleine Tochter. Es sah so
       aus, als würde sie noch weitere Nächte weinen müssen.
       
       ## Wohin gehen die Stimmen dieser Welt, wenn sie gehen?
       
       „Siehst du den Rettich- und Brunnenkresseverkäufer?“, habe ich dich damals
       gefragt. Und dir erzählt, dass der Brunnenkresseverkäufer seine Waren an
       genau dem Ort anbietet, an dem mein Cousin in der Woche zuvor getötet
       wurde. Er steht an dem Ort, von dem eine reine Seele fortgegangen ist. Er
       wollte nur seinen Hunger und den seiner Kinder stillen. „Was meinst du?“,
       hast du mich gefragt. Und ich habe geantwortet: „Das Leben wird
       weitergehen, und diese schwierige Zeit wird unweigerlich vorübergehen. All
       dieser Wahnsinn wird uns nicht daran hindern, weiterzumachen.“
       
       Ich bin nicht gekommen, um dir irgendetwas von alldem zu sagen, mein
       Freund, du weißt das alles. Nein, ich bin gekommen, um deine ewige Frage zu
       beantworten: Wohin gehen die Stimmen dieser Welt, wenn sie gehen?
       
       Seit deiner Abreise habe ich deine Stimme überall deutlich gehört, mein
       Freund. Also sorge dich nicht: Die Stimmen wissen, wie sie von ihren
       Wanderungen im Raum zur rechten Zeit zu ihren Liebsten zurückkehren. Sie
       rufen und beweisen so, dass sie noch dort sind.
       
       Ruhe dort in deinem hohen Paradies und lass mich hier auf der Erde deine
       Stimme auffangen – wann immer ich an einem Ort vorbeikomme, der uns früher
       zusammengeführt hat, denn Stimmen bleiben an Orte und Straßen gebunden.
       Wenn mich die Sehnsucht überwältigt, gehe ich an einen unserer Orte und
       lausche unseren Gesprächen. Und ich kehre nach Hause zurück, als wäre ich
       dir begegnet, als hätte ich mit dir gesprochen und dich gehört … Schlafe in
       Frieden, mein Freund, denn du bist überall.
       
       Muhammad Ghoneim ist Schriftsteller und Komponist aus Gaza. Für seine
       Kurzgeschichtensammlung „Beyond the Mirrors“ (Jenseits der Spiegel) wurde
       er mit dem First Book Award der A. M. Qattan Foundation ausgezeichnet. Er
       erhielt außerdem den Najati Sidqi Award. 
       
       Internationale Journalist*innen können seit rund einem Jahr nicht in
       den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im [1][„Gaza-Tagebuch“]
       holen wir Stimmen von vor Ort ein.
       
       1 Jan 2025
       
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