# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Durchhalten in einem Trümmerhaufen
       
       > In der ukrainischen Stadt Wowtschansk an der Front steht kein Haus mehr.
       > Für die ukrainischen Soldaten steht die Stadt für das, was ganz Europa
       > droht.
       
 (IMG) Bild: „Unsere Jungs sind nicht aus Stahl, aber sie haben standgehalten“: Der 23-jährige Soldat „Thor“ rechnet mit einem langen Krieg
       
       Wowtschansk taz | Eine Reise nach Wowtschansk ist etwas, über das man vor
       der Abfahrt mit niemandem sprechen würde. Höchstens dann, wenn man
       unversehrt zurückgekommen ist. Denn das heutige, reale Wowtschansk kann man
       nicht mehr als Realität wahrnehmen. Einfach, weil so etwas selbst in den
       krassesten Actionfilmen nicht vorkommt.
       
       Kommt man mit dem Auto an, schnappt man sofort sein komplettes Gepäck
       inklusive Lebensmittel und Kanister für Wasser und Benzin und rennt zum
       nächsten Keller. In Wowtschansk gibt es keine oberirdischen Gebäude mehr,
       in denen man Schutz suchen könnte.
       
       Wowtschansk liegt in Schutt und Asche. Das Neubaugebiet existiert nicht
       mehr, ebenso wenig gibt es noch den großen Supermarkt, das Gericht und die
       Aggregat-Fabrik. Von Kirchen und sämtlichen Verwaltungs- und Wohngebäuden
       sind nur noch Trümmerhaufen übrig.
       
       ## „Brauchen sie gerade diese Stadt? Wahrscheinlich nicht.“
       
       Wowtschansk liegt etwa 70 Kilometer nordöstlich von Charkiw, direkt an der
       Grenze zu Russland. Vor dem Krieg lebten hier etwa 19.000 Menschen. Der
       [1][russische Vormarsch] begann hier am 10. Mai 2024. Seitdem hat Russland
       Lenkbomben, Raketenwerfer, schwere Flammenwerfersysteme vom Typ Solncepek
       und sogar seine stärkste nichtnukleare Waffe, die ODAB-Vakuumbombe,
       eingesetzt. Darum ist jetzt von den Wowtschansker Wohngebieten praktisch
       nichts mehr übrig. Und so sieht auch die Zufahrtsstraße aus. Bevor man sie
       befährt, erstarren die Menschen im Auto und horchen, ob sich nicht etwa
       gerade wieder eine Drohne nähert.
       
       In den feuchten, dämmrigen und niedrigen Kellern wird über schwere
       Verwundungen geredet. Oder darüber, was die russischen Streitkräfte
       wirklich wollen. „Sie begannen zunächst, Wowtschansk mit Lenkbomben zu
       beschießen. Das war nach Awdijiwka, als sie unsere Verteidigung mit
       Lenkbomben durchbrachen. Und jetzt haben sie beschlossen, auf diese Weise
       auch Wowtschansk zu erobern. Unsere Jungs sind nicht aus Stahl, aber sie
       haben dem standgehalten“, sagt „Thor“, ein 23-jähriger Pionier der
       Luftaufklärungseinheit der 57. Brigade, der seit Mai in und um Wowtschansk
       unterwegs ist.
       
       Der Soldat ist überzeugt davon, dass Wowtschansk an sich für die Russen
       keinen Wert besitzt, denn sonst würden sie die Stadt nicht in Schutt und
       Asche bomben. „Ihre Taktik ist dieselbe wie in Awdijiwka. Es geht darum,
       die Stadt bis auf die Grundmauern zu zerstören, damit unser Militär keinen
       Platz mehr hat, um sich zu verstecken oder sich zu verteidigen. Brauchen
       sie gerade diese Stadt? Wahrscheinlich nicht. Sie brauchen nur das Gebiet,
       das heißt ein Zeichen dafür, dass sie dieses Gebiet durchquert haben, es
       also besetzt haben. Dann ziehen sie einfach weiter. Die Stadt an sich hat
       keinen Wert für sie“, sagt „Thor“.
       
       Im Schutzkeller meinen die Menschen, dass die Offensive auf ihre Stadt
       höchstwahrscheinlich nicht, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj zunächst
       befürchtete, mit einer geplanten russischen Offensive auf Charkiw
       zusammenhing. Denn nach Wowtschansk stünden die russischen Streitkräfte
       weiter westlich vor einem viel größeren Hindernis – dem riesigen
       Petschenihy-Stausee. Man geht davon aus, dass der Feind
       höchstwahrscheinlich in Richtung Kupjansk vorrücken wollte.
       
       ## Die gegnerischen Soldaten in ein und demselben Gebäude
       
       Russland hatte im Frühjahr 2024 offenbar zwar geplant, nach Charkiw
       vorzustoßen. Doch einen ersten Angriff auf den Ort Lypzi konnten die
       ukrainischen Verteidigungskräfte stoppen.
       
       Die russischen Pläne wurden durch zwei Faktoren vereitelt: die extreme
       Standhaftigkeit und Ausdauer der ukrainischen Soldaten sowie die
       ukrainische Gegenoffensive in das russische Gebiet Kursk im August. Damit
       verhinderte die Ukraine einen russischen Angriff auf Sumy, der parallel zu
       den anderen Vorstößen zur Bildung einer „großen Zange“ um Charkiw herum
       hätte führen können.
       
       Die Front ist in Wowtschansk inzwischen fast stabil. Oft liegen zwischen
       den Stellungen der russischen und ukrainischen Streitkräfte nur wenige
       Meter. Manchmal befinden sich die gegnerischen Soldaten sogar in ein und
       demselben Gebäude, nur auf verschiedenen Etagen. Oder in
       nebeneinanderliegenden Kellern.
       
       In der näheren Umgebung gibt es noch einige Häuser, in denen Zivilisten
       leben, das Militär schätzt ihre Zahl auf etwa fünfzig. Sie ernähren sich
       von dem, was sie im Sommer in ihren Gärten angebaut haben.
       
       ## Nur in Kellern und Höhlen geht das Leben hier weiter
       
       „Thor“ berichtet über Fälle von Widerstand dieser Menschen gegen die
       russischen Besatzer. So habe er von einer Drohne aus beobachtet, wie eine
       Einheimische im Dorf Tyche in der Nähe von Wowtschansk die Habseligkeiten
       russischer Besatzer, die bei ihr einziehen wollten, aus ihrem Haus auf die
       Straße warf.
       
       „Adam“, ein ebenfalls 23-jähriger Kommandant der 57. Brigade, erinnert sich
       daran, wie ein älterer Mann mit einer weißen Tasche allein und zu Fuß aus
       dem besetzten nördlichen Teil von Wowtschansk auf die ukrainische Seite
       ging, trotz heftigen Beschusses und Gefahr. Es gelang ihm, völlig
       unversehrt zu passieren. Und im Sommer statteten zwei Teenager im Alter von
       15 bis 18 Jahren ihrer Heimatstadt Wowtschansk während der Ferien furchtlos
       einen Besuch ab.
       
       Keller und Höhlen sind die einzigen Orte in Wowtschansk, an denen das Leben
       noch weitergeht. Im Keller wird gescherzt, obwohl immer viel Traurigkeit
       dabei ist. „Wenn ein gesunder Mensch erzählen würde, was hier los ist, ich
       glaube, das würde nicht jeder aushalten. Wir reden lachend darüber, dass
       jemand getötet wurde. Man gewöhnt sich an alles. Du kommst nach Hause und
       es ist nicht mehr dasselbe wie früher für dich, auch wenn es noch genauso
       aussieht“, gibt Adam zu.
       
       Die Männer der 57. Brigade leben die ganze Zeit unter der Erde, im
       Halbdunkel, vor Bildschirmen. Oft wissen sie nicht, ob draußen Tag oder
       Nacht ist. Das Luftaufklärungsteam kommt nur nach oben, um die Drohne
       aufzuladen oder die Batterie zu wechseln. Die Tage vergehen mit
       Feindsichtung, Feindzerstörung und Austausch von Informationen.
       Glücklicherweise wurden in Wowtschansk noch keine Nordkoreaner oder Syrer
       gesichtet.
       
       ## Die Angst vor dem dritten Weltkrieg
       
       Es scheint nicht logisch, aber diejenigen, die die brutalsten Schlachten in
       Bachmut und Wowtschansk erlebt haben, haben Angst vor dem dritten
       Weltkrieg. „Für unsere Verwandten wird sich alles ändern. Der Krieg kommt
       schon jetzt in jede Stadt, die Menschen leiden. Aber es wird sich mehr und
       mehr [2][ausweiten]. Ihr seid hier, in den Stellungen, damit eure Liebsten
       in Frieden leben können“, sagt Kommandant „Adam“ zu seinen Soldaten.
       
       Aber er lacht sofort: „Wir sind von Lenkbomben und Phosphor getroffen
       worden. Wir sind noch nicht von Atomwaffen getroffen worden, darüber kann
       ich also noch nichts erzählen.“
       
       In Wowtschansk haben die russischen Streitkräfte Tausende Soldaten
       verloren, ohne ein klares Ergebnis zu erzielen. Die Russen haben keine
       „Schmerzgrenze“, davon ist der Luftaufklärungstrupp der 57. Brigade
       überzeugt. Auch auf zivile Russen zu hoffen, ist zwecklos. „Es wird sie
       absolut nicht erreichen. Denn sie sind Lebewesen, die einen Zaren brauchen.
       Sie sind es gewohnt, ihr ganzes Leben lang gebückt zu leben, wie Sklaven“,
       sagt „Thor“.
       
       Er traut den Russen nicht, [3][auch nicht denen, die das Land verlassen
       haben.] Nach Ansicht des Kämpfers sind die einzigen Patrioten Russlands
       diejenigen, die im russischen Freiwilligenkorps auf der Seite der Ukraine
       kämpfen.
       
       ## Die Kämpfer sind erschöpft
       
       „Für jeden Soldaten ist jeder weitere Tag, jeder Monat, gar nicht zu reden
       vom nächsten Jahr schwierig, [4][denn die Kämpfer sind einfach erschöpft]“,
       sagt „Thor“. Er ist davon überzeugt, dass – entgegen aller Gerüchte – die
       aktive Kriegsphase noch mindestens ein Jahr dauern wird. „Adam“ glaubt
       sogar, dass die Menschen auf einen noch 15 Jahre dauernden Krieg
       vorbereitet sein sollten.
       
       Beim Abschied sagt „Adam“: „Das ist unser Land. Wir sind hier aufgewachsen,
       wir leben hier. Es gehört uns. Also müssen wir daran festhalten und das
       werden wir auch. Und alles wird gut werden. Wir alle werden das Land
       halten.“
       
       Aus dem Russischen: [5][Gaby Coldewey]
       
       12 Jan 2025
       
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