# taz.de -- taz-adventskalender „24 stunden“ (16): 16 Uhr am Kottbusser Tor
       
       > Der Kotti gilt als klein Istanbul. Hier kommt alles zusammen: Tauben,
       > Moscheen, Izmir Köfte, Junkies und Liebe für alle.
       
 (IMG) Bild: Das Kottbusser Tor, auch bekannt als Klein Istanbul
       
       Stressig und chillig, hässlich und schön, herzerwärmend und abstoßend:
       Berlin hat viele Seiten, rund um die Uhr. In diesem Advent hangeln wir uns
       durch 24 Stunden Hauptstadtleben und verstecken jeden Tag aufs Neue 60
       Minuten Berlin hinter unserem [1][taz-berlin-Kalendertürchen]. Heute: ab 16
       Uhr am Kottbusser Tor in Kreuzberg. 
       
       Das Kottbusser Tor, oft als Zentrum von Kreuzberg bezeichnet, ist ein
       Mikrokosmos: chaotisch, lebendig, manchmal widersprüchlich, aber immer
       voller Geschichten. Am späten Nachmittag unter der U-Bahn am Kreisel
       versammeln sich Tauben, als würden sie selbst die Szenerie beobachten. Die
       Mevlana-Moschee mit ihrer schlichten, nicht gerade eleganten Minarettspitze
       wacht im Hintergrund über das bunte Treiben, während die Menschen ihrer
       Routine nachgehen.
       
       Neben dem legendären Café Kotti [2][befindet sich im ersten Stock des Neuen
       Kreuzberger Zentrums über der Adalbertstraße seit 2023 eine Polizeiwache].
       Die Anwesenheit der Polizei scheint für das Café kein Problem zu sein; im
       Gegenteil, es wirkt fast, als hätte sich hier eine entspannte Nachbarschaft
       entwickelt. Eine Dame erzählt, sie fühle sich sogar sicherer – auch wenn
       sie vorher ebenfalls keinen Grund gehabt habe, Angst zu haben.
       
       Auf dem Markt unten am Platz immerhin gibt es Beständigkeit: Der Obststand
       hält seit Jahren an den gleichen Preisen fest. Der „Saftladen“, der
       eigentlich nur eine kleine Kabine ist, hat dagegen seine Preise angezogen
       hat – ein kleines Aufreger-Thema im Viertel. Doch der Ingwer-Orangensaft
       ist zu dieser Jahreszeit wahrlich eine Vitaminbombe, sagt eine Frau zu
       einer anderen.
       
       Die beiden Frauen unterhalten sich auf Türkisch über den neuen
       Streetfood-Laden, der inzwischen schon nicht mehr so neu ist. Pilav Tavuk,
       Reis mit Hühnchen, wird dort serviert. Doch eine der Frauen schwört
       weiterhin auf den Köfteladen in der Reichenberger Straße. „Nichts kann
       Izmir Köfte toppen“, sagt sie mit Nachdruck. Das Gespräch endet schließlich
       mit einem: „Ach, ich koche am liebsten selbst, da weiß ich wenigstens, was
       drin ist und es ist auch noch günstiger.“ Die beiden sind sich einig.
       
       ## Auch Polizist:innen essen Köfte
       
       Kreuzberg wäre nicht Kreuzberg ohne seine skurrilen Begegnungen. Eine
       offensichtlich verwirrte Frau nähert sich und will mich umarmen. „Liebe für
       alle“, ruft sie mir entgegen. Mit einem entschlossenen „Viel Erfolg“
       entkomme ich ihr gerade noch. Dann rüttelt sie mir mit einem weißen
       Pappbecher unter der Nase, die Münzen, die sie bereits eingesammelt hat,
       klimpern. Wenn schon keine Umarmung, dann wenigstens Geld. Ich finde 50
       Cent in meiner Jackentasche und mache mich auf den Weg in den besagten
       Köfteladen.
       
       Dort angekommen, prangert der Verkäufer die [3][Dealer an, die auf der
       gegenüberliegenden Straßenseite ihr Geschäft betreiben]. Die seien laut und
       meistens würden sie die Kund:innen vertreiben. Vielleicht sind es auch
       Junkies, er kennt den Unterschied nicht so richtig. Und die Polizei? „Die
       machen nur Chaos“, klagt der Verkäufer, während er zwischen Aufträgen hin
       und her eilt. In seiner Rage vergisst er meinen Ayran, doch immerhin,
       erzählt er, kaufen die Polizisten auch ab und zu Köfte bei ihm.
       
       Am Nebentisch diskutiert ein Pärchen auf deutsch-türkisch darüber, ob sie
       einen Weihnachtsbaum kaufen sollen. Die Frau sorgt sich darum, wie ihre
       Eltern das finden werden. „Vielleicht nennen wir ihn einfach Neujahrsbaum“,
       schlägt sie vor. Geschenke will sie trotzdem viele – und am liebsten auch
       Tiere. Eine Katze vielleicht oder auch einen Hund: „Aşkım, das wäre so süß,
       oder?“, fragt sie ihn rhetorisch. Ihr Partner schaut sie an und fragt
       trocken: „Elif, willst du auch noch einen Esel? Lass uns gleich einen
       Bauernhof kaufen.“ Er mache sich eher Sorgen darüber, wie sie weiterhin die
       gemeinsame Wohnung bezahlen sollen und die Hochzeit stehe ja auch noch an.
       Alles sei so teuer geworden, klagt er.
       
       ## Kotti alias Klein Istanbul
       
       Langsam wird es dunkel, und die Atmosphäre am Kottbusser Tor ändert sich
       spürbar. Die Straßen füllen sich mit anderen Menschen. Steigende Mieten,
       neue Läden und ein anderes Publikum haben in den letzten Jahren das Bild am
       Kottbusser Tor unübersehbar verändert. Doch das Viertel, einst ein
       zentraler Anlaufpunkt für viele Künstler:innen und Gastarbeiterfamilien
       insbesondere aus der Türkei, erzählt bis heute von seiner
       Einwanderungsgeschichte.
       
       Die Moschee, die türkischen Schilder, die Gerüche von Gewürzen und frisch
       gebratenem Fleisch – all das spricht von den Wurzeln, die hier geschlagen
       wurden. [4][Nicht umsonst wird dieser Teil Kreuzbergs Klein Istanbul
       genannt.] Wenn die Straßenlaternen die Szene in warmes Licht tauchen, wird
       das Kottbusser Tor zu einem Ort, an dem sich die Geschichten der
       Vergangenheit und Gegenwart überlagern – ein Kaleidoskop der Vielfalt, das
       Kreuzberg so einzigartig macht.
       
       16 Dec 2024
       
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