# taz.de -- Roman über Studentenbewegung Italiens: Das Geplätscher aus seinem Mund
       
       > Enrico Palandris Debütroman „Lichter auf der Piazza Maggiore“ gibt sich
       > als neurotische Liebesgeschichte. Dabei erzählt er von der
       > Studentenbewegung.
       
 (IMG) Bild: Rom, 16. März 1977: Proteste nach dem Tod eines Studenten in Bologna
       
       Man soll ja nicht groß über unglückliche Titel bei Übersetzungen klagen.
       Zum einen hilft es nichts, zum anderen ist es wenig originell, das zu tun.
       Doch in diesem Fall hätte der deutsche Buchtitel dieses Romans fast
       verhindert, dass er, nachdem er schon mehr als ein halbes Jahr kaum
       beachtet in einem Bücherstapel zugebracht hatte, überhaupt gelesen wurde.
       Was bedauerlich gewesen wäre.
       
       Der Debütroman des italienischen Schriftstellers Enrico Palandri
       jedenfalls ist durch die auf seinem Cover prangenden Wörter „Lichter auf
       der Piazza Maggiore“ zwar arg unterverkauft, ansonsten aber nicht bloß in
       elegantem Tempo übersetzt, sondern zudem eine späte Entdeckung. In Italien
       erschien das Buch seinerzeit immerhin vor 45 Jahren, jetzt wurde es zum
       ersten Mal von Esther Hansen ins Deutsche übertragen.
       
       Der Ich-Erzähler heißt wie der Autor Enrico, kommt wie dieser aus Venedig
       und studiert wie dieser in [1][Bologna]. Man schreibt das Jahr 1977, und in
       der Stadt ist viel los. Die spontane politische Bewegung Movimiento del
       Settantasette (Bewegung von 77) ist in eine blutige Phase eingetreten,
       durch Polizeigewalt sterben auf den Straßen Bolognas sogar einige
       Protestierende.
       
       Enrico Palandri hat diese Zeit direkt miterlebt, er wirkte unter anderem
       mit an einem Buch über den autonomen Sender Radio Alice, „Fatti nostri“.
       Die Arbeit am Buch erwähnt der Erzähler-Enrico mehrfach, spricht von
       anderen Beteiligten wie Carlo und Claudio. Gemeint sein dürften [2][der
       Physiker und Autor Carlo Rovelli] und der Schriftsteller und Drehbuchautor
       Claudio Piersanti.
       
       Diese Personen und einige der Ereignisse kommen bei Palandri vor, doch bloß
       als Randnotiz. Der Erzähler-Enrico kreist vor allem um seine eigenen
       Gedanken, und deren Hauptgegenstand ist Anna. Zunächst von fern bewundert,
       etwa auf der Piazza Maggiore der Stadt, über die Enrico abends und nachts
       schlendert, dann nach scheuer Annäherung mit ihr befreundet, werden die
       beiden bald darauf ein Paar. Oder so etwas Ähnliches.
       
       ## In atemlosem Parlando
       
       Diese und andere Erlebnisse lässt dieser Enrico in seinem atemlosen
       Parlando Revue passieren. Denn im Buch gibt es mindestens zwei Zeitebenen:
       die der Handlung der Erzählung im Jahr 1977 und die der Niederschrift zwei
       Jahre später. Der Erzähler kommentiert die Entstehung dieser Autofiktion
       gelegentlich, erwähnt die Freunde, denen er das Manuskript vorgelegt und
       deren Anmerkungen er eingearbeitet habe.
       
       „Boccalone. Storia vera piena di bugie“ nennt sich das Buch im Original,
       wörtlich: „Quasselstrippe. Eine wahre Geschichte voller Lügen“. Was zum
       literarischen Verwirrspiel, das Palandri, sehr wohldosiert, mit seinen
       Lesern treibt, viel besser passt als die eher romantisch anmutenden
       Lichter, aber genug davon. Erfreulich ist, dass der Roman endlich auf
       Deutsch vorliegt, und sehr erfreulich ist, dass Esther Hansen ihn mit einem
       Nachwort versehen hat, in dem sie die „Geschichte hinter der Geschichte“
       aufschlüsselt. Ohne die blieben viele Andeutungen unverständlich, die
       politische Dimension allenfalls zu erahnen.
       
       Eine weitere Dimension schließlich ist der Gesundheitszustand des
       Erzählers. Dieser streut bei Gelegenheit Begriffe wie „Paranoia“ ein und
       bekennt gegen Ende des Buchs, wenn man in dieser „Lügengeschichte“
       überhaupt von Bekennen sprechen kann: „Ich habe nur über mich selbst
       geschrieben (auch wenn ich die Differenz zwischen mir und den anderen, die
       Identität, nicht recht erkennen kann und will)“. Mag es sich in Teilen um
       eine Wahnwelt handeln, in die man sich mit diesem Buch begibt: Gegen den
       Strudel, den der Erzähler-Enrico erzeugt, gegen sein Gequassel, das
       „Geplätscher“ aus seinem Mund, ist Widerstand ziemlich zwecklos.
       
       16 Dec 2024
       
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