# taz.de -- Syriens Nachbarländer nach Assads Sturz: Sorge, Gebete und Fehleinschätzungen
       
       > Jordanien schließt seine Grenze, Israel ist überrascht und Erdoğan darf
       > träumen. Wie der Sieg der HTS-Miliz in den Nachbarländern aufgenommen
       > wird.
       
 (IMG) Bild: Frauen fotografieren ein zerstörtes Foto von Bashar al-Assad
       
       Jubel und Sorge in Jordanien
       
       Amman taz | In der Hauptstadt Jordaniens, Syriens Nachbarland, herrschte in
       den vergangenen Tagen Sorge. Am Freitagnachmittag, nachdem bewaffnete
       syrische Rebellen die Kontrolle über den Grenzposten Nasib im Süden
       übernommen hatten, schloss Jordanien seine Seite der Grenze. Dieser war der
       einzige noch offene Grenzübergang zu Syrien. Nur jordanische
       Bürger*innen und Lastkraftwagen durften die Grenze noch passieren.
       
       Jordaniens Innenminister Mazen al-Faraya nannte Sicherheitsbedenken als
       Grund. Die Angst war offenbar groß, dass Instabilität oder gar Gewalt auf
       die andere Seite der Grenze überquelle. Videos zeigten Reihen von
       gepanzerten und bewaffneten Fahrzeugen, die sich in Richtung nördlicher
       Grenze bewegten. Darauf waren Soldaten in der jordanischen roten Kufiyah zu
       sehen. „Jordanien schloss die Grenze aus Angst vor Chaos und Instabilität,
       was verständlich ist, bis es klar ist, wer die Macht in Syrien übernimmt“,
       erklärt der jordanische Journalist Mohammed al-Ersan auf Nachfrage der taz.
       „Allerdings kennt Jordanien diese Fraktionen gut, aus der grenznahen Stadt
       Dara’a.“
       
       Der jordanische König Abdullah II. hatte zuvor bei einem Nato-Treffen in
       Brüssel für die „Souveränität und territoriale Integrität Syriens“
       plädiert. „Jordanien will jedes Risiko von Chaos an der Grenze vermeiden“,
       sagt Amer al-Sabaileh, Experte für Geopolitik. „Die Beziehungen zu Assad
       waren nicht gut, aber auch nicht komplett zerrissen.“ Es gab
       Annäherungsversuche für eventuelle Sicherheitskooperationen. Nun herrsche
       Sorge darüber, welche Gruppen im Süden die Macht übernehmen und wie sie
       sich zu Jordanien positionieren. Daher wird die Lage derzeit vorsichtig
       beobachtet. Zwei Szenarien gebe es für die Zukunft, sagt Journalist
       al-Ersan: einerseits Potenzial für Instabilität an der Grenze und eine
       Zunahme an extremistischen Gruppen, was „nicht unmöglich, aber auch nicht
       wahrscheinlich“ sei.
       
       Andererseits eine Koordination mit Jordanien, um den [1][Drogenschmuggel]
       zu stoppen, der mutmaßlich durch Iran-unterstützte Milizen und Mitglieder
       des Regimes Assads betrieben wurde. Und die Möglichkeit einer sicheren
       Rückkehr [2][der über 600.000 syrischen Geflüchteten] in die Heimat. Diese
       waren in den vergangenen Jahren immer wieder Streitpunkte zwischen Assad
       und Amman gewesen.
       
       Am Samstag haben etwa Mitglieder der Freien Syrischen Armee die jahrelange
       Belagerung durch die syrische Armee des abgelegenen Flüchtlingslagers
       Rukban an der jordanischen Grenze in Syrien gebrochen. Unter den
       Geflüchteten selbst herrscht jedoch immer noch eine gewisse Angst oder eher
       Misstrauen, sich öffentlich dazu zu äußern. Ein junger Mann, der anonym
       bleiben möchte, zeigt sich jedoch optimistisch. „Ich sehe Syriens Zukunft
       glänzend an, weil das Assad-Regime kollabiert ist und die Menschen in
       Syrien jetzt selbst eine demokratische Gesellschaft regieren können.“
       Sollte ein friedlicher Regierungswechsel stattfinden, möchte er gern zurück
       in die Heimat.
       
       Die Sorge bleibe aber, dass Assads Regime von einer radikalen Regierung
       ersetzt wird, so al-Bakfani. „Die Zukunft Syriens wird von zwei Elementen
       abhängen: der Sensibilisierung der syrischen Bevölkerung und den Abkommen
       mit der internationalen Gemeinschaft.“ Man brauche eine „Übergangsjustiz“
       und ein föderales System, um Racheakte zu vermeiden. Glücklich zeigt sich
       eine syrische Geflüchtete aus der nördlichen Stadt Irbid: „Das Gefühl ist
       unbeschreiblich. Heute können Syrer*innen den Geschmack der Freiheit
       kosten, nach 14 Jahren Krieg, Tod, Zerstörung und Folter. Ein freies
       Syrien!“, schreibt sie begeistert in einer Nachricht. Und fügt hinzu:
       „Hoffentlich werden wir zurückkehren.“
       
       Erdoğan ist nun seinem Traum nahe
       
       Istanbul taz | Samstagabend in der Fatih-Moschee in der Altstadt Istanbuls.
       Tausende drängen sich in die Moschee, versammeln sich auf dem großen Platz
       vor dem Gebetshaus. Hier, am traditionellen Versammlungsplatz der
       Islamisten, feiern am Samstagabend türkische und syrische Islamisten
       gemeinsam den bevorstehenden [3][Sieg über das Regime von Baschar
       al-Assad]. Noch steht die Flucht von Assad am Sonntagmorgen bevor, doch die
       Stimmung in der Fatih-Moschee ist schon völlig siegesgewiss. Bereits am
       Vortag hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einer Veranstaltung seiner
       AKP in Gaziantep, der größten türkischen Stadt in der Nähe der syrischen
       Grenze, in der bis zu 500.000 syrische Flüchtlinge leben, verkündet, der
       Vormarsch der HTS-Kämpfer und ihrer Verbündeten werden ohne große Kämpfe
       bis Damaskus weitergehen. Hatte Erdoğan in den Tagen zuvor noch an Baschar
       al-Assad appelliert, er müsse politisch auf die Opposition zugehen, war
       innerhalb der türkischen Regierung offenbar Freitag bereits klar, dass die
       Armee des syrischen Diktators keinen ernsthaften Widerstand mehr leisten
       würde.
       
       Erdoğan, der die islamistische HTS in Idlib jahrelang unterstützt hat, ist
       nun seinem Traum nahe, den er bereits bei Ausbruch des syrischen
       Bürgerkriegs 2011 geäußert hatte: in der Umayyaden-Moschee in Damaskus
       beten. Wohl noch wichtiger für Erdoğan und seine AKP- Regierung aber sind
       zwei andere mögliche Entwicklungen, die sich aus dem Zusammenbruch des
       Assad-Regimes ergeben können: erstens die Rückführung einer großen Zahl
       syrischer Flüchtlinge, von denen derzeit über 3 Millionen in der Türkei
       leben; und zweitens die syrischen Kurden hinter den Euphrat nach Osten
       zurückzudrängen.
       
       Unmittelbar nach der Eroberung Aleppos durch die HTS herrschte unter den
       Kurden in Aleppo nackte Panik. Aus Angst vor den Islamisten flüchteten
       zehntausende in Richtung kurdisches Autonomiegebiet nach Osten; aus Aleppo,
       aber auch aus Tal Rifat im Norden von Aleppo, das nach der Eroberung von
       Afrin durch türkische und protürkische syrische Milizen im Januar 2018 noch
       von kurdischen Kräften gehalten wurde.
       
       Mittlerweile hat es zwar erste Kontakte zwischen der Führung der Kurden und
       dem HTS gegeben, bei denen man sich versicherte, gegenseitig nicht
       anzugreifen, doch die „Syrische Nationale Armee“, die Erdoğan praktisch
       direkt unterstellten Milizen, halten sich nicht daran. Im Auftrag Ankaras
       greifen sie die kurdisch-syrischen YPG-Milizen weiterhin mit dem Ziel an,
       Manbidsch zu erobern, die größte Provinzhauptstadt westlich des Euphrats,
       die von den syrischen Kurden kontrolliert wird.
       
       Die Kämpfer der „Syrischen Nationalen Armee“ hätten bereits 80 Prozent von
       Manbidsch unter ihre Kontrolle gebracht, melden die türkischen
       Nachrichtensender CNN-Türk und NTV am Sonntagnachmittag. Stattdessen haben
       ganz im Süden des kurdischen Autonomiegebietes die YPG-Milizen die zuvor
       noch von Assad-Truppen kontrollierte Großstadt Deir al-Sor am unteren
       Euphrat, fast an der Grenze zum Irak, erobert. Noch ist nicht absehbar, wie
       weit Erdoğan seine Proxis schicken wird und wie die Grenzen der kurdischen
       Region am Ende aussehen werden. Zwar gab es am Sonntag auch Bilder von
       Freudenfeiern aus den syrischen kurdischen Gebieten, doch ob die ersten
       Absprachen zwischen der HTS und den Kurden sich tatsächlich bis zu einer
       Einigung auf jeweilige territoriale Einflusszonen entwickeln werden, ist
       noch völlig offen.
       
       Neben den Kämpfen mit den Kurden schaut man in der Türkei nun vor allem
       nach Aleppo. Ein großer Teil der syrischen Flüchtlinge in der Türkei
       stammen von dort, der zweitgrößten Stadt Syriens. Hier wird sich als Erstes
       zeigen, was die Ankündigungen der HTS, sie wolle für Ruhe, Ordnung und
       Sicherheit für alle ethnischen und religiösen Gruppen Syriens sorgen,
       wirklich wert sind. Erdoğan wird sie dabei in Aleppo jedenfalls nach
       Kräften unterstützen, weil damit die größte Chance entstehen würde, dass
       tatsächlich viele Flüchtlinge freiwillig zurückgehen.
       
       Israel hat sich verschätzt
       
       Jerusalem taz | Israels Geheimdienste haben die syrischen Rebellenmilizen
       laut Medienberichten unterschätzt. Der [4][schnelle Zusammenbruch des
       syrischen Militärs] habe „alle überrascht“, berichtete die Zeitung Ha’aretz
       am Sonntag unter Berufung auf Armeekreise. Eine kürzlich intern ausgegebene
       Lagebewertung hatte der syrischen Armee laut der Zeitung noch ein
       Wiedererstarken attestiert. Eine deutliche Fehleinschätzung.
       
       Umso entschiedener reagierte die israelische Führung und entsandte in der
       Nacht auf Sonntag Truppen in eine seit 1974 demilitarisierte Pufferzone
       entlang der von Israel besetzten Golanhöhen. Der seit 50 Jahren geltende
       Waffenstillstand sei „zusammengebrochen“, nachdem die syrischen Soldaten
       ihre Positionen verlassen hätten, sagte Ministerpräsident Benjamin
       Netanjahu bei einem Besuch an der Grenze.
       
       Israel hat einen Großteil der Golanhöhen im Sechstagekrieg 1967 besetzt und
       1981 völkerrechtswidrig annektiert. Der östliche Teil des Höhenzugs ist
       unter syrischer Kontrolle. Bewaffnete in Gemeinden auf der syrischen Seite
       hatten sich in den vergangenen Tagen dem Aufstand angeschlossen.
       
       Die Armee teilte mit, dass sie die Pufferzone sowie Israel und seine Bürger
       schützen werde. Man wolle sich jedoch nicht in „interne Ereignisse in
       Syrien“ einmischen. Viele in Israel fürchten, dass Kriegswaffen des
       syrischen Regimes in die Hände der Milizen gelangen könnten.
       
       Netanjahu nannte Assads Sturz einen „historischen Tag“. Sein Land sei an
       „guter Nachbarschaft“ mit Syrien interessiert, werde aber gegen
       Bedrohungen an der Grenze vorgehen. Die israelische Luftwaffe griff am
       Sonntag laut einem Bericht des TV-Senders Kanal 12 eine Chemiewaffenfabrik
       auf syrischem Gebiet an.
       
       Israelische Politiker forderten noch weitergehende Maßnahmen: Amichai
       Chikli, Diasporaminister für die Regierungspartei Likud, verlangte am
       Sonntag, die israelische Armee müsse eine „neue Verteidigungslinie
       basierend auf der Waffenstillstandslinie von 1974“ einrichten. Der
       religiös-nationalistische Abgeordnete Zvi Sukkot schlug die Besetzung eines
       Sicherheitsstreifens auf syrischer Seite vor.
       
       Der unter anderem durch Israels militärische Erfolge gegen die libanesische
       Hisbollah-Miliz ermöglichte Sieg der Rebellen hinterlässt ein Machtvakuum.
       Die syrischen Milizen haben sich für einen geordneten Übergang
       ausgesprochen.
       
       Abu Muhammad al-Jolani, der Anführer der islamistischen Miliz Hajat Tahrir
       al-Scham (HTS), hat trotz seiner islamistischen Vergangenheit seit 2016
       moderate Töne angeschlagen. Regierungschef Netanjahu sagte, man biete all
       jenen die Hand, die an Frieden mit Israel interessiert seien.
       
       8 Dec 2024
       
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