# taz.de -- Tag der Staatlichkeit in Bosnien: Gedämpfte Feierlaune
       
       > 1943 legten die sozialistischen Partisanen die Grenzen der damaligen
       > sechs Republiken Jugoslawiens fest. Die Erinnerung daran wird heute aber
       > getrübt.
       
 (IMG) Bild: Die bosnische Flagge wird auf dem Berg Hum in Sarajevo im Rahmen der Veranstaltungen zum „Tag der Staatlichkeit“ gehisst
       
       Sarajevo taz | Sehen wir im heutigen Bosnien und Herzegowina schon in die
       Zukunft der Ukraine? Ist die weitergehende Zerstückelung des Staates
       Bosnien und Herzegowina die Blaupause für das, was der Ukraine droht?
       
       Diese Frage stellen sich einige der Antifaschisten und Bürger, die sich zu
       der nichtnationalistisch denkenden Mehrheit der Bevölkerung zählen und sich
       an diesem Montag, dem 25. November, zu Tausenden unter den Bildern des
       damaligen Partisanenführers Tito und den bosnischen Fahnen in der alten
       Königsstadt Jajce eingefunden haben. Sie wollen des Tages der Neugründung
       des Staates Bosnien und Herzegowina 1943 gedenken.
       
       Der US-amerikanische Botschafter Michael J. Murphy betonte die Bedeutung
       dieses Datums für die bosnische Geschichte. Der Demokrat, der vermutlich
       bald seinen Posten räumen muss, gehörte in letzter Zeit zu den wichtigsten
       Stützen der multinationalen Identität des Landes.
       
       Alle Redner erinnerten an die Verfassung von damals (Zavnobih). In ihr wird
       die Gleichberechtigung aller Bürger des Landes, ob nun Serben, Kroaten,
       Muslime (Bosniaken), Roma, Juden und andere Minderheiten festgeschrieben.
       Es war eine moderne Verfassung, die der multinationalen und multireligiösen
       Republik Bosnien-Herzegowina eine Struktur gegeben hatte.
       
       ## Angreifer werden belohnt
       
       Erinnert wird jedoch auch daran, dass der am 21. November 1995
       abgeschlossene Friedensvertrag von Dayton zwar den Krieg 1992-95 beendete,
       aber auch die territoriale Aufteilung des Landes akzeptierte und die Hälfte
       des Landes den damaligen Eroberern und militärisch stärkeren serbischen
       Angreifern überließ.
       
       Die demokratischen Mächte der Welt, vor allem die damaligen Führer der USA
       und der EU, stimmten einem Vertrag zu, der die Kriegsverbrechen der
       ethnischen Säuberungen akzeptierte und die mit Verbrechen belasteten
       Angreifer belohnte. Und das, obwohl die militärischen Kräfteverhältnisse
       noch ganz anders verteilt waren als heute in der Ukraine.
       
       Aber für die Mehrheit der Bosnier ist vor allem die eigene
       1943er-Verfassung wichtig. Sie will wieder normale, staatliche Verhältnisse
       und einen demokratischen Rechtsstaat. Die Nationalisten dagegen tun alles,
       um rechtsstaatliche Verhältnisse zu zerstören. Deshalb ruhten immer wieder
       Hoffnungen auf dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg
       (EGMR).
       
       Schon 2008/9 urteilten die Richter, die Verfassung des Landes entspreche
       nicht demokratischen Standards. Sie sagten zwar nicht explizit, die
       Dayton-Verfassung sei undemokratisch, aber das Urteil war auch eine
       Ohrfeige für die Institutionen der internationalen Gemeinschaft, die ja in
       Bosnien noch in den politischen Prozess eingreifen kann. Aber nichts
       geschah – bis heute nicht.
       
       ## Kollektive Rechte
       
       Auch jetzt steht wieder eine Entscheidung des EGMR an. Erneut werden
       individuelle Rechte der Bürger von Seiten der Nationalisten angegriffen. Da
       die bisherigen Urteile jeweils zu ihren Ungunsten ausgegangen waren,
       versuchen vor allem kroatische Nationalisten jetzt wieder die kollektiven
       Rechte von ethnisch definierten Volksgruppen zu betonen.
       
       Dies hieße in Berlin, Türken haben nur das Recht, Türken zu wählen oder von
       Türken gewählt zu werden, jede Volksgruppe wählt ihre Repräsentanten. So
       wird versucht, die Volksgruppen in Bosnien unter nationalistischen
       Vorzeichen voneinander zu trennen.
       
       Dieses Prinzip aber deckt sich nach den bisherigen sechs Urteilen des EGMR
       nicht mit europäischem Recht. Um sich dennoch durchzusetzen, versuchen
       jetzt kroatische Politiker alles, um diese Urteile zu kippen und lobbyieren
       in Brüssel und der EU. Kroatische Diplomaten versuchen bei jeder
       Gelegenheit zu betonen, die Kroaten in Bosnien seien eine von Muslimen
       unterdrückte Minderheit.
       
       Sogar der zur Unparteilichkeit verpflichtete Hohe Repräsentant Christian
       Schmidt ließ sich vor den Karren der kroatischen Nationalisten spannen und
       wollte in Straßburg vor dem Gericht eine Stellungnahme im Sinne der
       kroatischen Extremisten abgeben. Er musste aber wegen Protesten aus dem
       Europaparlament davon Abstand nehmen.
       
       Die Menschenrechtlerin Azra Zornić, die als Klägerin in ähnlicher Sache
       schon einmal einen Prozess in Straßburg gewonnen hatte, betonte, es gäbe
       Unregelmäßigkeiten im Vorfeld der jetzigen Entscheidung. So sei eine so
       fragwürdige Spende für das Gericht eingegangen, zusätzlich seien hoch
       bezahlte Rechtsanwälte aus den USA angeheuert worden.
       
       Die Intellektuellenorganisation Krug 99 und ihr Präsident Adil Kulenović
       stellen sich hinter den Antrag des Politikberaters Slaven Kovačević und
       hoffen trotzdem auf einen Erfolg. Kovačević hatte bereits 2023 gegen das
       Wahlrecht geklagt und Recht bekommen. Vertreter des Ministerrats hatten
       dagegen Einspruch erhoben. Eine Anhörung vor dem EGMR am 20. November hat
       noch kein Ergebnis erbracht.
       
       25 Nov 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Erich Rathfelder
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Bosnien und Herzegowina
 (DIR) Abkommen von Dayton
 (DIR) Nationalismus
 (DIR) Bosnien und Herzegowina
 (DIR) Bosnien und Herzegowina
 (DIR) Bosnien und Herzegowina
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Proteste in Bosnien und Herzegowina: Auf die Straße gegen Wahldiskriminierung und Christian Schmidt
       
       In Sarajevo demonstrierten am Donnerstag Abend Hunderte gegen den Hohen
       Repräsentanten. Der will ein EGMR-Urteil gegen Wahldiskriminierung
       anfechten.
       
 (DIR) Kommunalwahl in Bosnien und Herzegowina: Überraschungen sind möglich
       
       In Sarajevo und mehrheitlich muslimischen Gebieten könnte es spannend
       werden. Das Risiko von Wahlbetrug ist dank technischer Neuerungen
       minimiert.
       
 (DIR) Wahlgesetze in Bosnien und Herzegowina: Dodik in Bedrängnis
       
       Der Präsident der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, wollte mit einem
       eigenen Wahlgesetz Fakten schaffen. Jetzt stoppt ihn das
       Verfassungsgericht.