# taz.de -- Soziologe Heitmeyer über Autoritarismus: „Die AfD emotionalisiert Probleme“
       
       > Wilhelm Heitmeyer beschäftigt sich mit dem Reiz des Autoritären. Warum
       > ist die AfD für viele so attraktiv? Und wie lässt sich die Demokratie
       > schützen?
       
 (IMG) Bild: Autoritärer Nationalradikalismus: Kundgebung der AfD in Erfurt vor der Landtagswahl
       
       taz: Herr Heitmeyer, die extrem rechte AfD hat erstmals eine Landtagswahl
       gewonnen und besitzt nun in [1][zwei Länderparlamenten eine
       Sperrminorität]. Wie konnte das passieren?
       
       Wilhelm Heitmeyer: Die etablierten Parteien haben im Umgang der AfD einen
       Kardinalfehler begangen: Anstatt sich mit ihrer Attraktivität
       auseinanderzusetzen, hat man sich mit Abschreckungsformeln begnügt und
       versucht, sie über Begriffe wie Rechtspopulismus, Rechtsextremismus,
       Nazipartei und Faschismus zu stellen. Diese Abschreckungsstrategie ist
       gescheitert. Ich bin immer völlig entgeistert, wenn in jedem zweiten
       Artikel noch immer die verharmlosende Rede von Rechtspopulismus ist. Aber
       auch, wenn Klingbeil und Wüst mit „Nazi-Partei“ um die Ecke kommen. Das
       wird der Attraktivität und damit auch Gefährlichkeit der AfD nicht gerecht.
       Es fehlt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Neuen, was die AfD
       tatsächlich geschaffen hat. Deswegen definiere ich die AfD als Autoritären
       Nationalradikalismus. Erst dadurch lässt sich die Attraktivität und die
       massive Ausbreitung erklären.
       
       taz: Was ist da der Vorteil?
       
       Heitmeyer: In dieser Kennzeichnung stecken alle Kriterien, die attraktiv
       sind für viele Wähler und nicht zuletzt für die junge Generation – vor
       allem für junge Männer, die die männlichkeitsorientierte Partei in hohem
       Maße gewählt haben. Das Autoritäre zielt auf das Gesellschaftsmodell, das
       Nationalistische transportiert Überlegenheitsvorstellungen der deutschen
       Kultur und Geschichte. Das Radikale zeigt sich in der aggressiven
       Kommunikation mit Feindbildern, die an gesellschaftlich schon lange
       vorhandenen Einstellungsmuster der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit
       anknüpfen.
       
       taz: Bei den letzten fünf Landtagswahlen erzielte die AfD im jüngsten
       Wähler*innensegment um die 18 Prozent im Westen um die 30 Prozent im
       Osten. Warum ist die AfD derzeit besonders attraktiv für junge Menschen?
       
       Heitmeyer: Das autoritäre Gesellschaftsmodell beinhaltet zum Beispiel die
       Ausschaltung von kultureller und sexueller Vielfalt. Bei jungen Männern mit
       einem Habitus, der oftmals auf Stärke, Dominanz und Überlegenheit
       ausgerichtet ist, fällt das auf fruchtbaren Boden – insbesondere, wenn ihre
       eigene Lebenssituation von Unterlegenheitsgefühlen durchsetzt ist. Hier
       setzt die AfD mit Maximilian Krah an, der auf Tiktok herausposaunt: Echte
       Männer sind rechts, dann klappt das auch mit der Freundin.
       
       taz: Welche Rolle spielt die Sozialstruktur?
       
       Heitmeyer: In Ostdeutschland kommt die sozialgeografische Struktur der AfD
       massiv entgegen: Kleinstädte und kleine Gemeinden zeichnen sich durch
       soziokulturelle Homogenität und einen hohen Konformitätsdruck aus. Ebenso
       gibt es viele Wegzüge an vielen Stellen – gerade von jungen Frauen, die
       meist ja schulisch besser qualifiziert sind als junge Männer. Zahlreiche
       junge Männer bleiben zurück.
       
       taz: Inwiefern spielen DDR-Erfahrungen der Eltern und der lange Schatten
       der Baseballschlägerjahre eine Rolle? 
       
       Heitmeyer: Die intergenerationale Weitergabe rechter und autoritärer
       Positionen ist ebenfalls wichtig. Die Elterngeneration hat einiges hinter
       sich durch die Umbrüche von der DDR-Gesellschaft zur
       bundesrepublikanischen. In der DDR gab es mehr Sicherheit und weniger
       Freiheit. Heute gibt es mehr Freiheit und weniger Sicherheit. Letzteres
       beinhaltet mehr individuelle Anstrengungen und Risiken. Man hat damals
       nicht begriffen, wie die DDR-Gesellschaft mit ihren sozialen Netzen und
       Strukturen konstruiert war. Die Folgen waren leere Institutionen in den
       1990er Jahren. Damals konnte der Rechtsextremismus alter Prägung zahlreiche
       sozialräumliche Machtversuche durchführen – durchaus mit Erfolg, wie man
       in den Baseballschlägerjahren sehen konnte. Das hat Nachwirkungen in den
       Krisenjahrzehnten seit dem Jahr 2000 bis heute.
       
       taz: Wie groß ist denn die Rolle von Krisen?
       
       Heitmeyer: Krisen sind dadurch gekennzeichnet, dass politische und
       ökonomische Instrumente nicht sofort und kostenlos funktionieren und die
       Sicherheit spendenden Zustände vor den Krisen sind nicht wieder
       herstellbar. Das zeigte sich vor allem in der systemische Corona-Krise.
       Daraus entstehen für Teile der Bevölkerung dann Kontrollverluste. Durch die
       Krisenerfahrungen kann die AfD in einem Teil der Bevölkerung Ängste vor
       Kontrollverlusten instrumentalisieren. Hier setzt die AfD an und posaunt:
       Wir stellen die Kontrolle wieder her. Wenn auch noch historische
       Erfahrungen von Brüchen hinzukommen, sind solche Parolen besonders
       fruchtbar.
       
       taz: Haben die etablierten Parteien die ländlichen Räume vernachlässigt? 
       
       Heitmeyer: Ja, die Repräsentationslücken sind immer größer geworden. Die
       Bevölkerung in ländlichen und kleinstädtischen Räumen ist zu einem großen
       Teil gar nicht mehr wahrgenommen worden. Und wer nicht wahrgenommen wird,
       ist ein Nichts. Hier fruchtet dann eine weitere AfD-Parole: Wir machen euch
       wieder sichtbar.
       
       taz: In digitalen Räumen führt die AfD ebenso. 
       
       Heitmeyer: Die sehr geschickte und rabiate politische Strategie gerade im
       Medienbereich spielt eine große Rolle. Die AfD ist die modernste
       Digitalpartei, die um sich herum längst eine eigene Medienwelt geschaffen
       hat. Die etablierten Parteien haben auch hier verpasst, der effektiven
       Kommunikationsstrategie etwas entgegenzusetzen. Die AfD betreibt die
       Emotionalisierung aller Probleme als Kontrollverluste. Dagegen ist die
       Wirkung mit rationalen und problemangemessenen, komplexen Argumenten
       deutlich geringer.
       
       taz: Sie haben schon in den Achtzigern zur rechtsextremen Orientierungen
       bei Jugendlichen geforscht. Was ist heute anders als früher – mal abgesehen
       von Tiktok? 
       
       Heitmeyer: Identitätsprobleme, Fremdenfeindlichkeit und Gewaltorientierung
       finden sie heute wie damals. Damals war nur die NPD als Angebot vorhanden.
       Heute ist es gefährlicher durch den Autoritären Nationalradikalismus. Höcke
       geht zum Beispiel mit der Rhetorik vom Untergang des deutschen Volkes
       hausieren, um Ängste zu erzeugen. Mit dieser Untergangsrhetorik lässt sich
       gleichzeitig für bestimmte Gruppen aus dem rechten und neonazistischen
       Lager eine Notwehrsituation konstruieren, die auch Gewalt legitimiert gegen
       markierte Gruppen. Die AfD baut mit ihren Parolen Legitimationsbrücken für
       Gewalt – ohne selbst tätig zu werden.
       
       taz: Und welche Orientierung bietet sie? 
       
       Heitmeyer: Mit ihrer rabiat ausgrenzenden Identitätspolitik. Das hat vor
       allem dann einen Effekt, wenn man in Krisenzeiten die Erfahrung machen
       muss, dass einem alles – Arbeit, Status, Wohlstand, Familie – verloren
       gehen kann. Eines kann einem nicht genommen werden: das Deutschsein. Die
       AfD nutzt Nationalismus als Identitätsanker in stürmischen Zeiten hat.
       Hinter diesem Kulturkampf stehen auch wirtschaftliche Erwägungen zurück,
       sonst könnte man das Wahlverhalten nicht erklären.
       
       taz: Sie meinen, weil der Großteil der AfD-Wähler*innen ökonomisch gesehen
       gegen ihre eigenen Interessen stimmt?
       
       Heitmeyer: Ja, bei den Wahlen in Sachsen haben [2][49 Prozent der Bauern
       AfD gewählt]. In Thüringen waren es 40 Prozent – obwohl im AfD-Programm die
       Kürzung von Subventionen drin steht. Auch die Berechnungen des Deutschen
       Instituts für Wirtschaftsforschung zeigen, dass die ökonomischen Vorschläge
       der AfD zulasten ihrer Wählerschaft gehen. Teile der AfD-Wählerschaft
       votieren völlig inkonsistent gegen die eigenen Interessen. Das macht es für
       die etablierten Parteien natürlich noch schwieriger, weil normalerweise
       gilt: Es muss ein konsistentes und nicht widersprüchliches Angebot da sein.
       Das schert aber die AfD-Wähler nicht. Das liegt meines Erachtens an der
       Attraktivität ausgrenzender Identitätspolitik als Kern des Kulturkampfes.
       
       taz: Wie könnten die etablierten Parteien dem überhaupt beikommen?
       
       Heitmeyer: Das ist natürlich die 100.000-Dollar-Frage, auf die es
       bekanntlich keine einfache Antworten gibt. Zuerst stellt sich für mich die
       Frage, ob die Politik der Schuldenbremse nicht völlig dysfunktional ist.
       Die Schuldenbremse funktioniert, aber die Infrastruktur ist oder geht
       kaputt – und das wird für die zukünftigen Generationen politisch und
       ökonomisch noch sehr viel teurer. Durch die Aufhebung der Schuldenbremse
       und die daraus sich ergebenden Investitionschancen könnte auch ein
       zuversichtliches gesellschaftliches Klima erzeugt werden: Hier passiert
       was.
       
       taz: Wie sollte man mit Repräsentationslücken umgehen?
       
       Heitmeyer: Die müsste die Politik schließen und sich fragen, ob sie Bürger
       und deren Probleme eigentlich noch ausreichend wahrnimmt. Es bleibt die
       Frage, ob etablierte Parteien an vielen Stellen nicht zu spät kommen. Ein
       wichtiger Punkt ist auch die soziale Ungleichheit. Über
       Ungleichheitserfahrungen werden immer wieder Vergleiche mit anderen
       Bevölkerungsgruppen angestellt. Daraus entsteht ein Gefühl der Deprivation,
       also Gefühle von Benachteiligungen oder Ungerechtigkeiten, die ganz rabiate
       Einstellungen wie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit begünstigen, wie
       wir in unserer Langzeitstudie herausgearbeitet haben.
       
       taz: Was müsste noch getan werden? 
       
       Heitmeyer: Ganz zentral ist es, die gesellschaftlichen und staatlichen
       Institutionen zu stärken. Das zentrale Ziel der AfD ist ein Systemwechsel
       von innen. Sie will explizit in gesellschaftliche und staatliche
       Institutionen wie Justiz, Medien und Kultureinrichtungen, aber auch in die
       Bildung, um die Schulen unter Druck zu setzen. Es geht um Destabilisierung
       zur autoritären Veränderung. Es ist wichtig, dass Menschen in den
       Institutionen sehr viel konfliktfähiger agieren, um eine weitere
       Ausbreitung und Normalisierung zu verhindern.
       
       taz: Welche Rolle kommt der Zivilgesellschaft zu? 
       
       Heitmeyer: Sie ist sehr wichtig, wobei die großen Demonstrationen bedeutsam
       sind, aber auch den Haken haben, dass man dort unter sich ist und die
       Frequenz sich nicht lange aufrechterhalten lässt. Wichtig wäre es deshalb,
       sich stark zu machen in den nahen sozialen Bezugsgruppen. In der
       Verwandtschaft, im Freundeskreis, in der Familie, dem Sportverein. Man
       sollte bei aufkommenden Hetzsprüchen sofort einschreiten, um wenigstens die
       Normalisierung zu verhindern. Es bleibt die Frage, ob wir dafür eigentlich
       konfliktfähig genug sind. Die möglichen harten sozialen Kosten können auch
       ein Ausschluss aus den sozialen Bezugsgruppen sein. Aber insgesamt gibt es
       keinen Königsweg.
       
       taz: Aber das sind ja schon mal Ansätze.
       
       Heitmeyer: Die Gesellschaft und die Probleme sind kompliziert. Jeder und
       jede weiß das. Man kann leider nicht einfach einen Schalter umwerfen.
       Politische Sozialisationsprozesse verfestigen sich und haben Folgen. Die
       Aufgabe der Politik wäre es vor allem, in der politischen Debatte
       Alternativen zur Attraktivität des Autoritären zu bieten. Es fehlt eine
       zuversichtliche Vision. Es braucht eine verbindende Philosophie und
       Erzählung über die weitere gesellschaftliche Entwicklung. Fatal ist, dass
       die AfD eine ganz klare Vision hat: Sie will einen Autoritären
       Nationalradikalismus durchsetzen. Dagegen muss man sich natürlich in
       Stellung bringen. Das würde uns sonst schlecht bekommen.
       
       taz: Nach dem AfD-Eklat bei der Konstituierung im Thüringer Landtag werden
       wieder [3][Verbotsforderungen laut]. Sie haben sich in einem Beitrag mit
       dem Titel [4][„Dilemma des Demokratieschutzes“] gegen ein Verbot
       ausgesprochen. Aber wäre vor einem Verbot nicht vielleicht ein
       Zwischenschritt zielführender – wie etwa die Streichung von Finanzmitteln?
       Die AfD bekam zuletzt 10,2 Millionen Euro aus der Parteienförderung. Warum
       sollte der Staat seine eigene Abschaffung finanzieren?
       
       Heitmeyer: Ich bin da grundsätzlich skeptisch. Die Verlagerung
       gesellschaftlicher und politischer Probleme wie autoritärer Einstellungen
       in einen juristischen Vorgang erzeugt unbeabsichtigte Nebenfolgen. Die
       Parteien und die Bevölkerung sind aus dem Klärungsprozess raus, wohin sich
       diese Gesellschaft entwickeln soll. Im Ergebnis würde es weiter gehen wie
       bisher. Und der Erfolg eines Antrages vor dem Verfassungsgericht ist
       unsicher. Wäre er erfolgreich, sind massive Radikalisierungen außerhalb des
       Parteiensystems nicht ausgeschlossen. Bei einem Misserfolg hätte die AfD
       eine erhöhte demokratische Legitimation.
       
       taz: Was ist die Alternative? 
       
       Heitmeyer: Die politische Auseinandersetzung. Natürlich bringt auch der
       politische Weg durchaus Probleme mit sich. Bei Demonstrationen gibt es
       unsichere Wirkungseffekte. Steffen Mau schlägt als neue partizipative
       Möglichkeit Bürgerräte vor, um aus der Lethargie zu kommen, aber natürlich
       bleiben Repräsentationslücken schwer zu schließen. Erschwerend hinzu kommen
       mittlerweile die institutionellen Machtoptionen der AfD wie die
       Sperrminorität.
       
       taz: Welche Rolle spielt die Debatte um Migration? 
       
       Heitmeyer: Die Migrationspolitik beinhaltet erhebliche autoritäre
       Treibsätze. Sie kann unter bestimmten Vorzeichen bei Verunsicherten oder
       Personen mit menschenfeindlichen Einstellungen eine zusätzliche autoritäre
       Stimulation bedeuten. Gauland nannte die großen Geflüchtetenzahlen 2015 mal
       ein „Geschenk des Himmels“. Die AfD heizt das Thema in immer neuen
       Varianten in Verbindung mit Kriminalität auf. Die CDU macht mit, speziell
       nach den Morden von Solingen. Auch die anderen passen sich an. Das ist
       politisch risikoreich. Zumal die Wählerschaft der AfD sagen kann: Wir
       stehen auf der richtigen Seite.
       
       taz: Die AfD profitiert derzeit von einem perfekten Sturm: Die CDU macht
       rechten Kulturkampf und basht die Grünen, die Ampel blockiert sich selbst
       und hat nie dagewesene Unbeliebtheitswerte.
       
       Heitmeyer: Bei der generellen Erklärung für die Ausweitung der AfD kann man
       nicht immer nur kurzfristige Trigger anführen. Nach dem Motto: Das ist
       alles nur Ampelpolitik. Allerdings muss man sagen, dass das Heizungsgesetz
       durchaus ein Trigger war. Aber das gilt auch für Versäumnisse in der
       Migrationspolitik. Man hätte sich etwa viel früher klarer Zusammenhänge
       zwischen Migration und islamistischen Einstellungen stellen müssen. Ich
       habe Mitte der 90er eine Untersuchung zu islamistischen Einstellungen unter
       türkischen Jugendlichen gemacht und bin dafür massiv angefeindet worden.
       Ich sei ein Kulturrassist und so weiter. Dabei war es angesichts der
       Ergebnisse unbedingt notwendig darauf hinzuweisen, dass wir
       Integrationsangebote und das hieß vor allem die Möglichkeiten für
       Anerkennung ausweiten müssten, weil wir sonst Probleme mit islamistischen
       Aktivitäten bekommen würden.
       
       taz: Ein differenziertes Bild ist immer von Vorteil. Aber bei den aktuellen
       Debatten fällt doch sehr auf, dass Fakten und Differenzierung eher eine
       untergeordnete Rolle spielen, wenn es um härtest mögliche Maßnahmen wie
       Grenzschließungen, den Entzug von Sozialleistungen und Einführungen von
       Sachleistungen für Asylbewerber geht, um AfD-Wähler zu befriedigen. Im
       Brandenburger Wahlkampf ging es um Migration, die Wähler*innen schätzten
       laut Umfragen die Probleme soziale Sicherheit, Infrastruktur und Bildung
       als am wichtigsten ein. Sollten diese Themen nicht vor allem den Diskurs
       bestimmen?
       
       Heitmeyer: Da bin ich völlig ihrer Meinung, aber gegen die
       Emotionalisierung kommt man kaum an. Gerade die Frage nach der sozialen und
       sonstigen Infrastruktur spielt eine Rolle. Man muss sich neue Konzepte –
       auch mithilfe einer aufgelösten Schuldenbremse – überlegen auch für
       ländliche Gebiete: Die Ansiedlung von Läden, Busunternehmen und Ärzte
       sollte man beispielsweise subventionieren, weil sich das sonst in
       bevölkerungsarmen Gebieten nicht rechnet. Der Staat müsste Überlegungen
       anstellen, um den Grundgesetzauftrag der gleichen Lebensverhältnisse
       zumindest ansatzweise wieder herzustellen. Stattdessen drängt sich der
       Eindruck auf, das ganze Landstriche politisch, ökonomisch und
       infrastrukturell klammheimlich abgeschrieben werden.
       
       taz: Hätten Sie vor elf Jahren gedacht, dass sich im deutschen
       Parteiensystem noch einmal eine feste autoritäre Kraft mit dem Potential
       zum Umbau der BRD-Demokratie etablieren würde? 
       
       Heitmeyer: Selbstverständlich habe ich mir nicht die Entwicklung der AfD
       vorstellen können. Aber in der Langzeitstudie zu deutschen Zuständen
       zwischen 2002 und 2012 zeichneten sich die politischen Potentiale in den
       autoritären Einstellungen von Teilen der Bevölkerung ab. Sie hatten damals
       nur noch keine parteipolitische Anschlussstelle.
       
       taz: Welche langfristigen Bedingungen haben das begünstigt? 
       
       Heitmeyer: Ich habe ja schon 2001 in dem Buch „Schattenseiten der
       Globalisierung“ vor negativen langfristigen Entwicklungen gewarnt. Ende der
       1990er Jahre hatte die rigorose neoliberale Wirtschaftspolitik mit ihren
       Deregulierungen zu einem autoritären Kapitalismus mit großen
       Kontrollgewinnen geführt. Die nationalstaatliche Politik hatte dagegen
       Kontrollverluste und keinen Willen oder keine Kraft, gegen die wachsende
       Ungleichheit vorzugehen. Als Folgen zeichneten sich soziale
       Desintegrationsprozesse ab. Und auch das, was ich Demokratieentleerung
       genannt habe: der Apparat funktioniert, aber das Vertrauen erodiert.
       
       Meine These war damals: Wenn das Zusammenwirken zwischen diesen
       ökonomischen, sozialen und politischen Prozessen nicht durchgreifend
       verändert wird, werden wir eine massive Rechtsentwicklung bekommen. Also,
       die heutigen Prozesse haben schon seit den 2000er Jahren massiv angefangen
       und wurde dann durch entsicherte Krisen in den Jahrzehnten danach auf
       Touren gebracht. Das sind langfristige Entwicklungen. Der berühmte
       Soziologe Ralf Dahrendorf hat schon 1997 gesagt: Wir stehen wahrscheinlich
       vor einem neuen autoritären Jahrhundert.
       
       4 Oct 2024
       
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