# taz.de -- Wenn die Tochter nicht zur Schule geht: Der Absentismus-Vorwurf
       
       > Unsere Tochter ist krank und geht seit Monaten nicht zur Schule. Die
       > Schule erkennt ihre Krankheit an und hilft. Die psychosomatische Ärztin
       > nicht.
       
 (IMG) Bild: Ein Ort, der manchen viel Angst macht: Klassenzimmer, hier in Berlin
       
       Vor einiger Zeit habe ich ein neues Fremdwort kennengelernt. Anlass war ein
       Gespräch über die Tatsache, dass unsere 15-jährige Tochter nicht zur Schule
       geht. Während ich von Schulangst sprach, nannte mein Gegenüber (eine
       Sozialpädagogin) es „Absentismus“. Ich mochte das Wort nicht. Es
       schüchterte mich ein und klang für mich mehr nach Alkoholismus oder
       Faschismus als nach dem weinenden Häuflein Elend zuhause im Bett, das meine
       Tochter war.
       
       Wikipedia verriet mir: „Absentismus ist die Neigung von Personen, einem
       Termin, einer Verpflichtung oder einer Vereinbarung nicht nachzukommen,
       obwohl es keine Verhinderungsgründe (wie etwa Krankheit) gibt.“
       
       Es wird als Synonym für Schulschwänzen verwendet und bezeichnet also
       einfach die Verletzung der Schulpflicht. Seit 1919 gilt in Deutschland für
       alle Kinder nicht nur das Recht auf den Schulbesuch, sondern auch die
       Pflicht. Immer wieder gibt es Kritik daran. Vor einem Jahr versuchte [1][in
       Hamburg wieder eine Initiative] unter dem Titel „Zukunft lernen – Bildung
       ohne Zwang“ erfolglos die Unterschriften für ein Volksbegehren
       zusammenzubekommen, um die Rahmenbedingungen für Lernen in der Schule zu
       verbessern und auch Unterricht außerhalb der Schule zu ermöglichen.
       
       Leider würden bei der Abschaffung der Anwesenheitspflicht wahrscheinlich
       nicht nur die Kinder zuhause bleiben, die nicht in das [2][„System Schule“]
       passen, sondern vielmehr diejenigen, deren Eltern das gesamte „System
       Deutschland“ nicht passt. Die Reichsbürger und [3][völkischen
       Siedler-Fuzzis] würden gerne ihre Kinder zuhause behalten, um sie dort in
       Ruhe zu indoktrinieren.
       
       Ich möchte meine Tochter nicht zuhause beschulen. Der Heimunterricht in der
       Coronazeit hat mir vollkommen gereicht. Ich wünschte einfach, die Schule
       wäre für mein Kind ein Ort, an den es gerne ginge.
       
       Schulabsentismus ist übrigens eine Ordnungswidrigkeit. In Hamburg verhängte
       die Schulbehörde im Jahr 2022 rund 1.500 [4][Bußgelder]. Auch Jugendarrest
       oder die „zwangsweise Zuführung“ zur Schule durch die Polizei sind keine
       Ausnahmen.
       
       Die Gründe der Schulverweigerung werden durch solche Maßnahmen leider nicht
       behoben. Einer der größten Risikofaktoren für Schulabsentismus ist
       [5][Schulversagen]. Unsere Tochter hatte durchweg sehr gute Noten. Trotzdem
       – oder genau deswegen – muss sie große Versagensängste gehabt haben. Mit 15
       Jahren komplett erschöpft von ihren eigenen Ansprüchen – oder den
       gesellschaftlichen oder sogar von meinen?
       
       Jetzt haben die Verletzungen ihrer Seele Vorrang vor der Verletzung der
       Schulpflicht und ständig habe ich das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu
       müssen.
       
       Gerade hatten wir ein Vorgespräch in einer Psychosomatischen Tagesklinik,
       in dem die Ärztin wieder von Absentismus sprach und mir dafür klar die
       Verantwortung gab. Ich hätte sie gerne darauf aufmerksam gemacht, dass es
       sich in Olivias Fall laut Definition NICHT um Absentismus handelt, da es
       einen klaren – ärztlich attestierten – Verhinderungsgrund gibt: Sie ist
       krank! Und gerade, weil ich mir meiner Verantwortung bewusst bin, waren wir
       gekommen. Aber ich habe geschwiegen.
       
       Der Ort, von dem wir keine Vorwürfe oder Druck bekommen haben, ist die
       Schule selber. Man hat Olivia schon beim Beginn der Probleme von Klausuren
       und Noten befreit und ihr sogar einen Raum zum Zurückziehen bereitgestellt.
       Als sie gar nicht mehr kommen konnte, war man sehr betroffen, hat uns nicht
       mit Strafen gedroht, sondern uns vertraut.
       
       Jetzt, nach einem halben Jahr, beginnt Olivia (unterstützt von Schule und
       Behörde) zuhause mit mobilem Unterricht, damit sie die Angst langsam
       überwinden lernt. Nur wenige Familien in unserer Lage haben das Glück,
       nicht gegen die Schule kämpfen zu müssen und ihre begrenzen Kräfte für das
       Wesentliche einsetzen zu können: für das Wohl des Kindes.
       
       26 Sep 2024
       
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