# taz.de -- Die FDP im Thüringer Wahlkampf: Thomas Kemmerich hat einen Plan
       
       > Er stürzte das Land in die Krise, als er von der AfD zum
       > Ministerpräsidenten gewählt wurde. Nun hofft Kemmerich, dass ihm die
       > Geschichte nochmal nutzt.
       
 (IMG) Bild: Thomas Kemmerich will es nochmal wissen: Der Thüringer FDP-Spitzenkandidat zum Wahlkampfauftakt in Weimar
       
       Arnstadt/Neudietendorf taz | Kurz bevor der Besuch auf dem Firmengelände
       eintrifft, versucht der Geschäftsführer seine wirtschaftliche Lage mit
       einem Witz zu beschreiben: „Uns geht es nicht ganz so wie der FDP, aber …“,
       sagt Frank Kampmann. Er spricht nicht zu Ende, denn da kommt schon der
       Spitzenkandidat der Partei vorgefahren, die hier in den Umfragen bei etwa 3
       Prozent taxiert: Thomas Kemmerich.
       
       [1][Es ist mehr als vier Jahre her, dass der FDP-Politiker die Republik in
       eine mittelgroße politische Krise gestürzt hat,] als er sich in Thüringen
       mit Stimmen der AfD und CDU zum Ministerpräsidenten wählen ließ. Das Bild
       von Kemmerichs Handschlag mit dem rechtsradikalen AfD-Landesvorsitzenden
       Björn Höcke sorgte bundesweit für Entsetzen, Parteifreunde forderten seinen
       Rücktritt, Angela Merkel schaltete sich ein und ihre CDU drohte, in
       Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein die Regierungen mit der FDP
       platzen zu lassen. Seine Bekanntheit von damals, da ist sich Kemmerich
       sicher, wird ihn wieder ins Parlament tragen.
       
       „Vom Fernsehen kenne ich Sie ja“, sagt auch der Unternehmer Kampmann zur
       Begrüßung und streckt Kemmerich die Hand entgegen. Er ist Geschäftsführer
       der Systec-Gruppe aus Franken. Die Unternehmen der Gruppe bauen an mehreren
       Standorten in Deutschland etwa hochspezialisierte Fertigungsanlagen für den
       Einsatz in der Chemie- und Automobilindustrie. Hier in Thüringen gehören
       drei Unternehmen zu Systec, unter anderem eine Arnstadter Traditionsfirma.
       
       Die Chemischen Maschinenbauwerke Rudisleben, Chema, galten zu DDR-Zeiten
       als ein Aushängeschild deutscher Ingenieurskunst. Wer hier arbeitete,
       konnte stolz darauf sein, weltweit nachgefragte Industrieanlagen zu bauen:
       Meerwasserentsalzungsanlagen, riesige Rührmaschinen für die
       Chemie-Industrie, Geräte zur Luft- und Gaszerlegung. 1989 beschäftigte das
       Unternehmen 2.200 Menschen – heute arbeiten hier noch 95 Angestellte.
       
       ## Der Geschäftsführer macht es Kemmerich nicht leicht
       
       Nach der Wende brach die Nachfrage aus der Sowjetunion und Osteuropa ein.
       Mit dem Verschwinden des größten Absatzmarktes des Unternehmens begann die
       Abwärtsspirale: Entlassungen, Ausgründungen gewinnversprechender
       Fertigungsfelder, Teilverkäufe und Übernahmen. 2002 wurde dann sogar der
       repräsentative Chema-Verwaltungsbau in Arnstadt, eine modernistische
       Konstruktion aus Stahlbeton und Glas, abgerissen.
       
       „Vom guten Ruf können Sie nichts kaufen“, erzählt Geschäftsführer Kampmann
       dem Thüringer FDP-Kandidaten. Im Anlagenbau konkurriert die Chema mit
       internationalen Weltmarkt-Größen, das Geschäftsumfeld ist schwierig. Viele
       Unternehmen investieren lieber in den USA, die Energiepreise in Deutschland
       verteuern das Geschäft, die Fachkräfte fehlen.
       
       Was die FDP da tun kann? Das wissen offenbar weder Kampmann noch Kemmerich
       so genau. „Man kann der Ampel alles vorwerfen, aber sie ist nicht für den
       Status quo verantwortlich“, sagt der Unternehmer. Kemmerich pflichtet ihm
       bei: „Ich will auch nicht alles auf die Ampel schieben.“ Er ergänzt: „Ich …
       die FDP ist ja auch Teil dessen.“
       
       [2][Die FDP und Thomas Kemmerich haben seit seinem Stunt von vor vier
       Jahren eine schwierige Beziehung.] Die Bundespartei hat dem Thüringer
       Landesverband die Mittel gestrichen, seinen Wahlkampf finanziert Kemmerich
       aus Spenden. Mehr als eine halbe Million Euro seien bereits
       zusammengekommen, auf der Zielgeraden erhofft sich der Spitzenkandidat noch
       mal etwa 150.000 Euro. Für Kemmerich ist diese Ausgangslage „nicht schön“.
       Aus seiner Sicht sei es trotz der gegenseitigen Kritik auch eine
       Möglichkeit gewesen, zu sagen: „Okay, der Thüringer Verband bekommt seine
       Unterstützung, vielleicht mit angezogener Handbremse. Immerhin sind wir
       noch eine liberale Familie.“
       
       ## Ein Handschlag im Parlament
       
       Dabei macht sich Kemmerich das Bild des Außenseiters im Wahlkampf durchaus
       zu Nutzen. Der gebürtige Aachener gibt sich in Wild-West-Manier, wenn er
       wie immer mit Cowboystiefeln im Wahlkampf unterwegs ist. „Zurückgetreten,
       um Anlauf zu nehmen“, heißt es auf einem seiner Plakate: Es zeigt eine
       Szene nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten mit der kürzesten Amtsdauer
       in der Geschichte der Bundesrepublik. Anstatt Kemmerich zu gratulieren,
       warf Linken-Politikerin Susanne Hennig-Wellsow ihm damals einen
       Blumenstrauß vor die Füße. Die Blumen vor Kemmerichs Cowboystiefeln sind
       heute eines von drei Motiven auf den Thüringer FDP-Wahlplakaten.
       
       Fragt man ihn heute nach der Zeit, antwortet Kemmerich mit einer Mischung
       aus viel Trotz und etwas Reue. „Ich wurde am 5. Februar mit einer Mehrheit
       des Thüringer Parlaments gewählt.“ Eine Stimme erhielt er damals im dritten
       Wahlgang mehr als der Langzeit-Ministerpräsident von der Linkspartei, Bodo
       Ramelow. „Die 45. Stimme war meine eigene“, sagt der FDP-Politiker heute.
       „Adenauer ist bekannterweise auch mit seiner eigenen Stimme zum Kanzler
       gewählt worden.“ Kemmerich bestreitet jedoch vehement, mit der AfD
       gemeinsame Sache gemacht zu haben. „Es gab keine Absprache mit der AfD, und
       die hat ja auch nie einer beweisen können. Dafür ist es ja eine geheime
       Wahl.“
       
       Rückblick: Drei Tage vor der Abstimmung im Thüringer Parlament im Februar
       2020 kündigte Kemmerich an, in einem möglichen dritten Wahlgang gegen
       Ramelow antreten zu wollen, trotz der Warnungen, damit möglicherweise auch
       AfDler hinter sich zu scharren. Im dritten Urnengang ist laut der
       Geschäftsordnung des Thüringer Landtags nur noch eine einfache Mehrheit für
       die Wahl eines Ministerpräsidenten nötig. Neben Ramelow und Kemmerich gab
       es bei der Abstimmung auch noch einen Kandidaten der AfD: Den parteilosen
       Ingenieur Christoph Kindervater.
       
       Ramelow hatte sich mit dem Urnengang im Parlament auf ein hochriskantes
       Spiel eingelassen und, wie sich später herausstellen sollte, ordentlich
       verzockt: Seine rot-rot-grüne Wunschkoalition verfügte mit 42 von 90
       Abgeordneten dort über keine Mehrheit mehr. Seiner Hoffnung, spätestens im
       dritten Wahlgang noch ins Amt gehievt zu werden, machten AfD, CDU und FDP
       einen fetten Strich durch die Rechnung. Die AfD schickte ihren eigenen
       Kandidaten im dritten Wahlgang mit null Stimmen wieder nach Hause und
       stimmte stattdessen für Thomas Kemmerich – und dieser nahm die Wahl an.
       
       Der Aufschrei war groß. Kemmerich versuchte in den chaotischen Stunden nach
       seiner Wahl noch mit SPD und Grünen ins Gespräch zu kommen, was diese aber
       brüsk ablehnten. Auch die CDUler, mit deren Stimmen die Wahl Kemmerichs
       erst möglich wurde, gingen nun auf Distanz. FDP-Chef Christian Lindner
       reiste am Tag darauf nach Erfurt, um Kemmerich die Auswegslosigkeit seiner
       Lage deutlich zu machen. „Letztlich war es ja dann noch meine eigene
       Partei, die dann gesagt hat, wir machen da nicht mehr mit“, sagt Kemmerich
       heute.
       
       ## FDP, AfD und CDU verzögern den Windkraftausbau
       
       Der einzige Fehler, den der FDP-Mann heute sehen will, ist, dass er damals
       die Wahl direkt angenommen habe: „Ich habe immer eingeräumt, ich hätte mir
       mal zwei Stunden Bedenkzeit erbeten sollen, um manches, was danach passiert
       ist, zu eskomptieren.“ Aber, „ein Typ wie Thomas Kemmerich“, der die Chance
       habe, einen Linken abzulösen, sage erst mal: „Jetzt gucken wir mal, was wir
       daraus machen.“ Zudem habe ihn seine Wahl unvorbereitet getroffen. „Den
       Plan hatte ich tatsächlich nicht.“
       
       Der Druck auf Kemmerich ist immens, Demonstranten stehen vor seinem Haus,
       in einem Interview mit dem MDR erklärte er, wie seine Kinder in der Schule
       drangsaliert werden. Einen Tag nach der Wahl erklärt er seinen Rücktritt
       und macht den Weg frei für Ramelow, der am 4. März 2020 erneut im dritten
       Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt wird. [3][Seitdem ist die Linke in
       einer Minderheitsregierung mit SPD und Grünen in Thüringen auf wechselnde
       Mehrheiten im Parlament für seine Arbeit angewiesen.]
       
       Die unklaren Mehrheitsverhältnisse im Landtag weiß auch die FDP weiterhin
       für sich zu nutzen und kann dafür auch immer wieder auf die Stimmen von AfD
       und CDU zählen. [4][Ende des vergangenen Jahres bringen die Liberalen so
       eine Änderung des Waldgesetzes durch das Parlament,] mit der der Bau von
       Windrädern in dem Bundesland erschwert wird – hierfür wird der Waldbegriff
       weit definiert, weil auch gerodete Flächen mit einbezogen werden. Es mache
       ihm nichts aus, dass die AfD hierbei mitgestimmt habe, sagt Kemmerich
       heute. „Es war die parlamentarische Suche nach einer Mehrheit und für eine
       in meinen Augen vernünftige Idee.“
       
       ## Er würde es auch nochmal als Ministerpräsident probieren
       
       Beim Rundgang in der Chema in Arnstadt spielen diese Geschichten keine
       Rolle. Meist hört der FDP-Mann dem Firmenchef, dem Werksleiter und der
       Vertriebsleiterin zu, um dann an einigen Stellen einzuhaken. In diesem Fall
       liefert die umständliche Genehmigung von Schwerlasttransporten, über die
       sich der Werksleiter beschwert, das passende Stichwort für das
       FDP-Evergreen vom Bürokratieabbau. Kemmerich will sich des Themas annehmen.
       
       Etwa 20 bis 25 Termine absolviert er derzeit pro Woche in dem Bundesland.
       An diesem Tag führt ihn das nächste Treffen zu einem bekennenden
       FDP-Wähler, der am Kreuz der Autobahnen 4 und 73, wenige Fahrminuten von
       Erfurt, eine Tankstelle betreibt. Marcel Geber bringt das Problem der
       Thüringer Gemengelage so auf den Punkt: Die Parteien der demokratischen
       Mitte müssten zu viele Kompromisse eingehen, um miteinander zu regieren, um
       die AfD zu verhindern. „Es ist kaum anders möglich, als mit allen anderen
       ins Bett zu gehen, um den Teufel zu vermeiden.“
       
       Kemmerich sieht in dieser Ausgangslage zumindest für den Wahlkampf eine
       Chance. „Wenn ich vor so einem Bauchladen an politischem Angebot stehe,
       dann greife ich auch da zu einer bekannten Marke.“ Neulich erst sei er in
       Apolda auf einem Fest gewesen, dem Biersommer. „Der ein oder andere hält
       dann an und fragt, kann ich mal ein Selfie machen, das will ich meiner
       Mutter zeigen. Auf diesen Faktor setzen wir“, sagt Kemmerich.
       
       Es wäre durchaus ironisch, sollte sich aus der kürzesten Amtszeit als
       Ministerpräsident dieses Nachspiel für den FDP-Mann ergeben. Sollte er es
       nochmal in den Landtag schaffen, würde er auch wieder als Ministerpräsident
       kandidieren?
       
       „Ich behalte mir vor, in jedes Parlament, in das ich gewählt wäre, und ich
       gehe davon aus, dass ich im Thüringer Landtag wieder mit der FDP Platz
       nehme, dass wir dort auch kandidieren“, sagt Kemmerich. Doch er schiebt
       hinterher: „Tatsächlich gilt Vorsicht an der Bahnsteigkante, man muss sich
       dann die Situation viel genauer anschauen. Da sind aber alle vorgewarnt.“
       
       20 Aug 2024
       
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