# taz.de -- Report aus dem Al-Aksa-Märtyrer-Spital: Operation Ausweglos
       
       > Im südlichen Gazastreifen hat das israelische Militär erneut zu
       > Evakuierungen aufgerufen. Ein Bericht aus dem Al-Aksa-Märtyrer-Spital.
       
 (IMG) Bild: Palästinensische Patienten fliehen aus dem Al-Aksa-Märtyrerkrankenhaus
       
       Deir al-Balah/Berlin taz | Am Wochenende bekommen einige Mitarbeiter des
       Al-Aksa-Märtyrer-Spitals in Deir al-Balah, Zentralgaza, Nachrichten auf
       ihre Smartphones. Eine automatisierte Stimme, die warnt: „Block 128 wird
       beschossen werden.“ So erzählt es Iyad Al Jabry, medizinischer Koordinator
       des Spitals – das genau dort liegt, im nordwestlichen Teil des Blocks 128.
       Über 600 Patientinnen und Patienten wurden hier betreut, viele Ärzte waren
       im Einsatz. Nachdem sie die Nachrichten erhalten haben, entscheiden sich
       viele von ihnen, zu fliehen. Auch große Teile der Patientinnen und
       Patienten bekommen Angst und verlassen nach und nach das Gebäude, mit
       unbekanntem Ziel.
       
       Al Jabry ist einer der wenigen, die noch geblieben sind. „Ich versuche,
       weiter zu helfen – so Gott will“, sagt er. Am Montag folgt schließlich die
       Ankündigung des arabischsprachigen Sprechers der israelischen Streitkräfte
       über das soziale Netzwerk X: Zwar muss nur der östliche Teil des Blocks 128
       evakuiert werden, aber diese Zone und das Al-Aksa-Märyter-Spital trennen
       gerade mal etwa 1.000 Meter. Das israelische Militär warnt: Wer sich weiter
       in dem zur Evakuierung aufgerufenen Gebiet aufhalte, befinde sich in einer
       „gefährlichen Kampfzone“.
       
       Viele befürchten, dass die Kämpfe sich nicht nur auf den zur Evakuierung
       angewiesenen Bereich beschränken werden. Am Dienstag sind noch etwa 120
       Patientinnen und Patienten im Spital, und weniger als zwölf Ärzte. „Wir
       haben alle Verbliebenen in einer Station zusammengesammelt“, sagt Al Jabry.
       Es ist der einzige Ort in dem ganzen Spital, in dem noch gearbeitet wird.
       Im Rest des Krankenhauses sind die Gänge leer, die Betten verlassen.
       
       Auch am Empfang des Spitals sitzt kaum mehr jemand. Nur wenn es Angriffe in
       der Nähe gibt, etwa am Dienstagmorgen, füllt sich das Krankenhaus wieder.
       
       Am Empfang gibt es zwei Schalter, einer ist für Männer, einer für Frauen.
       Auf die staubige Glasscheibe, die die beiden Schalter von den
       aufzunehmenden Patienten trennt, wurden mit dem Finger Botschaften in den
       Staub gemalt. Ein „Abou Naji“ hat seinen Namen hier hinterlassen. Doch es
       gibt auch gewichtigere Botschaften: Unter den beiden Schildern, die jeweils
       den Bereich für Männer und Frauen kennzeichnen, steht ein „Hamas Fck“ an
       die schmutzige Scheibe geschrieben. Niemand hat es weggewischt.
       
       Teilweise haben die flüchtenden Patientinnen und Patienten die Matratzen
       mitgenommen, manchmal auch mitsamt den Bettgestellen. Gerade wer
       bettlägerige Angehörige hat, weiß sonst wohl kaum, wie er sie
       transportieren kann. Videos, die in den sozialen Medien vielfach geteilt
       werden, fahren an Brutkästen für Säuglinge entlang. Sie sind leer.
       
       Wo sollen die Patientinnen und Patienten hin? Der Gazastreifen ist durch
       den von Israels Streitkräften kontrollierten Netzarim-Korridor in zwei
       Teile gespalten. Das Ballungsgebiet um Gaza-Stadt, in dem nach Angaben von
       Relief Web, einer Datenbank der Vereinten Nationen, immerhin noch sieben
       Krankenhäuser zumindest teilweise aktiv sind, ist durch den Korridor vom
       südlicher gelegenen Deir al-Balah abgeschnitten.
       
       In der Stadt selbst sind außer dem Al-Aksa-Märtyrer-Spital noch zwei
       weitere Krankenhäuser teilweise in Betrieb, im noch weiter südlich
       gelegenen Chan Yunis gibt es ebenfalls noch drei geöffnete Krankenhäuser.
       Südlich des Netzarim-Korridors halten sich derzeit über eine Million
       Menschen auf, die meisten von ihnen Binnenvertriebene aus dem ganzen
       Gazastreifen.
       
       Auch Al Jabry sagt: Es gäbe durchaus Alternativen in der Nähe, welche die
       Patientinnen und Patienten versorgen könnten, etwa das Nasser-Krankenhaus
       im nahegelegenen Chan Yunis. Laut Relief Web gibt es in der südlichen
       Hälfte von Gaza, unterhalb des Korridors, außerdem acht Feldkrankenhäuser.
       Diese können zumindest eine Notversorgung leisten.
       
       In dem gesamten Gebiet südlich des Netzarim-Korridors gibt es nach Angaben
       der Weltgesundheitsorganisation WHO bisher aber lediglich noch zwei
       Intensivstationen – eine davon im Al-Aksa-Märtyrer-Spital. Weil die
       Patientinnen und Patienten der Station zu großen Teilen nicht evakuiert
       werden können, bleibt die Intensivstation im Spital geöffnet – vorerst.
       
       Einer der 120 Patienten, die noch dort behandelt werden, ist Mohammad Al
       Akhras. In Straßenkleidung liegt er auf einer Liege mit einer dünnen
       Matratze, neben sich eine zusammengeknüllte Decke. Mit seiner Familie ist
       er aus dem Viertel Hamad City in Chan Yunis geflüchtet. Das dortige
       Nasser-Spital, hat er von einem ehemaligen Mitpatienten gehört, nimmt keine
       Patienten mehr auf. Deshalb hat er sich vorerst entschieden, zu bleiben:
       „Ich kann nirgendwo hin – und ich will weiter behandelt werden.“
       
       Er sei von einer Artilleriegranate verletzt worden, sagt er. Als er vor
       einigen Tagen in das Krankenhaus kam, erzählt er, sei er noch behandelt
       worden. Seit Sonntagabend nicht mehr. Der Mediziner, der ihn betreut hatte,
       habe sich aus dem Spital evakuiert. „Es gibt kaum noch Ärzte hier.“
       
       Jamal Salha ist noch kein Arzt. Vor dem 7. Oktober, dem Kriegsbeginn, war
       er Medizinstudent. Doch seit vergangenen Oktober sind die Universitäten in
       Gaza zerstört oder geschlossen. Als Freiwilliger versucht er zu helfen.
       Salha sieht müde aus, die lockigen dunklen Haare sind zerzaust. Die meisten
       Ärzte, sagt auch er, seien geflohen. Auf der neurologischen Station, in der
       er vor der Evakuierung arbeitete, haben auch die meisten Pflegerinnen und
       Pfleger den Dienst quittiert. Auch die anderen Stationen, etwa die
       Radiologie, erzählt er, seien kaum mehr besetzt. „Ich bin alleine heute“,
       sagt er. Er versuche nun auch die Station für interne Medizin
       mitzubetreuen. „Das ist nicht mein Gebiet, aber es gibt sonst keine anderen
       Ärzte mehr.“ Im Laufe des Tages seien einige Patientinnen und Patienten auf
       dieser Station angekommen.
       
       „Ich habe den Familien immer wieder gesagt: Bitte vergebt mir, ich weiß
       nicht, wie ich helfen soll“, sagt er. Allein am Montag sei zum Beispiel
       mindestens ein Patient mit einem Schlaganfall eingeliefert worden, außerdem
       ein Mann, der an einer Sepsis leidet. Dabei vergiften Bakterien das Blut,
       Betroffene müssen schnell behandelt werden, sonst ist das Risiko, an einer
       Sepsis zu sterben, hoch. Er habe die Patienten aufgenommen, sagt Salha.
       
       Doch die meisten Fälle könnten derzeit nicht behandelt werden, sagt er:
       „Mir fehlt die Erfahrung. Ich kann diagnostizieren, was den Menschen fehlt.
       Und dann?“ Er könne ihnen zwar ein Medikament verschreiben. Denn die
       Apotheke nahe dem Krankenhaus sei bisher noch geöffnet. Doch vor allem in
       komplizierteren Fällen, etwa bei Patienten mit hohem Blutdruck, die noch
       andere Medikamente einnehmen, komme er an seine Grenzen: „Sie brauchen
       einen richtigen Arzt für eine akkurate Verschreibung“. Dem Patienten, der
       mit einer Sepsis eingeliefert wurde, habe er kaum helfen können: „Ich weiß
       nicht, wie das Krankenhaus sie normalerweise behandelt“.
       
       Neben fehlender ärztlicher Expertise mangele es dem Spital außerdem an
       Equipment – schon vor der Evakuierung. Al Jabry, der medizinische
       Koordinator des Krankenhauses, sagt: Selbst die absolut notwendige
       Ausrüstung gehe langsam zu Ende. Es fehle sogar an Kitteln, die die Ärzte
       für Operationen tragen können.
       
       Davon berichtet auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen. Schon Ende Juni
       erklärte sie, dass es ihren Teams in Gaza an Essenziellem fehle. Seitdem
       der Grenzübergang zu Ägypten in Rafah Ende Mai geschlossen wurde, sei der
       Import von humanitären Hilfsgütern, und damit auch medizinischer Ausrüstung
       und Medikamenten, weiter gesunken. Teams der internationalen
       Hilfsorganisation waren bisher auch im Al-Aksa-Märtyrer-Spital sowie dem
       Nasser-Krankenhaus aktiv. Als ihnen die sterilen Kompressen ausgingen, habe
       man begonnen, die Verbände der Patientinnen und Patienten seltener zu
       wechseln – auch wenn dabei das Risiko, dass sich eine Wunde entzünden kann,
       steigt.
       
       Durch den Mangel an Equipment, und auch an medizinischem Personal, sagt Al
       Jabry, sei man etwa nicht mehr in der Lage, Patientinnen und Patienten an
       der Wirbelsäule zu operieren. „Wir arbeiten mit dem, was wir haben“, sagt
       er. „Und versuchen, es trotzdem zu schaffen.“
       
       Die medizinische Versorgungslage in Gaza ist im Allgemeinen desolat. Die
       Evakuierung des Al-Aksa-Märtyrer-Spitals verschlimmert sie in Zentralgaza
       noch weiter.
       
       Als nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober kurz darauf die
       ersten Luftschläge auf Gaza begannen, erreichten bald auch die ersten
       Evakuierungsaufforderungen des israelischen Militärs die Bevölkerung. Vor
       allem Ballungszentren waren und sind betroffen – in der sich auch die
       meisten Krankenhäuser und weitere medizinische Versorgungseinheiten
       befinden. Nicht nur für Menschen, die im Krieg verletzt werden oder die
       sonst akut erkrankt sind, ist das ein Problem. Auch eine Basisversorgung,
       etwa Impfungen, finden kaum mehr statt.
       
       So wurden bereits im Frühsommer die ersten [1][Polioviren im Abwasser] des
       Gazastreifens nachgewisen, und jüngst wurde das Poliovirus bei einem zehn
       Monate alten, ungeimpften Säugling dokumentiert. Es ist der erste Fall in
       Gaza seit 25 Jahren, die Kinderlähmung galt dort eigentlich als besiegt.
       Und während Israel betont, dass etwa 95 Prozent der Bevölkerung Gazas gegen
       Polio immunisiert seien, liegt diese Zahl laut der WHO mittlerweile
       deutlich niedriger. Nur noch 86 Prozent seien noch vollständig geschützt.
       
       Zwar wurden am Sonntag nach Angaben des israelischen Militärs Impfdosen für
       über eine Million Menschen nach Gaza geliefert – doch wie schnell diese
       verteilt werden können, ist unklar. Mit dem jüngsten Fortschreiten der
       israelischen Militärkampagne Richtung Deir al-Balah, und damit tiefer
       hinein in ein bisher als humanitäre Zone ausgewiesenes Gebiet, sinken auch
       die Chancen, dass diese zeitnah die Zivilbevölkerung erreichen. Im
       Al-Aksa-Märtyrer-Spital wird etwa in naher Zukunft kaum geimpft werden
       können.
       
       Al Jabry und der freiwillige Helfer Salha rechnen damit, das Spital
       womöglich verlassen zu müssen. „Bisher gab es keine direkte Drohung gegen
       das Krankenhaus“, sagt Salha. Doch sein Leben riskieren wolle er nicht. Je
       nachdem wie die Situation sich entwickle, und wenn es einen sicheren
       Korridor gebe, dann, sagt er, sei er bereit zu gehen.
       
       27 Aug 2024
       
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