# taz.de -- Russischer Angriffskrieg gegen Ukraine: Auf der anderen Seite
       
       > Im russischen Kursk heulen seit dem Vormarsch der ukrainischen Armee die
       > Sirenen im Stundentakt. Über eine Stadt, die nicht weiß, wie ihr
       > geschieht:
       
 (IMG) Bild: Geflüchtete aus dem Gebiet Kursk registieren sich in der gleichnamigen Stadt, um humanitäre Hilfe zu bekommen
       
       Kursk taz | Hierher kommen sie jeden Abend, setzen sich auf die schwarzen
       Stühle vor den Eingang des hellen Klinkerbaus. Ljubow und Jelena lehnen
       sich zurück und lachen manchmal so laut, dass ihre Goldzähne aufblitzen.
       „Hier draußen muntern wir uns gegenseitig auf“, sagt die 69-jährige Jelena.
       „Sobald ich wieder im Zimmer bin, kommt die Trauer. Die Erinnerung an die
       Einschläge, an die Flucht, die zurückgelassenen Tiere.“ Ljubow blickt zu
       Boden. „Ich kann kaum schlafen, höre die Drohnen, zucke bei jeder Sirene
       zusammen“, sagt die 68-Jährige.
       
       Ljubow und Jelena aus Sudscha, nur neun Kilometer von der ukrainischen
       Grenze entfernt, sind Flüchtlinge. Im eigenen Land. Im Studentenwohnheim
       der Agraruniversität in Kursk haben sie einen Platz bekommen. Es gibt
       dreimal täglich zu essen, sie haben ein Dach über dem Kopf. „Hier schenkt
       man uns genug Aufmerksamkeit. Aber zu Hause hat sich unser Staat einen
       Dreck um uns gekümmert. Wir wurden einfach tagelang unserem Schicksal
       überlassen“, klagt Ljubow und macht sich Sorgen: „Das neue Semester fängt
       bald an. Wo bringt man uns hin, wenn die Studenten ihre Zimmer beziehen?
       Das sagt uns keiner.“
       
       Die Rentnerinnen sind – wie alle Geflüchteten und Getöteten – Opfer eines
       Kriegs, den Wladimir Putin mit der Ausrufung seiner „militärischen
       Spezialoperation“ am 24. Februar 2022 der Ukraine erklärt hat. Ihr
       Präsident, den sie loben, schätzen, nichts auf ihn kommen lassen. Seit zehn
       Tagen [1][erobert die Ukraine nun russisches Territorium]. Sie rückt mit
       der regulären Armee in der Region Kursk Ort um Ort vor, zerbombt Häuser,
       zerschießt Autos, tötet Menschen. Sie tut das, was die russische Armee seit
       zweieinhalb Jahren mit aller Härte dem Nachbarland zufügt und als
       „Befreiung“ bezeichnet.
       
       Mehr als 140.000 Russ*innen aus dem Grenzgebiet sind auf der Flucht. Die
       meisten von ihnen finden in der Regionalhauptstadt Kursk – sieben
       Autostunden südöstlich von Moskau, etwa 430.000 Einwohner*innen –
       Unterschlupf. Täglich werden weitere russische Gebiete zur Evakuierung
       aufgefordert. „Standortwechsel an sicherere Orte“, nennt das der Kreml. Der
       Krieg ist längst auf russischem Gebiet.
       
       ## Mehr Macht
       
       Von „Krieg“ aber spricht in Kursk kaum einer. Der Staat nennt „die Lage“,
       wie auch [2][in der benachbarten Grenzregion Belgorod,] schlicht „eine
       Ausnahmesituation föderalen Charakters“ und hat auf dem gesamten Gebiet
       eine „Antiterroroperation“ ausgerufen. Dadurch erhalten die Geheimdienste
       mehr Macht. Journalist*innen brauchen eine Spezialgenehmigung, um in
       die Region zu reisen.
       
       An den Zufahrten ins Gebiet und in die Stadt werden zuweilen Autos zur
       Kontrolle herausgewunken, in Kursk patrouillieren Polizisten und
       Nationalgardisten in voller Montur. Was die „Ausnahmesituation“ für die
       Menschen bedeutet, begreift selbst das lokale Regierungspersonal kaum.
       „Stündlich ändern sich hier die Regelungen. Wir nehmen es, wie es kommt“,
       sagt einer aus der Gebietsverwaltung.
       
       Kursk gibt sich entspannt. Die Menschen sitzen in der Sonne, beim fast
       schon stündlichen Sirenengeheul halten lediglich Busse an, die Passagiere
       gehen weiter ihrer Wege. „Warum sollte ich mir Sorgen machen? Die Kämpfe
       finden ja nicht hier statt. Und die Sirenen, nun ja, die hören wir schon
       lange“, sagt eine Apothekerin im Zentrum.
       
       Unweit davon stehen Männer, Frauen und Kinder Schlange. Die Regionalstelle
       des russischen Roten Kreuzes hat hier einen Ausgabepunkt für humanitäre
       Hilfe eingerichtet. „Die Ersten, die kamen, hatten nichts. Sie fragten
       einfach nach Socken und Unterhosen“, erzählt Anastasia Ostalzewa, die
       stellvertretende Leiterin. Die Bedürftigen müssen sich online registrieren
       und bekommen später Konserven, Zucker, Buchweizen, Reis, Tee, Kekse,
       Klopapier, Shampoo, Zahnpasta ausgehändigt. An der Bushaltestelle direkt
       davor ist kein Durchkommen.
       
       ## Flucht im Schiguli
       
       „Oma, schau, ich habe was für dich, das wird dir stehen“, ruft ein Mädchen
       und zeigt seiner Großmutter eine rötliche Bluse, die an einer Stange hängt.
       Die Großmutter reagiert schroff: „Ich brauche das alles nicht. Ich will
       einfach nur nach Hause.“ Alle hier wollen das. Wollen in ihre Häuser
       zurück, zu ihren Hunden, Schweinen, Kühen. Wollen auf ihre Höfe. „So
       schnell kommen wir aber nicht mehr dorthin“, sagt Alexander.
       
       Am Tag fünf des ukrainischen Vorstoßes war er in seinem Schiguli – „über
       die Felder von den Drohnen davon“ – aus Sudscha geflüchtet. „Ich wäre
       geblieben, aber die Kinder …“ Nun sitzen der Neunjährige und die 13-Jährige
       in einer Kursker Wohnung und sind genauso ratlos wie die eigenen Eltern.
       „Ich habe kaum Hoffnung. Das hier ist für lange“, sagt Alexander, vier
       Essenspakete und die Medikamententüte für die Schwiegermutter in der Hand.
       Auf seinem roten T-Shirt steht „SSSR“, die russische Abkürzung für die
       Sowjetunion.
       
       Viele in der Stadt helfen. Lebensmittelläden geben Essenspakete heraus,
       Mitglieder von Boxklubs und Kunstschulen packen etwas für die
       Erstversorgung zusammen. Schnell bilden sich Schlangen vor den
       Ausgabestellen. Vor dem „Häuschen der Wohltaten“ in der zentrumsnahen
       Belinski-Straße dürften sie am längsten sein. Die Ersten stellen sich hier
       bereits um 5 Uhr morgens an. Die Letzten stehen auch weit nach Anbruch der
       Dunkelheit noch dort.
       
       „Für ein Kind, vier Jahre alt, schnell ein Paket her. Das habe ich doch
       schon vor 20 Minuten weitergegeben, Mann ey!“, schreit eine Freiwillige und
       übergibt einer Frau und einem Mann eine Matratze und zwei Kissen. „Ich
       warte auf das Kinderpaket!“, drängt sie ihren Mithelfer.
       
       ## Gurken und Babywindeln
       
       Der Hof ist voller Tüten und Kartons, draußen an den Tischen sitzen die
       Freiwilligen in leuchtenden Westen und schreiben Passdaten ab. Jemand
       schubst, ein anderer schreit. Die Helfer*innen reichen Suppe, verteilen
       Wasser. Immer wieder halten Autos vor dem „Häuschen“ an, machen die
       Kofferräume auf und holen einmal Gurken, einmal Klopapier, einmal
       Babywindeln heraus. „Swetlana, wohin damit?“
       
       Swetlana Kosina kann ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Die
       Überforderung. „Ich schlafe höchstens zwei Stunden, habe angefangen zu
       rauchen, mein Zweijähriger musste vor ein paar Tagen seinen Geburtstag ohne
       mich feiern“, sagt die Leiterin des „Häuschens“ in einer kurzen Pause auf
       einer Bank weiter weg von den Massen.
       
       Vor neun Jahren hatte die 34-Jährige eine Art Suppenküche für Obdachlose in
       Kursk gegründet. Als die [3][Kämpfe um Sudscha] begannen, fuhr sie hin,
       brachte Leute heraus. „Sie hatten nichts, und wir hier hatten ein paar
       Kleider, etwas zu essen.“ Das sprach sich schnell herum. Nun stehen täglich
       bis zu 3.000 Familien in der Belinski-Straße an. „Niemand hat uns gehört,
       als wir sagten, dass so etwas passieren kann. Nun ist es passiert. Aber
       unsere Jungs, sie werden uns retten.“
       
       „Unsere Jungs“, das ist die russische Armee, auf die setzt in Russland
       nicht nur in Kursk nahezu jeder. „Wird schon, müssen nur ein bisschen
       warten“, sagt Nikolai vor der Ausgabestelle des Roten Kreuzes und klingt
       sogleich wie eine Abendsendung im russischen Staats-TV. Die „Biolabore der
       Nato“, „Selenskyj, der Clown“, „wir haben alles unter Kontrolle“, aus
       Nikolai stürzt es nur so heraus.
       
       ## Voller Trotz
       
       „Diese Nazis, diese ukrainischen Banditen sollte man alle niedermetzeln.
       Haben wir sie etwa besetzt? Nein! Uns geht es um Menschen. Aber ihnen geht
       es um die Vernichtung unseres Volks, unseres Russlands. Wir haben
       allerdings einen klugen, verständnisvollen Präsidenten. Er wird das alles
       in Ordnung bringen“, ereifert sich der Rentner. „Wir werden siegen!“ Es ist
       ein Satz, den viele Geflüchtete in Kursk wiederholen. Sie klingen dabei wie
       voller Trotz, als bräuchten sie diese Worte, um sich selbst zu beruhigen.
       
       „Wir leben im freiesten Land der Welt mit dem besten Präsidenten der Welt.
       Wir werden darauf warten, dass er uns rettet, er wird uns nie im Stich
       lassen“, sagt Ljudmila im Übergangswohnheim an der Agraruniversität. Zwei
       Betten stehen in ihrem Zimmer, Insulin liegt auf dem Nachttischchen. Als
       die 66-Jährige mit ihrem kranken Sohn vor den Raketen über Sudscha aus dem
       Keller ihres Hauses floh, blieb keine Zeit mehr, etwas mitzunehmen.
       
       „Wir waren ganz auf uns gestellt.“ Wo war der rettende Staat? Ljudmila
       bleibt stumm. „Schauen Sie doch, wie friedfertig unser Präsident ist! Nun
       sehen Sie doch!“ Den Gedanken, dass sie ohne die „Spezialoperation“ nicht
       hier säße, will sie gar nicht erst zulassen. Ihr Leid habe „die Welt zu
       verantworten, die sich gegen Russland bewaffnet“ habe.
       
       „Wir stehen voll hinter unseren Jungs, sie tun eine gerechte Sache“, sagt
       auch Larissa am „Häuschen der Wohltaten“. Eine Matratze brauche sie, auf
       dem Fußboden der Verwandten in Kursk sei es zu hart. „Warum müssen wir
       jetzt in diesem Albtraum leben? Es sind Bestien, die da über uns
       hergefallen sind.“
       
       Ihr Mann, das Käppi mit einem [4][Z in russischer Trikolore] tief ins
       Gesicht gezogen, brüllt vom „Genozid am russischen Volk“. – „Sei still,
       Wolodja“, zischt Larissa ihn an. – „Wir werden siegen, wir werden in
       wenigen Tagen zu Hause sein“, ruft er. Larissa schüttelt den Kopf. „Unser
       Zuhause haben wir wohl für immer verloren.“ Über Kursk heulen die Sirenen
       wieder auf.
       
       16 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Ukrainischer-Vormarsch-auf-Russland/!6025554
 (DIR) [2] /Vormarsch-auf-Gebiet-Kursk/!6030448
 (DIR) [3] /Ukrainischer-Einmarsch-in-Russland/!6026597
 (DIR) [4] /Saechsisches-Gericht-und-Propaganda/!5861796
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Inna Hartwich
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Russland
 (DIR) Kursk
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) GNS
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Moskau
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Russland
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Russland
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Russlands Angriffskrieg in der Ukraine: „Wir sind nur kleine Leute“
       
       In dem unscheinbaren russischen Dorf Diktatura hat die Sowjetunion allerlei
       Ruinen hinterlassen. Doch verschwunden ist die Diktatur hier nie. Ein
       Ortsbesuch.
       
 (DIR) Tiere im Krieg: Ziegenzucht im Binnenexil
       
       Der Ziegenhof der Ukrainerin Olena Bilosorenko wurde im Krieg zerstört. Die
       Tiere überlebten. Andernorts hat sie ihn neu aufgebaut – samt Käserei.
       
 (DIR) Leben in Russland: Schöne Scheinwelt
       
       Die Zukunftsausstellung „Moskau 2030“ feiert die russische Hauptstadt. Der
       Kreml versucht, vom Krieg abzulenken – mit Erfolg.
       
 (DIR) Putin zur Kriegslage: „Hauptziel“ Donbass
       
       Beim Wirtschaftsforum in Wladiwostok zeigt sich Russlands Präsident
       optimistisch. Den US-Wahlen begegnet er mit antisemitischer
       Verschwörungsideologie.
       
 (DIR) +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Kyjiw weitet Kontrolle in Kursk aus
       
       Die strategisch wichtige Stadt Pokrowsk im ostukrainischen Donbass wird
       evakuiert. Moskau verhängt derweil weitere Sanktionen gegen US-Bürger.
       
 (DIR) Pressefreiheit im Frontgebiet: Russland gegen italienischen Sender
       
       In zwei recht unterschiedlichen Fällen passt dem Moskauer Außenministerium
       nicht, wie italienische Reporter:innen aus Kursk berichten.
       
 (DIR) Krieg in der Ukraine und Russland: Verheizt im Kampf für die Heimat
       
       Die russische Armee schickt bewusst junge, unerfahrene Wehrdienstleistende
       ins Kampfgebiet bei Kursk. Mütter der Rekruten schlagen Alarm.
       
 (DIR) West-Raketen gegen Russland: Selenskyj fordert „mutige Schritte“
       
       Kyjiw umschmeichelt die Briten, um den Druck auf die USA zu verstärken: Die
       Beschränkungen für den Einsatz westlicher Raketen sollen fallen.
       
 (DIR) +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Raketenangriff auf Kyjiw
       
       Das ukrainische Militär meldet Raketenangriffe auf ihre Hauptstadt. Die
       internationale Atomenergiebehörde warnt vor Kampfhandlungen in Nähe des
       AKWs in Saporischschja.
       
 (DIR) +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Ukrainische Jets über Region Kursk
       
       Die Luftwaffe will eine wichtige Autobrücke auf russischem Gebiet zerstört
       haben. Moskau bezichtigt die Ukraine, das AKW Kursk angreifen zu wollen.
       
 (DIR) Krieg zwischen Russland und Ukraine: Wunsch nach Waffen ohne Auflage
       
       Der Vormarsch im Gebiet Kursk ist derzeit noch ein Erfolg für die
       ukrainische Armee. Präsident Selenskyj fordert westliche Waffen ohne
       Beschränkungen.
       
 (DIR) Russland nach der Offensive in Kursk: War was?
       
       Putin spielt den ukrainischen Vorstoß in der Region Kursk herunter. Und
       auch die meisten Russ*innen zeigen sich gleichgültig.
       
 (DIR) Ukrainischer Vorstoß in Kursk: Selenskyjs Durchhalteparole
       
       Trotz schwieriger Situation im Donbass ist die ukrainische Armee in
       russisches Gebiet vorgedrungen. Der Überraschungserfolg ist vor allem ein
       Signal nach innen.