# taz.de -- Comiczeichner Sfar über Lage der Juden: „Heute ist es komplizierter“
       
       > Der Zeichner Joann Sfar setzt mit „Der Götzendiener“ seine Autobiografie
       > fort. Er spricht über seine Familie und die Lage der Juden in Frankreich.
       
 (IMG) Bild: Sucht beim Zeichnen nach Antworten: Joann Sfar
       
       Seit dem Tod von Asterix-Schöpfer René Goscinny 1977 klafft eine Lücke im
       französischen Comicbetrieb. Der in eine jüdische Familie geborene Szenarist
       war ein kreativer Geist, der jahrzehntelang Maßstäbe setzte als Schöpfer
       humorvoller wie geschichtsträchtiger Comics voller Esprit. Der 1971 in
       Nizza geborene Joann Sfar, ebenfalls jüdisch, tritt gewissermaßen in
       Goscinnys Fußstapfen: Seit den 1990er Jahren prägt er die französische
       Comicszene als Autor und Zeichner, sein Œuvre ist umfangreich und
       vielfältig, umfasst populäre und zugleich anspruchsvolle Comicserien wie
       „Die Katze des Rabbiners“ ebenso wie Skizzenbücher, Romane oder
       [1][Spielfilme („Gainsbourg“)]. Gerade ist nach [2][„Die Synagoge“ (Avant
       Verlag 2023)] der zweite Teil seiner gezeichneten Autobiografie erschienen,
       „Der Götzendiener“. Und eine Ausstellung im Erlangener Stadtmuseum würdigt
       sein Gesamtwerk mit einer umfangreichen Schau. Immer wieder thematisiert
       Sfar in seinen Werken seine jüdische Identität und die jüdische Kultur im
       Allgemeinen.
       
       taz: Herr Sfar, in Ihrem Werk reflektieren Sie viele Aspekte der jüdischen
       Geschichte. „Die kleine Welt des Golem“, „Klezmer“, „Chagall in Russland“
       sind beispielhafte Titel. Ihr zentrales Werk ist die Serie „Die Katze des
       Rabbiners“, deren erster Band 2002 erschien. 
       
       Joann Sfar: Ich wusste damals nicht, ob der Comic ein Erfolg werden würde.
       Meine Großmutter algerischer Herkunft war gerade gestorben, mein erstes
       Kind geboren, und ich wollte etwas über meine Familie erzählen. Sie geht
       zur Hälfte auf ukrainische Juden und zur Hälfte auf algerisch-jüdische
       Wurzeln zurück. Die maghrebinische Familiengeschichte meines Vaters
       interessierte mich besonders und die Erzählungen meiner Großmutter flossen
       in die Geschichte ein.
       
       taz: „Die Katze …“ hat in Frankreich eine Auflage von mehr als 2 Millionen
       erreicht. Wie schaffen Sie es, so viele Menschen für die jüdische Kultur im
       Algerien der 1920er Jahre zu interessieren?
       
       Sfar: Es ist nicht nur das jüdische Thema. Es enthält auch die französische
       Erinnerung an ihre Kolonien in Nordafrika. Viele Franzosen haben Bezüge
       dazu, und der Algerienkrieg spielt eine große Rolle im kollektiven
       Gedächtnis. Nach dem 11. September gab es ein Aufflammen der Konflikte, der
       sogenannte „Clash of Civilizations“ wurde proklamiert. Dabei lebten Juden
       wie Araber und katholische Christen in Algerien früher lange friedlich
       zusammen. Doch ich möchte das Thema auch nicht naiv behandeln, das alte,
       kolonialisierte Algerien war kein Paradies. Aber es ist eine gemeinsame
       Vergangenheit, auf der man aufbauen kann.
       
       taz: „Die Katze des Rabbiners“ lebt auch von seinen skurrilen Figuren, dem
       Rabbi und der philosophischen Katze, die einen Papagei verschluckt hat.
       
       Sfar: Richtig. Zum Erfolg von „Die Katze des Rabbiners“ trug sicher auch
       bei, dass französische Leser den leichten, humorvollen Ton dieser
       Erinnerungsgeschichte schätzen, denn sie wollen beim Orient nicht nur an
       Konflikte und Kriege denken. Ich hoffe, dass meine vom Judentum handelnden
       Comics die Beziehungen auflockern können und eine Brücke bauen zwischen den
       Communitys. „Die Katze“ ist mittlerweile in 36 Ländern erschienen und in 22
       Sprachen übersetzt worden und dadurch schon meine eigene Antwort auf
       Fanatismus und Hass. Es ist nun nicht mehr „mein“ Buch, es hat sich
       verwandelt, die Leser haben es zu ihrem gemacht.
       
       taz: In Ihren beiden neuesten Graphic Novels, „Die Synagoge“ und „Der
       Götzendiener“, blicken Sie autobiografisch auf die eigene Kindheit und
       Jugend zurück.
       
       Sfar: In „Die Synagoge“ erzähle ich von meiner Kindheit in Nizza mit meinem
       Vater, der mich immer in die Synagoge mitschleppte. Für mich war das ein
       „Historiendrama“, denn die 80er in Südfrankreich, das ist heute eine
       vergangene Epoche. So wie ich es mag, das Algerien der 20er Jahre zu
       zeichnen, das ich nie erlebt habe, zeichne ich ebenso gerne die Stadt
       Nizza, von der ich jede Straße kenne. In der Geschichte gibt es jede Menge
       kleiner Abenteuer, Gewalt, Liebe, alles ist dabei. Diese ferne Erinnerung
       zu zeichnen, hat mir sehr viel Spaß gemacht.
       
       taz: Planen Sie eine längere Autobiografie? 
       
       Sfar: Die zwei Teile sind abgeschlossen. Der zweite, „Der Götzendiener“,
       handelt von meiner Mutter. Sie starb, kurz bevor ich vier Jahre wurde.
       Meine Entwicklung zum Comiczeichner setzt in genau diesem Moment ein. Ich
       spürte solch eine Leere, das ich sie mit dem Zeichnen füllen musste. Ich
       suchte Antworten. Das Zeichnen beinhaltete auch eine Form der
       Spiritualität, die mich in gewisser Weise vor der Religion „schützte“. Ich
       komme aus einer sehr fürsorglichen jüdischen Familie, die aber auch
       „überwachende“ Züge hatte. Ich liebe diese Religion, habe sie aber nie
       ernst genommen.
       
       taz: „Der Götzendiener“ handelt davon, wie ein junger Jude zum Künstler
       wird, obwohl im Judentum bildliche Darstellungen abgelehnt werden.
       
       Sfar: Es geht nicht um das „Wie zeichne ich?“, sondern das „Warum?“ Warum
       ist aus mir ein Comiczeichner geworden, der 8 oder 10 Stunden am Tag
       zeichnet? Das ist eine Frage, die ich einerseits auf analytische Weise
       versuche zu erörtern, und andererseits auf spiritueller Ebene. Im Grunde
       ist die Inspiration nicht göttlichen oder magischen Ursprungs, sondern ist
       von anderen Menschen initiiert. Du beobachtest sie, du zeichnest sie. Und
       irgendwas bewirkt, dass sie wertvoll werden. Auch für Gags, Witze,
       Lächerliches. Man kreiert mit einem Bild immer etwas Empathisches. Wenn du
       anfängst, Menschen zu zeichnen, beginnst du, sie zu lieben.
       
       taz: Mit der bisher nur auf Französisch vorliegenden Veröffentlichung Ihres
       Reportage-Sketchbooks „Nous vivrons“ („Wir werden leben“) zum 7. Oktober
       2023 reagieren Sie auf den aktuellen Terror der Hamas und den Gazakrieg. 
       
       Sfar: Diese gezeichnete Reportage habe ich nach dem Massaker vom 7. Oktober
       2023 begonnen. Die erste Hälfte der zirka 450 Seiten handelt von der
       Furcht, mit der französische Juden heute leben. Ich habe in letzter Zeit
       viel Stefan Zweig gelesen. Das Buch ist eine Art Hommage an seine Ängste
       während des Zweiten Weltkriegs, die Unsicherheit, wie man als Jude
       überleben kann. Und dann bin ich nach Israel gereist, wo die Familie meines
       Vaters lebt, ich habe mit vielen Menschen gesprochen, auch Palästinensern.
       Ich wollte zurückkommen mit einem Zeugnis des wirklichen Lebens dort, um
       auch selbst etwas Hoffnung zu schöpfen. Die Reise und das Buch waren für
       mich eine Form der Heilung.
       
       taz: Wie wurde das Buch bisher aufgenommen? 
       
       Sfar: Glücklicherweise wurde es in Frankreich beachtet und hat seine
       Leserschaft gefunden. Das liegt möglicherweise daran, dass es zum Dialog
       aufruft. Ein positiver Aspekt ist, dass die Graphic Novel heute auch in
       Deutschland Anerkennung findet als eine Form der Literatur, es kann
       journalistische oder historische Arbeit leisten. Als ich anfing, Comics zu
       zeichnen, verstand man unter Comics nur lustige Sachen. Ich mag diese
       ebenso, aber heute sind die Möglichkeiten vielfältiger, das ist großartig.
       
       taz: Wie sehr belastet der aktuelle Gazakrieg das Leben in Frankreich? 
       
       Sfar: Da ist eine große Veränderung passiert. Ich bin ein Jude mit linker
       politischer Gesinnung und setze mich seit 30 Jahren für Palästina ein. Als
       ich nach Paris zog, wurde ich Teil einer propalästinensischen Community mit
       rund 30 weiteren Juden zusammen, die familiäre Bindungen in den Nahen Osten
       hatten. Wir waren sehr an der Region interessiert und wollten, dass alle in
       Frieden dort leben konnten. Damals haben sich palästinensische und
       israelisch-jüdische Intellektuelle miteinander offen austauschen können.
       Heute ist es komplizierter, die Gewalt gegenüber Juden stieg in Frankreich
       um etwa 1.000 Prozent an, etwas ist außer Kontrolle geraten. Juden machen
       rund 6 Prozent der Bevölkerung aus, und für mich als jemand, der den Dialog
       sucht, ist es schwierig angesichts der massiven propalästinensischen
       Demonstrationen und Manifestationen. Ich bin an Universitäten gewesen, um
       mit Studierenden darüber zu diskutieren. Es sind oft sehr nette Leute, aber
       die meisten haben weder eine persönliche Verbindung zu Palästinensern noch
       zu Israelis. Sie wollen alle Frieden und das Ende des Krieges. Sie haben
       aber weder das Wissen noch eine Verbindung zum Nahen Osten, um einen
       nützlichen Diskurs anstoßen zu können. Wir hören hier leider sehr wenig
       palästinensische oder israelische Stimmen, die zum Frieden aufrufen.
       
       taz: Wie reagiert die Politik? 
       
       Sfar: In Frankreich gibt es eine sehr ernst zu nehmende Entwicklung. Wir
       haben eine extreme Rechte, die immer stärker wird, und eine vermeintlich
       extreme Linke, die ebenfalls gegen Minderheiten hetzt. Und ich habe den
       Eindruck, es fehlen politische Führer, die mit den Jugendlichen wirklich
       sprechen können. Wir verlieren die Jugend an Tiktok und ihre „Teacher of
       Bitterness“.
       
       taz: Welche Hoffnung haben Sie? 
       
       Sfar: Mein Gefühl ist, dass es eine große, stille Mehrheit gibt,
       vernünftige, wunderbare Menschen, die erreicht werden müssen. Wir müssen
       zurück zum demokratischen Dialog kommen. Der Respekt füreinander geht
       schnell verloren in Frankreich, deshalb müssen öffentliche Diskussionen
       angestoßen werden.
       
       17 Aug 2024
       
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