# taz.de -- Obdachlose Frauen: Flucht vor Gewalt auf die Straße
       
       > Durch den Mangel an Wohnraum sind Frauen*häuser überbelegt. Für von
       > Gewalt betroffene Flinta bedeutet das oft: Obdachlosigkeit oder Zurück
       > zum Täter.
       
 (IMG) Bild: Obdachlosigkeit ins Licht rücken: Das ist das Ziel des Berliner Kulturfestivals Hinschauen Ende August
       
       Berlin taz | In einem kleinen Büro in Neukölln sitzt Selina Hoefner vor
       ihrem Bildschirm, den Hörer am Ohr. „Leider werden wir so schnell keine
       Wohnung finden,“ sagt sie der Person am Telefon. Sie legt auf und fährt
       sich nachdenklich durchs Haar. Hoefner arbeitet für den gemeinnützigen
       Verein asap, der gewaltbetroffene Flinta* (Frauen, Lesben, intersexuelle,
       nicht-binäre, trans und agender Personen) unterstützt, die von akuter
       Wohnungslosigkeit betroffen oder bedroht sind.
       
       Der Name „asap“ steht für „abusive structures aren’t private“ und soll auf
       die strukturelle Komponente häuslicher Gewalt aufmerksam machen. „Die
       Wohnraumversorgung für gewaltbetroffene Flinta* ist von einem Nischenthema
       zu einem zentralen Punkt im Antigewalt-Bereich geworden,“ sagt Hoefner.
       Seit der Gründung des Vereins vor drei Jahren erhält er immer mehr Anfragen
       von Flinta*, die Unterstützung benötigen.
       
       Die sieben Gründerinnen von asap haben zuvor beim Projekt
       „Wohnungsvermittlung für Frauen* aus Gewaltsituationen“ aus den 1990er
       Jahren gearbeitet. Waren es dort 2015 noch weniger als 100 Anfragen im
       Jahr, so sind es jetzt um die 600.
       
       Wenn Betroffene einer Gewaltbeziehung entfliehen möchten, gibt es
       verschiedene Möglichkeiten, in Schutzräumen Zuflucht zu suchen. Der
       Kontaktaufbau geschieht oft unter schwierigen Umständen und muss vor dem
       Täter geheim gehalten werden. Hat eine Betroffene einen Platz in einem
       Frauen*haus oder einer sicheren Zufluchtswohnung gefunden, ist der
       nächste Schritt, eine längerfristige Bleibe zu finden.
       
       ## Keine Wohnungen für schutzsuchende Frauen
       
       Und genau da liegt das Problem: „Es gibt einfach keine Wohnungen mehr, die
       wir schutzbedürftigen Flinta* vermitteln können,“ sagt Hoefner. Durch den
       Mangel an bezahlbarem Wohnraum sind [1][Frauen*häuser seit Jahren
       überbelegt] und alle Zufluchtswohnungen besetzt.
       
       Teilweise kommen die Betroffenen für kurze Zeit bei Freund*innen unter.
       Oft haben sie auch ihre Kinder dabei und leben in dieser Zeit sehr prekär.
       „Wohnungslosigkeit bei Frauen* unterscheidet sich wesentlich von der
       männlichen,“ erklärt Hoefner.
       
       Wohnungslose Frauen* versuchen oft, ihre Notlage zu kaschieren und ertragen
       lange Zeit sehr viel, bevor sie sich Hilfe suchen. Nicht selten sind sie
       gezwungen, auf sogenannte ASOG-Unterkünfte, also bezirkseigene Not- und
       Gemeinschaftsunterkünfte auszuweichen.
       
       Dort sind sie dann gezwungen, sich die Räume mit Männern zu teilen. Oft
       gibt es keine separaten Schutzräume und das Personal ist nicht für das
       Thema sensibilisiert. Das betrifft besonders trans*, inter* und
       nicht-binäre Personen. In gemischtgeschlechtlichen Notunterkünften fühlen
       sich viele unsicher, was die ohnehin schon schwierige Situation noch
       verschärft. Nicht wenige gehen nach schlechten Erfahrungen in den
       Unterkünften zurück auf die Straße.
       
       ## Istanbul-Konvention nicht umgesetzt
       
       Die [2][Istanbul-Konvention] sieht den Schutz und die bedarfsgerechte
       Unterstützung aller gewaltbetroffenen Frauen* vor – flächendeckend und
       kostenfrei. Die Konvention ist ein völkerrechtliches Übereinkommen, das
       Deutschland 2018 unterschrieben hat. Doch die Realität sieht anders aus.
       Bisher fehlt es an einer politischen Gesamtstrategie zur Bekämpfung von
       Gewalt gegen Flinta*.
       
       Zum einen fehlen ausreichend Plätze in Frauen*häusern. Die
       Istanbul-Konvention schreibt 2,5 Schutzplätze für Frauen und deren Kinder
       pro 10.000 Einwohner*innen vor. Für Berlin wären das rund 920
       Schutzplätze. In den acht Frauenhäusern in der Hauptstadt gibt es insgesamt
       jedoch nur 462 Plätze – also gerade einmal die Hälfte.
       
       Zum anderen mangelt es an niedrigschwelligen und der Lebenslage angepassten
       Angeboten. Gerade Betroffenen mit Sprachbarrieren und unsicherem
       Aufenthaltsstatus fehlt ein einfacher Zugang zum Hilfesystem. „Der Schutz
       vor Gewalt ist keine Sozialleistung, sondern eine menschenrechtliche
       Verpflichtung,“ betont Selina Hoefner.
       
       Neben bürokratischen Hürden bei der Wohnungssuche, etwa bei der
       [3][Beschaffung eines Wohnberechtigungs-Scheins], erfahren die Betroffenen
       oft erneute Hindernisse, wenn sie ihren Fall anzeigen wollen.
       Diskriminierende Erfahrungen erschweren den Vertrauensaufbau zu den
       unterstützenden Personen.
       
       ## Immer mehr Frauen von Gewalt betroffen
       
       Nicht selten kommt es in den Gerichtsverfahren zu „Victim Blaming“, bei dem
       die Schuld von den Tätern auf die Betroffenen abgewälzt wird. Für die kann
       das stark retraumatisierend wirken. „Manche gehen auch zurück zum Täter und
       zurück in die Gewaltbeziehung, weil sie keine Perspektive haben,“ erklärt
       Selina Hoefner.
       
       Im Durchschnitt erfährt jede dritte Frau* in Deutschland mindestens einmal
       im Leben häusliche Gewalt. Zwei Drittel der Betroffenen erleben die Gewalt
       innerhalb einer (Ex-)Partnerschaft, ein Drittel in der Familie. Die Anzahl
       der Betroffenen ist in den vergangenen fünf Jahren um 17,5 Prozent
       angestiegen und erreichte 2023 einen neuen Höchststand.
       
       Laut der kriminalstatistischen [4][Auswertung des Bundeskriminalamts] waren
       im vergangenen Jahr 132.966 Frauen von Gewalt in einer Partnerschaft
       betroffen. Knapp 13.000 wurden dabei von ihren (Ex-)Partnern schwer oder
       gefährlich körperlich verletzt. 4.622 Frauen erlebten sexualisierte Gewalt,
       331 wurden Opfer von versuchtem Mord oder Totschlag und 155 wurden durch
       ihren (Ex-)Partner getötet.
       
       „Viele dieser Taten werden gar nicht angezeigt, sodass die polizeiliche
       Kriminalstatistik den tatsächlichen Umfang nur bedingt widerspiegelt,“ weiß
       Selina Hoefner. „Die Gewalt fängt nicht erst beim physischen Schlag an,
       sondern betrifft alle Handlungen körperlicher, psychischer, sexueller,
       sozialer und ökonomischer Gewalt.“
       
       ## Ausbau von Frauen*haus-Plätzen nötig
       
       Die Belastung, den Betroffenen keinen Schutzraum vermitteln zu können, ist
       enorm. Doch der Antrieb, sie in irgendeiner Weise unterstützen zu können,
       sei größer, sagt Hoefner. Was sie antreibt ist auch die Wut über eine
       Gesellschaft, die Mechanismen der Unterdrückung, alltäglichen Sexismus
       sowie psychische und physische Übergriffe zu dulden scheint. „Häusliche
       Gewalt ist kein individuelles Problem. Es ist gesamtgesellschaftlich
       bedingt und betrifft uns alle,“ sagt Hoefner.
       
       Um dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, hat sie im vergangenen
       Jahr [5][den Dokumentarfilm „Zuflucht Nehmen“] produziert, der häusliche
       Gewalt anhand von Erfahrungsberichten von Betroffenen und
       Sozialarbeiter*innen behandelt.
       
       Frauen*häuser und Initiativen fordern, das im aktuellen
       Koalitionsvertrag angekündigte Gewalthilfegesetz endlich umzusetzen. Das
       sieht unter anderem den Ausbau von Frauen*haus-Plätzen vor. Laut dem Verein
       Frauenhauskoordinierung fehlen in Deutschland aktuell über 14.000 Plätze
       für eine [6][bedarfsgerechte Versorgung].
       
       Wie viele davon zurück in die gewaltvolle Beziehung gehen oder auf der
       Straße landen, weil sie keinen Schutz finden, ist nicht bekannt.
       
       20 Aug 2024
       
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