# taz.de -- Antisyrische Pogrome in der Türkei: Straßenterror gegen Geflüchtete
       
       > Mehrere Nächte lang haben in der Türkei Mobs syrische Geschäfte
       > angegriffen. Präsident Erdoğan kann die Wut auf die Geflüchteten nicht
       > einfangen.
       
 (IMG) Bild: Menschen gehen an geschlossenen Geschäften im überwiegend von Syrern bewohnten Stadtteil Hocahasan in Bursa, Türkei, vorbei
       
       Istanbul taz | Es war ein Funke, der das Land in Brand setzen könnte. Nach
       einer Meldung, ein syrischer Flüchtling hätte ein Mädchen missbraucht, ging
       zwei Nächte nacheinander ein Mob in etlichen türkischen Städten auf die
       Straßen und griff syrische Läden und Autos an. Hunderte wurde festgenommen.
       Bei antitürkischen Protesten in Nordsyrien starben sieben Menschen.
       
       Am vergangenen Sonntagnachmittag kursierte in den sozialen Medien in der
       zentralanatolischen Millionenstadt Kayseri die Meldung, ein syrischer
       Flüchtling hätte ein sechsjähriges Mädchen vergewaltigt. Es folgte ein
       „Explosion des Zorns“, wie der Vorsitzende der rechtsradikalen
       Zafer-Partei, Ümit Üsta, durchaus anerkennend schrieb.
       
       Aufgebrachte türkische Männer strömten auf die Straßen der Stadt, es
       dauerte nicht lange, bis die ersten Läden syrischer Flüchtlinge in Flammen
       aufgingen. Auch die Beschwichtigungsversuche des zuständigen Gouverneurs
       nutzen nicht. Er teilte der Menge mit, das Opfer, ein siebenjähriges
       Mädchen, sei selbst Syrerin und die Cousine des Täters, das Ganze sei
       deshalb doch wohl nicht so schlimm, hätte mit der Mehrheitsgesellschaft
       doch gar nichts zu tun. Doch diese Klarstellung verfing bei dem
       aufgebrachten Mob nicht mehr.
       
       Fast die ganze Nacht gingen die Angriffe auf syrische Läden oder Autos mit
       syrischen Kennzeichen weiter. Immer mehr Polizei rückte aus, insgesamt 67
       Randalierer wurden festgenommen.
       
       ## Ende des Aufruhrs nicht abzusehen
       
       Am Montag schaltete sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan persönlich ein und
       verurteilte die Ausschreitungen. Fremdenhass und Straßenterror seien völlig
       unakzeptabel und würden kein Problem lösen, ließ er seine BürgerInnen
       wissen. Im Übrigen stecke die Opposition hinter den Ausschreitungen, da sie
       die Flüchtlinge politisch instrumentalisieren wolle.
       
       Doch auch das nutzte nichts. Im Gegenteil. In der Nacht von Montag auf
       Dienstag weiteten sich die Proteste auf fast das ganze Land aus. Von der
       syrisch-türkischen Grenze aus, wo in Städten wie Reyhanli, Urfa, Gaziantep
       und Kahramanmaras mittlerweile 30 bis 60 Prozent der BewohnerInnen aus
       Syrien stammen, über Antalya und Konya bis in den Istanbuler Stadtteil
       Sultanbeyli ging ein wütender Mob auf die Straße und griff syrische Läden
       und Autos an. In Gaziantep wurde angeblich ein Syrer während der Unruhen
       erstochen.
       
       Ein Ende des Aufruhrs ist nicht abzusehen. Rund 470 Randalierer wurden laut
       Innenministerium bis Dienstagnachmittag festgenommen.
       
       Laut Umfragen sind mehr als 80 Prozent aller TürkInnen mittlerweile dafür,
       die SyrerInnen nach Hause zu schicken. X, ehemals Twitter, ist voll von
       Äußerungen wie „Syrer, haut ab, oder wir sorgen dafür, dass ihr
       verschwindet“.
       
       ## Schwerpunkt in konservativen Hochburgen
       
       Dass die Ausschreitungen ausgerechnet in Kayseri begannen, einer absoluten
       Hochburg der regierenden AKP, muss Erdoğan ganz besonders alarmieren. Immer
       wieder ertönte auch der Ruf, Erdoğan solle zurücktreten, weil er dafür
       verantwortlich sei, dass Millionen Flüchtlinge ins Land gelassen wurden.
       
       Auch Urfa, Gaziantep und die anderen Großstädte entlang der syrischen
       Grenze sind konservative Hochburgen, die jahrelang die stetige Zunahme
       syrischer, aber auch irakischer und afghanischer Flüchtlinge akzeptiert
       haben, wo sich jetzt jedoch der sogenannte „Volkszorn“ entlädt.
       
       Die hohe Anzahl der Flüchtlinge, die selbst in den Millionenstädten
       Gaziantep und Urfa rund 50 Prozent der EinwohnerInnen stellen, hatte bei
       den [1][Kommunalwahlen Ende März], aber auch schon bei den
       [2][Präsidentschaftswahlen im Mai letzten Jahres] eine wichtige Rolle
       gespielt.
       
       Erdoğan verspricht seit Jahren, syrische Flüchtlinge in die von der Türkei
       kontrollierten Gebiete in Nordsyrien abzuschieben, doch die türkische
       Gesellschaft muss nach und nach erkennen, dass der größte Teil der
       Flüchtlinge wohl nicht mehr freiwillig nach Syrien zurückkehren wird.
       Einmal weil die [3][Lage in Syrien nach wie vor katastrophal] ist, zum
       anderen aber auch weil viele Syrer längst Einwanderer geworden sind, deren
       Kinder in der Türkei zur Schule gehen und die sich eine wirtschaftliche
       Existenz in der neuen Heimat aufgebaut haben.
       
       ## Aussöhnungssignale in Richtung Assad
       
       Dennoch will Erdoğan mit Syriens Diktator Baschar al-Assad dringend zu
       einer Vereinbarung über die Rückführung von Syrern kommen. Er bietet die
       Aufnahme von diplomatischen Beziehungen und sogar ein persönliches Treffen
       mit Assad an, doch der sendet nur vorsichtige Signale und rückt nur langsam
       von seiner Forderung ab, dass sich vorher alle türkischen Soldaten von
       syrischem Territorium zurückziehen müssten.
       
       Nach Erdoğans Aussöhnungssignalen in Richtung Assad am Ende der letzten
       Woche zeigt sich jetzt das ganze Dilemma seiner Syrienpolitik. Seine
       islamistischen syrischen [4][Unterstützer in Nordsyrien] fühlen sich von
       Erdoğan verraten und gehen aus Protest nun gegen türkisches Militär in den
       besetzten Gebieten vor. Türkische Flaggen werden herabgerissen, türkische
       Lkws gestoppt und teilweise angezündet. An zwei Grenzübergängen kam es zu
       Schusswechseln, sieben Menschen starben.
       
       Die Bilder aus Nordsyrien fachen den Zorn auf die „undankbaren Syrer“ in
       der Türkei noch weiter an. Die rechtsradikale Zafer-Partei hat bereits zu
       einem großen nationalen Marsch aufgerufen, der hochsymbolisch in Canakkale
       an den Dardanellen stattfinden soll, da, wo die osmanische Armee im Ersten
       Weltkrieg die alliierten Truppen zurückgeworfen und so die „Einheit des
       Landes gerettet“ hat. Nach der bei den Kommunalwahlen siegreichen
       sozialdemokratischen-kemalistischen Opposition droht Erdoğan nun auch noch
       ein Aufstand ganz rechter Nationalisten.
       
       3 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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