# taz.de -- Ausstellung von Sung Tieu in Siegen: Minimalistisch und rätselhaft
       
       > Künstlerin Sung Tieu wird für ihr sprödes Werk gefeiert. Ganz neu mit
       > dabei: Die Schau „Without Full Disclosure“ im Museum für Gegenwartskunst.
       
 (IMG) Bild: Wie Fracking-Gas in die Wohnzimmer gerät: Ausstellungsansicht Sung Tieu „Ohne Offenlegung“ im MGK Siegen, 2024
       
       Wie weist man einen unsichtbaren Angriff nach? Nachdem 2016 mehrere
       CIA-Mitarbeiter in Havanna unter verschiedenen Symptomen [1][wie Übelkeit,
       Müdigkeit und Gedächtnisverlust litten, wurde für dieses Krankheitsbild der
       Name Havanna-Syndrom] gefunden.
       
       Die These ist, dass diese Erkrankungen durch eine Art Klangwaffe verursacht
       wurden. Weitere Fälle wurden bekannt, über die Urheber dieser akustischen
       Angriffe wird noch immer spekuliert.
       
       Für Sung Tieu ist das diffuse wie politisch aufgeladene Havanna-Syndrom ein
       gutes Beispiel dafür, wie fluide Wahrheiten sein können. Die 1987 in
       Vietnam geborene und nun in Berlin lebende Künstlerin forscht zu derartigen
       Fällen, ihrer Beweisführung und ihrer Instrumentalisierung in Politik und
       Medien. Dabei hat sie in den letzten Jahren eine markante, künstlerische
       Handschrift entwickelt.
       
       Markant, weil diese so minimal wie raumgreifend, ästhetisch reduziert wie
       inhaltsgeladen ist. Häufig tauchen in Tieus Kunst Originalobjekte auf, wie
       bei „Offerings“ – einem Altar mit Produkten, die in der DDR unter Mithilfe
       vietnamesischer Vertragsarbeiter:innen hergestellt wurden.
       
       ## Sitzgelegenheit aus Edelstahl
       
       Oder sie zeigt Gegenstände – digitale Uhren, eine Sitzgelegenheit aus
       Edelstahl – die so exakt angefertigt sind wie ein Industrieprodukt. Oft
       kommt dann dokumentarisches Material dazu wie Zeitungsausschnitte, der
       Übergang vom Dokument zum Kunstwerk ist bei ihr mitunter fließend.
       
       Trotz minimalistischer Formsprache kann Tieu auch groß. Derzeit bespielt
       sie die elf Räume im Siegener Museum für Gegenwartskunst. Mehrere Meter
       lange Stahlrohre breiten sich dann dort wie eine zerstückelte Pipeline auf
       dem Boden aus. Ihre manchmal spröde und kühl wirkende Kunst ist nicht immer
       lesbar, die dahinter liegenden Recherchen ohne textliche Fütterung nicht zu
       erkennen. Tieu will diese Rätselhaftigkeit auch: „Ich möchte nicht, dass
       die Recherche auf allzu lineare Weise in die Ausstellung einfließt,
       einfach, weil ich nicht glaube, dass irgendetwas so geradlinig ist“,
       kommentierte sie einmal ihre Arbeit.
       
       So lässt sich auch der Titel der Siegener Schau „Ohne Offenlegung“ besser
       verstehen: „Mir geht es nicht um richtig oder falsch, sondern darum,
       Ambivalenzen in den Raum zu stellen“, sagt sie im taz-Gespräch. Und diese
       Ambivalenzen produziert Sung, indem sie Ereignisse wie diejenigen um das
       dubiose Havanna-Syndrom auf einer affektiven Ebene nachvollziehbar macht.
       
       ## Fiepende Geräusche
       
       Dann setzt sie etwa unangenehme, fiepende Geräusche ein, die Assoziationen
       an akustische Gewalt eröffnen. Oder sie nimmt Geschehnisse aus der mulmig
       stimmenden Perspektive einer Überwachungskamera auf, wie in ihrer
       Videoarbeit „Moving Target Shadow Detection“.
       
       Die Siegener Ausstellung führt mehrere Stränge zusammen, der die Künstlerin
       in den letzten Jahren gefolgt ist. Schon 2017 ging es ihr im Video „No
       Gods, No Masters“ um [2][akustische Formen der Kriegsführung]. Die US-Armee
       hatte derartige psychologische Waffen im Vietnamkrieg gegen die Vietcong
       entwickelt.
       
       Kuba und Vietnam waren Bruderländer der DDR. Tieus Vater kam 1989 als
       vietnamesischer Vertragsarbeiter in das realsozialistische Land, arbeitete
       in einem Stahlwerk im sächsischen Freital. Tieu folgte ihm 1992 in das
       wiedervereinigte Deutschland und lebte mehrere Jahre in einer Ostberliner
       Vertragsarbeiter:innensiedlung. Es waren die Baseballschlägerjahre, für sie
       verbunden mit einem unsicherem Aufenthaltsstatus und rassistischen
       Übergriffen.
       
       ## Künstlerische Kritik an Fracking
       
       Trotz derart prekärer Bedingungen schaffte es Tieu an Kunsthochschulen in
       Hamburg und London. Seit ein paar Jahren lebt sie wieder in Berlin, wo sie
       sich auf eine biografische Spurensuche begab. [3][Sie kehrte etwa in den
       Ostberliner Plattenbau ihrer Kindheit zurück] und porträtierte das
       mittlerweile zum Abriss freigegebene Bauwerk mit historischem und
       zeitgenössischem Bildmaterial in einem Video. Das war kürzlich [4][in der
       Berliner Ausstellung „Echos der Bruderländer“ im HKW zu sehen].
       
       In Siegen beschäftigt sie sich auch mit Ökologie, nämlich mit den Risiken
       des Hydraulic Fracturing (Fracking). Dafür reiste sie in die USA und in
       potenzielle Fracking-Gebiete im Münsterland und beim niedersächsischen
       Diepholz. „Obwohl das Verfahren in Deutschland verboten ist, wird es immer
       wieder ins Spiel gebracht und Studienbohrungen durchgeführt“, sagt Tieu.
       
       Künstlerisch überführt sie ihre Kritik an dieser umweltbelastenden Art der
       Gasgewinnung wieder in ihren typischen Minimalismus. Man hört über eine
       Soundinstallation tiefe Bodenvibrationen, kriegt ein Gefühl für die Gewalt
       dieser Eingriffe in die Erde. Und man sieht an der Wand eine Liste der
       vielen Chemikalien, die nötig sind, um das Gas aus der Tiefe zu bergen.
       
       Tieu ist neben dem fünfjährlich verliehenem Rubensförderpreis aus Siegen,
       der ihr diese große Ausstellung mit 50 Werken möglich machte, kürzlich auch
       mit einem Kunstpreis der Schering-Stiftung ausgezeichnet worden, verbunden
       mit einer baldigen Einzelschau im Berliner KW. Sie ist gerade hierzulande
       eine der erfolgreichsten Gegenwartskünstlerinnen. Und als solche setzt sie
       sich auch [5][für bessere Verhältnisse ihrer prekär arbeitenden
       Künstlerkolleg:innen ein]. Denn etwas zieht sie auf vielen Ebenen
       durch: von der eigenen Biografie Bezüge zum Politischen herzustellen.
       
       5 Jul 2024
       
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