# taz.de -- Dichter und Aktivist Danilo Dolci: Früchte, die stetig wachsen
       
       > Danilo Dolci galt als „Gandhi Italiens“. Mit gewaltfreien Aktionen
       > kämpfte er gegen Armut und für Gerechtigkeit. Eine Würdigung zum 100.
       > Geburtstag.
       
 (IMG) Bild: Denkmal für Danilo Dolci in Trappeto, Sizilien
       
       Soziologe, Dichter, sozialer Agitator, Vordenker einer alternativen
       Gesellschaft, der nach Antonio Gramsci am meisten verfolgte und vergessene
       italienische Intellektuelle der jüngeren Geschichte: [1][Danilo Dolci wäre
       in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden].
       
       Würde er leben, stünde er noch immer an vorderster Front und kämpfte für
       die Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte: Wasser, Wohnung,
       Gesundheit, Bildung, Umweltschutz; Redefreiheit: das Recht, nein zu sagen
       zu sozialer Ungerechtigkeit; das Recht, friedlich zu rebellieren, wenn das
       Gesetz die Armen mit Füßen tritt, das Recht, die Wahrheit über die Übel der
       Welt zu verbreiten; das Recht, daran zu erinnern, dass [2][Faschismus] und
       Nazismus in Europa jederzeit wieder ihre hässliche Fratze zeigen können.
       
       Danilo Dolci wurde am 28. Juni 1924 in Sersana geboren, einer Kleinstadt im
       äußersten Nordosten Italiens, die heute Sežana heißt und seit 1947 zu
       Slowenien gehört. Von Kindheit an fordert er sich und andere heraus, ein
       gefährliches Leben, ein Balancieren am Abgrund. Dolci liebte die Tat und
       war geprägt von seinen drei spirituellen Meistern, Jesus, Gandhi und Lenin.
       
       Seine Mutter, Slowenin und tiefgläubige Katholikin, zeichnet den Weg für
       seine ersten Mission vor, in „Nomadelfia“, der Gemeinschaft von Don Zeno
       Saltini, die [3][auf dem Gelände des ehemaligen
       nationalsozialistisch-faschistischen Konzentrationslagers Fossoli] in der
       Poebene kriegsvertriebene Kinder aufnimmt.
       
       In Nomadelfia atmete man die Luft eines Katholizismus, der sich [4][auf
       Solidarität] gründete. Armut ist hier kein Mangel, sondern Voraussetzung
       für Menschlichkeit, ein fundamentaler Wert. Das Evangelium bildet den
       Kompass für das tägliche Handeln.
       
       ## Gegen Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit
       
       Danilo Dolcis Religiosität wird sich aber eher der der lateinamerikanischen
       Missionare der Befreiungstheologie sich annähern: die Hinwendung zu den
       Ärmsten, zu einem Gott, der die Leidenden liebt; und dem entschiedenen
       Kampf gegen jede Erscheinungsform des Bösen, gegen Ausbeutung und soziale
       Ungerechtigkeit.
       
       Als Mann der Tat suchte Dolci nach einer noch schwierigeren Mission und zog
       1952 – während viele Einwohner des westsizilianischen Trappeto auf der
       Suche nach Arbeit massenhaft nach Düsseldorf und Solingen auswanderten – in
       dieses Geisterstädtchen.
       
       Dort schuf er seine neue Heimat, die „Casa Borgo di Dio“, eine
       Gemeinschaft, die nur dem Gesetz der Brüderlichkeit unterworfen war. Er
       nahm Waisenkinder, Kriminalitätsopfer und Familienangehörige von Häftlingen
       auf. Er setzte erfolgreich das Mittel des Hungerstreiks ein, um den Staat
       zu zwingen, etwas an den katastrophalen Verhältnissen zu verändern, in
       denen die Menschen zu leben gezwungen waren.
       
       Dolci heiratete eine Witwe mit fünf Kindern, forderte die Institutionen
       heraus, um die Rolle der Bildung als Gegenmittel zu Gewalt und Mafia
       einzufordern. Die Praktiken zur Bekämpfung der Bildungsarmut, die wir heute
       in den Armenvierteln der italienischen Städte finden, beruhen auch auf den
       Erfahrungen von Danilo Dolci.
       
       ## „Radio der armen Christen“
       
       Das Haus „Borgo di Dio“ wurde von Intellektuellen und Gelehrten aus der
       ganzen Welt besucht. Es wurden Versammlungen organisiert, um die Anwendung
       gewaltfreier Methoden im politischen und gewerkschaftlichen Kampf zu
       verbreiten, den Wert jedes Einzelnen als Motor der Veränderung zu feiern
       und den Staat von seinem Sockel als Heilsbringer zu stoßen.
       
       Im heutigen Sizilien ist die Existenz einer breiten gesellschaftlichen
       Antimafiafront ohne die Lehren Dolcis nur schwer vorstellbar: die zentrale
       Rolle der Bildung als Faktor des Wandels; die Identifizierung der Mafia als
       Haupthindernis für jeden Fortschritt; die Bedeutung der Kommunikation und
       der Meinungsfreiheit; und nicht zuletzt der Wille, die eigenen Bedürfnisse
       ernst zu nehmen, um öffentlich Forderungen zu stellen und sie mit
       gewaltfreien Aktionen zu vertreten.
       
       Dolci wurde nicht müde, neue Wege zu finden, um die Gleichgültigkeit des
       Staates zu erschüttern. Er erfand das „Radio der armen Christen“, ein
       illegaler freier Sender, das die verzweifelten Stimmen der Ärmsten der
       Armen verbreitete. Er brachte Mittellose, Bauern, Fischer und
       Gewerkschafter zusammen, um die in der italienischen Verfassung verbrieften
       Rechte einzufordern.
       
       Wenn es keine Arbeit gab, musste man sie eben aus dem Nichts schaffen. So
       erfand er den „umgekehrten Streik“: Im Februar 1956 begannen 200
       Arbeitslose, eine kaputte Straße zu reparieren, ohne die der Ort von der
       Außenwelt abgeschnitten war. Wenn der Staat sich nicht darum kümmerte, dann
       würden eben sie, die arbeitslosen Bauern, die Arbeit erledigen, mit einem
       „Wenn es regnet“-Vertrag, d. h. die Zahlung wurde dem Staat sozusagen
       gestundet, bis die Bürokratie so weit war.
       
       Für den Staat war das Vorgehen ein krimineller Akt. Danilo Dolci wurde vor
       Gericht gestellt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. In seinen Büchern
       scheute er sich nicht, die Mafiosi beim Namen zu nennen, und das in einer
       Zeit, in der die pure Existenz der Mafia noch geleugnet wurde.
       
       ## Soziale Antimafia
       
       Gegen Danilo Dolci stellten sich sowohl der Staat – mit ständigen Anklagen
       und Verurteilungen – als auch die Kirche, die ihn als „eines der
       schlimmsten Übel Siziliens“ bezeichnete. Solidarität als wichtigste Waffe
       der Verzweifelten und Vereinzelten zu propagieren, war für die Machtgruppen
       unbequem. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Am stärksten sind nicht
       die sogenannten Helden, sondern gemeinsames, kontinuierliches Handeln, eine
       soziale Antimafia, die in Italien immer noch eine Minderheit ist.
       
       Betrachtet man die jüngeren Geschichten einiger italienischer sozialer
       Aktivisten, die zu Unrecht vom Staat verfolgt wurden, wird deutlich, warum
       es Italien noch nicht gelungen ist, das Phänomen Mafia endgültig zu
       besiegen.
       
       Die Mafia schafft Konsens in der Bevölkerung, mordet selten und ist ein
       verlässlicher Gesprächspartner in allen Situationen, in denen der Staat
       abwesend ist oder nur die repressive Dimension seiner selbst zeigt. Wer
       sich auf dem Gebiet des sozialen Aktivismus bewegt, ist zur Einsamkeit
       verdammt, die Geschichte von Danilo Dolci zeigt aber, dass diese Einsamkeit
       nicht zu Resignation führen muss.
       
       „Wir dürfen nie denken, dass wir gewonnen haben“, erinnert Danilo Dolci in
       einem seiner Gedichte.
       
       „Wir müssen [5][wie ‚Mondzitronen‘ sein,] die Fähigkeit haben, zu allen
       Jahreszeiten zu blühen, niemals zu ruhen.“
       
       Revolution, sagt der italienische Gandhi, bedeutet nicht, „einem Bullen
       einen Stein an den Kopf zu werfen“, sondern das bereits existierende Gute
       zu erkennen, dem Anderen zu begegnen ihn wertzuschätzen und so „das
       Heilbare zu heilen“.
       
       Nur so werden „die verstreuten menschlichen Atome zu neuen, kämpferischen
       Organismen und lernen, alles, was morsch und mafiös ist, hinter sich zu
       lassen“.
       
       Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
       
       28 Jun 2024
       
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