# taz.de -- Politische Kultur der Schuldsuche: Wird alles böse enden?
       
       > Männer sind schuld. Frauen sind schuld. Der Kanzler ist schuld. In dieser
       > Weltlage braucht es keine Schuldigen, sondern eine Veränderung des
       > Denkens.
       
 (IMG) Bild: Der Kanzler ist schuld? Der Vizekanzler ist schuld? Bauernprotest in Berlin am 15. Januar
       
       Ich liste mal in aller Ruhe auf, was demnächst passieren kann: Die AfD wird
       im Herbst in einem oder mehr kleineren Bundesländern stärkste Partei. Nicht
       gut, aber schlimmer: Die Wirtschafts- und Klimapolitikerin [1][Ursula von
       der Leyen] bleibt zwar nach der Europawahl EU-Präsidentin, aber um den
       Preis, dass die europäische Wirtschaftsoffensive (Green Deal)
       zurückentwickelt und in der Folge auch die deutsche Wirtschaft abgehängt
       wird. Marine Le Pen wird bei dieser EU-Wahl stärkste Kraft in Frankreich.
       Noch schlimmer: Putin marschiert auf Kyjiw und ins nächste und dann
       übernächste Land, aber – Achtung, Ironie – niemals nach Deutschland, als
       Dank dafür, dass Olaf Scholz den Ukrainern [2][keine Taurus liefert].
       
       Dann wird auch noch [3][Donald Trump] wieder US-Präsident, und der Westen
       als geopolitische und kulturelle Allianz zerbröckelt. Und China, Israel,
       religiösen Irrsinn und regionale oder globale Terrorunternehmen habe ich
       noch gar nicht erwähnt. In der Konsequenz wird der Versuch aufgegeben, die
       Eskalation des Weltklimas und damit auch Fluchtzwänge und Kriege zu
       begrenzen, Freiheit und Lebensqualität zu erhalten, Aufklärung und
       Emanzipation weiterzuentwickeln. Also, dafür haben wir nämlich jetzt echt
       keine Kapazitäten!
       
       Das alles muss und soll nicht geschehen, aber es nützt nichts zu knurren:
       „Unsinn, das passiert doch nicht“, oder auch: „Ich wusste immer, dass es
       böse endet“. Beides gehört zum wohlfeilen business as usual, das es zu
       überwinden gilt. Die Aufgabe lautet jetzt: Handlungsfähigkeit herstellen,
       damit es eben nicht böse endet.
       
       Sicher erleben wir gerade in Deutschland die Verhärtung des
       gesellschaftlichen Klimas, auch unakzeptable und gesetzeswidrige
       Eskalationen. Und vor allem sehen wir die negativen Auswirkungen einer
       Mediengesellschaft, in der selbst Grottenolme wissen, wie man in eigener
       Sache auf den Putz haut, um in die Abendnachrichten, die Kommentarspalten
       und die anderen Aufregungskanäle zu kommen.
       
       ## Männer sind schuld, Frauen und der Kanzler
       
       Das geht auf die individuelle und kollektive Psyche. Und weil uns das alles
       ein bisserl über den Kopf wächst, versuchen wir die Komplexität zu
       reduzieren und sagen dann, je nach individueller Analyse, Präferenz oder
       Gehirnwäsche: Die Grünen sind schuld. Die AfD ist schuld. Die FDP ist
       schuld. Die „Rechten“ sind schuld. Die „Linken“ sind schuld. Die Youknowwho
       sind schuld. Männer sind schuld. Frauen sind schuld. Der Kanzler ist
       schuld? Der Vizekanzler ist schuld.
       
       Und damit sind wir bei der entscheidenden Differenzierung: Die Wut auf
       Robert Habeck speist sich daraus, dass er dafür steht, dass etwas Neues
       beginnen muss – und es unklar ist, ob das funktionieren wird. Der Ärger
       über Olaf Scholz folgt daraus, dass das Alte nicht mehr funktioniert,
       dessen Wirkung er unverdrossen und fälschlich verspricht. Je länger er
       regiert, desto sicherer ist dieser Befund. Insofern bringt auch die gern
       beschworene schnelle Neuwahl überhaupt nichts, weil ein CDU-Kanzler nur
       eine rhetorische Variante des Alten im Angebot hat, die auch nicht
       funktionieren kann, weil es die dazugehörende Welt nicht mehr gibt, genau
       wie ihre schöne All-inclusive-Dienstleistungspolitik.
       
       Damit das Land und die EU nicht verloren gehen, braucht es keinen
       Schuldigen und keine neue Koalition, sondern als Grundlage für alles eine
       Denk- und Kulturänderung. Das klingt banal, aber das Neue besteht darin,
       den zentralen Notwendigkeiten nicht mehr auszuweichen, sondern sie –
       Wirtschaft, Nullemissionen, Verteidigung, Haushalt – angehen zu können.
       Auch wenn sich daraus neue Probleme und Unsicherheiten ergeben. Jetzt wird
       man sagen: Wer soll denn das wählen? Na, ich – und Sie!
       
       Wir müssen uns die Zukunft zumuten. Sonst haben wir keine.
       
       11 Mar 2024
       
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