# taz.de -- Ökozid im ukrainischen Donbas: Ein Stausee verschwindet
       
       > Einst diente der Oskilsker Stausee der Wasserversorgung und Naherholung
       > von Millionen Menschen. Bis russische Soldaten ihn fast völlig
       > zerstörten.
       
       Oskil taz | Es war eine klare Aussage: „Mein Ziel ist die Befreiung des
       Donbas, der Schutz der dort lebenden Menschen und die Schaffung von
       Lebensbedingungen, die auch Russlands Sicherheit gewährleisten.“ So hatte
       der russische Präsident Wladimir Putin laut russischer Nachrichtenagentur
       Interfax seinen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 erklärt.
       
       Wie Putins „Schutz“ der Bevölkerung im Donbas wirklich aussieht, kann man
       sich am ehemaligen Oskilsker Stausee ansehen. Er war der größte Stausee im
       östlichen Teil der Ukraine und Teil des Siwerskyj-Donez-Donbas-Kanals, der
       in den 1950er Jahren zur Wasserversorgung der Industriegebiete im Donbas
       gebaut wurde.
       
       „Das gesamte Gebiet Donezk bekam Wasser aus diesem Stausee. Es diente nicht
       nur der Industrie, sondern auch der Trinkwasserversorgung“, sagt Gennadi
       Sorjansky, der schon seit rund zwanzig Jahre in der Oskilsker
       Kleinwasserkraftanlage arbeitet.
       
       Sorjansky erzählt, dass die Bombardierungen des Staudamms am 11. März 2022
       begannen. Dann wurden auch die Zufahrtsstraßen und das Wasserkraftwerk mit
       Panzern beschossen. Ende April 2022 eroberten die russischen Streitkräfte
       schließlich das Wasserwerk, Ende September sprengten sie einen Teil des
       Staudammes und zerstörten so auch die darüber liegende, 12 Meter breite
       Straßenbrücke. Seitdem ist der Oskilsker Stausee praktisch nicht mehr
       vorhanden. Dies gefährdet auch die Wasserversorgung des Donbas, den Putins
       Armee angeblich verteidigt.
       
       Die Zerstörung des Oskilsker Stausees hat auch der Wirtschaft, der
       Landwirtschaft und der Natur im Gebiet Charkiw geschadet. „Die Menschen
       haben ihr Naherholungsgebiet verloren. Früher kamen viele Ausflügler zum
       See. Die Anwohner verdienten Geld durch den Verkauf von Essen, Getränken
       und anderen Dingen. Früher gab es hier Fischfarmen, das kleine Kraftwerk
       speiste Strom in die Netze ein. Die Nerze und Biber, die hier lebten, sind
       über den Damm flussabwärts gewandert, viele Fische sind verschwunden.
       
       Und mit dem Wasser des Stausees wurden die Felder bewässert. Das ist jetzt
       alles vorbei“, konstatiert Sorjansky. In den umliegenden Dörfern sei das
       Wasser aus den Brunnen entweder vollständig verschwunden oder habe sich
       qualitativ stark verschlechtert, es rieche jetzt nach Schwefelwasserstoff.
       
       Sorjansky erzählt, dass die Unternehmensleitung der Firma „Wasser des
       Donbas“, zu dem der Oskilsker Stausee gehört, versprochen hat, den Staudamm
       wiederherzustellen, damit nicht die ganze Region versteppt. Heute sind von
       dem einst riesigen Stausee mit einem Fassungsvermögen von 490 Millionen
       Kubikmetern Wasser und einer Länge von fast 85 Kilometern nur noch kleine
       Tümpel und das alte Flussbett des Oskil übrig. Dort, wo früher der See war,
       wachsen jetzt Gras und Sträucher.
       
       Im Kontrollraum des zerstörten Wasserkraftwerks treffen wir den Ingenieur
       Oleksandr Legutsky, einen Energietechniker, der das Kraftwerk am Oskilsker
       Stausee während des russischen Beschusses 2022 als Letzter verlassen hatte.
       Im Kontrollraum gibt es keinen Strom.
       
       ## Das Kleinkraftkraftwerk
       
       Legutsky hat unter anderem mehrere Bände mit vergilbten technischen
       Zeichnungen bei sich. Es sind die Original-Unterlagen des für den
       Wasserkraftkomplex Oskil: Kraftwerk, Damm und Stausee. Legutsky steht vor
       einem alten Schrank voller alter Unterlagen zur Anlage, Zeitungen und
       Büchern. Es scheint, als sei hier die Zeit in den 1970ern stehen geblieben.
       Der Ingenieur ist jedoch frei von Sowjetnostalgie, sondern spricht sehr
       klar und wohlüberlegt von den Problemen im Hier und Jetzt.
       
       Er erzählt von dem Beginn der Zerstörungen von Kraftwerk und Staudamm am
       11. März 2022. Die russischen Militärs seien taktisch vorgegangen, sagt er.
       Putins angebliche Invasionsziele – die Verteidigung der russischsprachigen
       Bevölkerung des Donbas – waren ihnen gleichgültig. „Als erstes
       bombardierten sie den Bahnhof. Für sie war vor allem die Eroberung der
       Zugangswege wichtig. Die T-72-Panzer begannen, direkt auf uns zu feuern.
       Ich entschied, hier alles herunterzufahren und dann zu verschwinden“,
       erinnert sich Legutsky. „Es war… schrecklich“, fügt er nach einer Pause
       leise hinzu.
       
       Strom für die Donbas-Industrie 
       
       „Das Oskilsker Wasserkraftwerk wurde extra gebaut, um den Betrieb des
       Siwerskyj-Donez-Donbas-Kanals zu gewährleisten. Außerdem wurden Turbinen
       zur Stromerzeugung installiert“, erzählt Legutsky. Vor der russischen
       Invasion habe das Oskilsker Wasserkraftwerk die Stromversorgung der Region
       ergänzt. Wenn beide Turbinen in Betrieb waren, produzierten sie 80-90 MW
       und versorgten damit [1][die Hälfte der Stadt Isjum, die vor Kriegsbeginn
       rund 46.000 Einwohner hatte].
       
       Legutsky sagt, die Bevölkerung des Donbas leide bereits jetzt unter
       ungenügender Wasserversorgung. „Wenn die Städte von der russischen
       Besatzung befreit sind, wird dort Wasser zum Trinken und für technische
       Zwecke benötigt werden. Sonst funktioniert auch die Kanalisation nicht
       mehr. Der obere Teil des Kanals, in Richtung Tschassiw Jar und Bachmut,
       führt wegen der Kampfhandlungen schon kein Wasser mehr“, sagte er. „Auch
       kleine Siedlungen im Gebiet Charkiw haben schon jetzt ein Problem mit dem
       Trinkwasser, weil der Grundwasserspiegel sinkt.
       
       Im Dorf Oskil ist er nur um einen Meter gesunken. In anderen Dörfern ist es
       krasser. Viele Trinkwasserbrunnen dort haben kein Wasser mehr“, sagt der
       Ingenieur. Auf die Frage, ob man den Staudamm, den Stausee und das
       Wasserkraftwerk wieder aufbauen müsse, antwortet Legutsky: „Wenn wir den
       Donbas befreien und die Wirtschaft dort ankurbeln wollen, müssen wir das
       natürlich tun. Ansonsten natürlich nicht. Solch ein Wiederaufbau ist ja mit
       hohen Kosten verbunden.“
       
       ## Ökozid, Genozid und Kriegsverbrechen
       
       Im Gebiet Charkiw wird derzeit wegen der Sprengung des Staudamms am
       Oskilsker Stausee nach Artikel 438 des ukrainischen Strafgesetzbuches
       („Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges“) ermittelt. Die
       Ermittlungsbehörden sind dabei, die Art der Zerstörung des Staudamms und
       die daran beteiligten Personen zu eruieren. „Aktuell haben wir bereits eine
       Idee davon, wer den Befehl gegeben haben könnte und wer ihn dann ausgeführt
       hat“, so die Ermittler.
       
       Stärkere Waffen als hier hatten die Russen bisher im Gebiet Charkiw noch
       nicht eingesetzt: So fand man am Stausee eine nicht detonierte russische
       1,5-Tonnen-Beton-Fliegerbombe (UPAB-1500).
       
       Angesichts der enormen ökologischen Schäden, des Absinkens des
       Grundwasserspiegels, der Zerstörung von Nahrungs- und
       Wasserversorgungsketten und der vollständigen Vernichtung einzelner
       biologischer Arten kann das Strafverfahren nach Abschluss einer umfassenden
       Untersuchung unter den Artikeln „Ökozid“ und „Völkermord“ neu eingestuft
       werden. Die Zerstörung des Oskilsker Stausees ist ein russisches
       Verbrechen, das zu den bisher größten ökologischen Schäden im Gebiet
       Charkiw geführt hat, so die Strafverfolgungsbehörden. Aktuell wird der
       entstandene Schaden auf 3,7 Milliarden Hrywnja (knapp 95 Million Euro)
       geschätzt.
       
       Die Ermittler weisen darauf hin, dass dieses Verbrechen sogar Auswirkungen
       auf das gesamteuropäische Ökosystem haben wird, [2][da der Oskilsker
       Stausee Teil des europäischen Netzwerkes Smaragd (Emerald Network) zum
       Schutz besonders wertvoller Lebensräume und Arten ist]. Es war Nist- und
       Rastplatz für Zugvogelarten auf dem Weg zwischen Afrika und Nordeuropa.
       
       Alle diese Verbrechen der Russen führen auch zu Hunger, nicht nur auf
       lokaler Ebene, sondern weltweit. Es ist kein Geheimnis, dass die russische
       Armee unter dem Deckmantel der „Rettung“ der Bevölkerung des Donbas den
       Hunger als Mittel der Kriegsführung gegen die Ukraine einsetzt.
       
       „Die Arbeit geht ruhig und gleichmäßig voran. Nun, wie Sie sehen können,
       bewegen sich die Truppen und erreichen die Meilensteine, die als Aufgaben
       in einem bestimmten Stadium dieser Kampfhandlungen festgelegt sind. Alles
       läuft nach Plan“, zitierte die russische Nachrichtenagentur Interfax eine
       kaltschnäuzige Rede [3][Putins, gegen den der Internationale
       Strafgerichtshof mittlerweile Haftbefehl erlassen hat].
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
       
       26 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Mutmassliche-Kriegsverbrechen/!5882057
 (DIR) [2] https://wildniseuropa.blogspot.com/2011/04/das-netzwerk-smaragd-emerald-network.html
 (DIR) [3] /Internationaler-Strafgerichtshof/!5922646
 (DIR) [4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Juri Larin
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Zwei Jahre Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Donbass
 (DIR) Ukraine
 (DIR) Wasserkraft
 (DIR) Energieversorgung
 (DIR) Trinkwasser
 (DIR) Ökologie
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) GNS
 (DIR) Umweltschutz
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Naturzerstörung auf dem Balkan: Flusslandschaften verbinden
       
       Das Quellgebiet der Una in Kroation steht unter Naturschutz. Jetzt soll die
       Quelle privatisiert werden. Doch nicht nur dort regt sich Widerstand.
       
 (DIR) Zerstörtes Wasserkraftwerk im 2. Weltkrieg: Nach Drehbuch Hitlers und Stalins
       
       Im Zweiten Weltkrieg wurde am Dnipro ein Wasserkraftwerk sowohl von
       sowjetischer als auch von deutscher Seite zerstört. Es gibt Parallelen zu
       heute.
       
 (DIR) Folgen der Staudamm-Zerstörung: Ökozid im Süden
       
       Nach dem Kachowka-Dammbruch gibt die Energiebehörde vorerst Entwarnung für
       das AKW. Für die Umwelt wird es dennoch schlimme Auswirkungen haben.
       
 (DIR) Der russische Krieg gegen die Ukraine: Sieben gerettete Leben
       
       Die Stadt Awdijiwka in der Ostukraine ist ständig unter Beschuss. Ein
       Freiwilliger riskiert jeden Tag sein Leben, um das anderer Menschen zu
       retten.