# taz.de -- Angriffe auf die Meinungsfreiheit: Unanfechtbares anfechten
       
       > Freiheit heißt, auch die Meinungen zu ertragen, die wir ablehnen. Verbote
       > und vorgeschriebene Bekenntnisse führen zur Entmündigung der
       > Gesellschaft.
       
 (IMG) Bild: „Wir neigen von Haus aus dazu, Meinungen zum Schweigen bringen zu wollen, die wir ablehnen“
       
       Was ist freie Meinungsäußerung? Ein Wildwuchs, lebensprall vielfältig und
       verwirrend undurchdringlich? Oder – wie hierzulande meist verstanden – ein
       gut ausgebautes Straßennetz mit Leitplanken des Diskurses und staatlichen
       Verkehrsregeln? Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, sagt ein
       chinesisches Sprichwort. Von wegen, grölt manch ein deutscher Gralshüter:
       Wer gegen den Strom der herrschenden Meinung schwimmt, ist ein
       Geisterfahrer.
       
       Vorneweg: Es lässt sich schlichtweg nicht vermeiden, dass die freie Rede
       gelegentlich eine Zumutung ist, dass sie schmerzt und verletzt und einen
       zur Weißglut oder gar aus der Fassung bringt. Aber das ist der Preis, den
       wir zahlen müssen. Denn freie Meinungsäußerung – „das Recht, das Undenkbare
       zu denken, das Unaussprechliche zu diskutieren und das Unanfechtbare
       infrage zu stellen“, so Bertrand Russell – ist lebenswichtig für eine
       pluralistische Gesellschaft.
       
       Wir neigen von Haus aus dazu, Meinungen zum Schweigen bringen zu wollen,
       die wir ablehnen. Dieses Bedürfnis ist unserer Kultur und unserem Wesen
       eingeschrieben, seit es Ideologien und Dogmen, Herrschaft und Propaganda
       gibt. Wir möchten das Unerträgliche zum Schweigen bringen. Weil dem so ist,
       müssen wir in einer halbwegs freien Gesellschaft wachsam sein gegenüber
       jedem Versuch, Meinungen zu kontrollieren, egal wie verabscheuungswürdig
       sie uns erscheinen.
       
       Der Berliner Kultursenator forderte in einer neuen Richtlinie, dass sich
       jeder, der Förderung beantragt, [1][in einer Erklärung verpflichtet, sich
       gegen den Antisemitismus gemäß der Definition der International Holocaust
       Remembrance Alliance zu stellen], sich zu einer vielfältigen Gesellschaft
       zu bekennen, jede Form der Diskriminierung und Ausgrenzung abzulehnen.
       
       ## Konformität von Konsens?
       
       Obwohl ich lebenslang ein leidenschaftlicher Kämpfer für Vielfalt gewesen
       bin – für mich das essentielle Prinzip des Lebens –, wird mir demokratisch
       unwohl, wenn ein Bekenntnis zur Vielfalt vorgeschrieben wird. Darf das
       Hochamt der Vielfalt andere Auffassungen von Vielfalt ausgrenzen? Sind wir
       uns denn alle einig, wie wir Vielfalt verstehen? Oder wird hier Vielfalt
       durch eine Konformität von Konsens ersetzt? Einen Konsens, der auf einer
       Definition basiert, die per se nicht endgültig sein kann (wie die
       [2][Jerusalem Declaration on Antisemitism] beweist). Wieso sollte es nicht
       mehrere Definitionen geben?
       
       „Zwei Definitionen sind besser als eine Definition, weil sie zu
       Diskussionen Anlass geben. Weil sie einen Raum öffnen, in dem wir eine
       demokratische Diskussion haben können“, so der israelische Historiker José
       Brunner. Auf der Webseite der Landeszentrale für politische Bildung
       Baden-Württemberg sind gar neun unterschiedliche Definitionen angeführt,
       allesamt bedenkenswert. Etwa die intelligente Zuspitzung des englischen
       Philosophen Brian Klug: „Anti-Semitism is the process of turning jews into
       ‚jews‘.“
       
       Sollte es eine solche Definition von Staats wegen überhaupt geben? Das
       Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als
       wirksamstes Mittel gegen Menschenverachtung. Das Bundesverfassungsgericht
       hat in mehreren Urteilen zum Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG)
       festgestellt, dass die gesellschaftliche Willensbildung sich „staatsfrei“,
       ergo ohne „lenkende und steuernde Einflussnahme des Staates“ und somit „von
       unten nach oben und nicht umgekehrt“ zu gestalten habe. Mit Denkverboten
       lässt sich keine humanere, tolerantere Gesellschaft aufbauen. Das
       bürokratische Einhegen des Diskurses läuft auf eine Entmündigung der
       Gesellschaft hinaus.
       
       Der Rechtsausschuss des Bundestags hat sich letzte Woche in einer
       [3][öffentlichen Anhörung mit dem Gesetzesentwurf] „zur Änderung des
       Strafgesetzbuches zur Bekämpfung von Antisemitismus, Terror, Hass und
       Hetze“ beschäftigt, der „Sympathiewerbung und Volksverhetzung“ verschärft
       bestrafen soll. Einer der Gutachter, Michael Kubiciel, erklärte, die
       Gesetzesänderung sei eine gerechtfertigte „nichtallgemeine Einschränkung
       der Meinungsfreiheit“. Weil es nicht um das Verbot einer bestimmten Meinung
       gehe, „sondern um den Schutz des öffentlichen Friedens in Deutschland“.
       
       ## Meinungsfreiheit als gesellschaftliche Notwendigkeit
       
       Hier liegt der Hund begraben. Meinungsfreiheit ist nicht nur ein
       individuelles Recht, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Es gibt
       keinen Frieden ohne Freiheit. Ansonsten beginnen wir, uns zurückzuhalten,
       um nicht in ein Fettnäpfchen zu treten, um auf Nummer sicher zu gehen, um
       nicht negativ aufzufallen.
       
       Wir benötigen Meinungsfreiheit, um uns mit der Realität
       auseinanderzusetzen. Wahrheit ist ein Prozess der Annäherung an komplexe
       Realitäten und nicht das Erreichen eines unverrückbaren Ziels. Das muss oft
       wiederholt werden, weil viele Angriffe auf die Meinungsfreiheit von einer
       statischen, absoluten Essenz des Wahren ausgehen. Oft verdammen wir
       Behauptungen, ohne die Gründe für die divergierende Sichtweise zu bedenken,
       die es erst einmal zu verstehen gilt. Keineswegs, um sie zu entschuldigen
       (wenn sie uns verwerflich erscheinen). Aber wie wollen wir die Welt
       begreifen, wenn wir nicht wissen, warum Menschen anders denken?
       
       Aber sollten wir nicht intolerant gegenüber den Intoleranten sein? „Was
       aber tun wir in Sachen Meinungsfreiheit, wenn sie auf vielfältige Weise
       missbraucht wird?“ So [4][Salman Rushdie in seiner Rede zum Friedenspreis
       des Deutschen Buchhandels 2023]. „Die Antwort ist, dass wir weiterhin und
       mit frischem Elan machen sollten, was wir schon immer tun mussten:
       schlechte Rede mit besserer Rede kontern.“ Shabash!
       
       Wer eine bestimmte Sicht der Dinge durchsetzen will, neigt dazu, seine
       Wünsche in Gesetze zu gießen, um Widerspruch zu illegitimieren. Aber wer
       Geschichte als fortgesetzte Erschütterung von unverrückbaren Glaubenssätzen
       versteht, sollte einsehen, dass der freie Wettbewerb der Meinungen uns
       davor bewahrt, die Dunkelheit stets bei den „Anderen“ zu verorten und nie
       bei uns selbst.
       
       24 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Antisemitismus-im-Kulturbetrieb/!5984346
 (DIR) [2] /Antidiskriminierungsklausel-in-Berlin/!5982966
 (DIR) [3] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw46-de-antisemitismus-976606
 (DIR) [4] /Friedenspreis-fuer-Salman-Rushdie/!5965166
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilija Trojanow
       
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