# taz.de -- Politische Bildung in Bayern: 15 Minütchen fürs Grundgesetz
       
       > Bayern plant eine „Verfassungsviertelstunde“ an Schulen. Lehrkräfte und
       > Schüler:innen fürchten ein „neues Morgengebet“ – oder noch mehr
       > Unterricht.
       
 (IMG) Bild: Herrenchiemsee, 10.08.2023: Steinmeier, Büdenbender, Aigner und Söder auf dem Weg zu einer Jubiläumsveranstaltung am 75. Jahrestag des Verfassungskonvents
       
       München taz | Dass es um die politische Bildung in Bayern nicht zum Besten
       steht, ist keine Neuigkeit. So geben Wissenschaftler der Universität
       Bielefeld, die alljährlich entsprechende Rankings erstellen, dem Freistaat
       regelmäßig schlechte Noten. Wenn es etwa um die politische Bildung in der
       Sekundarstufe I geht, teilt sich Bayern stets den letzten Platz mit
       Thüringen und Rheinland-Pfalz. In einer bayerischen Realschule
       beispielsweise werden die Schülerinnen und Schüler erstmals in der
       Abschlussklasse mit dem Fach Politik und Gesellschaft konfrontiert.
       
       Doch inzwischen scheint zumindest ein gewisses Problembewusstsein auch in
       der bayerischen Staatsregierung angekommen zu sein. Vielleicht war es die
       [1][Flugblattaffäre von Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger], die den
       übrigen Teilnehmern der Koalitionsgespräche noch einmal vor Augen geführt
       hat, auf welche Irrwege sich selbst 17-jährige Gymnasiasten begeben können.
       Vielleicht hat sie aber auch das Ergebnis der U18-Landtagswahl
       aufgeschreckt.
       
       60.000 Jugendliche unter 18 Jahren hatten kurz vor der bayerischen
       Landtagswahl Anfang Oktober ihre Stimmen abgegeben. Zur Wahl standen
       dieselben Parteien wie bei der tatsächlichen Landtagswahl – mit dem
       einzigen Unterschied, dass die Stimmen der Minderjährigen natürlich nicht
       zählten.
       
       Das Ergebnis: Anders als bei vergleichbaren Erhebungen in der Vergangenheit
       [2][legten die Rechtsextremen jetzt auch bei den Jungen massiv zu]. Mit
       14,9 Prozent der Stimmen schnitt die AfD hier sogar noch 0,2 Prozentpunkte
       besser ab als bei den erwachsenen Wählerinnen und Wählern. Mit dem
       Nachwuchs, so dürfte den Regierenden nun dämmern, ist freilich kein Staat
       zu machen, wenn er über diesen Staat und seine Werte überhaupt nichts weiß,
       wenn er Demokratie nie vermittelt bekommt, nie eingeübt hat.
       
       ## Wehrhafte bayrische Jugend
       
       Dabei ist die bundesrepublikanische Demokratie ja gewissermaßen ein
       geistiges Kind des Freistaats. Mitten in Bayern, auf der Insel
       Herrenchiemsee, wurden vor 75 Jahren die Grundzüge des Grundgesetzes
       ausgearbeitet.
       
       Im vergangenen Sommer hat man das Jubiläum bei einem Festakt gefeiert.
       Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war da, Landtagspräsidentin Ilse
       Aigner auch, Ministerpräsident Markus Söder sowieso. „Eine Demokratie“,
       forderte Steinmeier, „muss wehrhaft sein gegen ihre Feinde.“ Um die
       bayerische Jugend entsprechend wehrhaft zu machen, haben sich Söder und
       seine Koalitionäre nun ihrerseits etwas einfallen lassen: die
       Verfassungsviertelstunde.
       
       Als „wöchentliches Format“ stellen sich CSU und Freie Wähler diese laut
       Koalitionsvertrag vor, in dem „anhand von praktischen Beispielen über die
       Bayerische Verfassung und das Grundgesetz sowie die dort verankerten
       Grundsätze diskutiert wird“. Ein konkretes Konzept gibt es bislang
       allerdings noch nicht – ebenso wenig ein Vorbild in anderen Bundesländern.
       Außerhalb Bayerns setzen die Ministerien vor allem auf früheren
       Politikunterricht, auf eigene Schulbudgets für politische Bildung oder
       fächerübergreifende Projekte, um die Kinder und Jugendlichen zu Demokraten
       zu erziehen.
       
       Es obliegt nun der neuen bayerischen Kultusministerin Anna Stolz (Freie
       Wähler), das Konzept zur Verfassungsviertelstunde auszuarbeiten. Und sie
       hat bereits angekündigt, sich damit bis zum Frühsommer Zeit lassen zu
       wollen. Im Schuljahr 2024/25 soll es sie dann geben, die
       Verfassungsviertelstunde. Alles weitere: vage. Nur dass die Viertelstunde
       keinesfalls auf Kosten des übrigen Unterrichts gehen solle, machte Stolz
       gleich mal klar. „Harmonisch und flexibel“ solle sie eingebettet werden,
       verlautete es aus ihrem Hause.
       
       ## Demokratieunterricht frontal
       
       „Ist das jetzt das neue Morgengebet?“, war der erste Gedanke von Gabriele
       Triebel, als sie von der neuen Idee gehört hat. Triebel ist selbst Lehrerin
       und sitzt seit 2018 für die Grünen im Landtag, ist deren bildungspolitische
       Sprecherin. Grundsätzlich sei sie ja schon „auf der richtigen Spur“,
       gesteht Triebel der Staatsregierung zu. „Wir brauchen mehr
       Demokratiebildung, mehr Formate.“ Nur: Das demokratische Viertelstündchen
       jetzt als den großen Wurf zu deklarieren, halte sie schon für etwas
       übertrieben.
       
       Aus Triebels Sicht kommt vor allem das Einüben demokratischen Handelns zu
       kurz. Aber: „Im Frontalunterricht schaffen wir das nicht.“ Deshalb fordert
       die Politikerin beispielsweise die Einführung von Schulparlamenten. Oder
       auch eine Verstärkung verschiedener Formen von Projektunterricht, in dem
       die Schüler zusammenarbeiten müssen. Solche Unterrichtsformen, die schon
       per se dazu führen, dass Schüler mehr Demokratie leben, hätten zudem den
       Vorteil, dass nicht zu viel von der einzelnen Lehrerin und deren Engagement
       abhänge.
       
       Sehr skeptisch und wenig aufgeschlossen gegenüber Veränderungen an
       bayerischen Schulen zeigten sich dagegen diverse Lehrerverbände in ihren
       ersten Reaktionen. Ulrich Babl etwa, der Vorsitzende des Bayerischen
       Realschullehrerverbandes, befürchtete, die Einführung einer
       Verfassungsviertelstunde könnte zu einem „unüberwindbaren Stundenplanchaos
       und zu Überforderung“ führen. Und auch Stefan Düll, der Präsident des
       Deutschen Lehrerverbandes, gab sich wenig begeistert. Problematisch sei es,
       „dass eine gesellschaftliche und politische Aufgabe wieder einmal
       hauptsächlich von den Schulen gelöst werden soll“.
       
       Schule und Gesellschaft als Gegensatzpaar? Simone Fleischmann, die Chefin
       des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, will sich der
       Argumentation ihrer Kollegen nicht anschließen. Die Menschen machten sich
       schließlich Sorgen um die Entwicklung in der Gesellschaft. Wo, wenn nicht
       in der Schule, solle man da ansetzen? „Wir wollen ja auch, dass was in der
       Schule passiert. Wir müssen doch endlich mal Veränderungen zulassen.“
       
       Aber passiert mit einer Verfassungsviertelstunde tatsächlich etwas? Wird
       daraus mehr als eine Pflichtübung fürs gute Gewissen? Natürlich müsse das
       Format diskutiert werden, sagt Fleischmann. Es dürfe nicht zu einem
       inhaltsfreien Ritual werden. „Wir brauchen keine starren 15 Minuten.“
       Mehrfach spricht Fleischmann von der Notwendigkeit einer
       „White-Paper-Diskussion“: „Da stehen jetzt halt mal 15 Minuten auf dem
       Papier. Jetzt gilt es, das klug umzusetzen. Wie das dann genau ausgestaltet
       wird, wird sich zeigen.“
       
       ## Schule neu denken
       
       Letztendlich müsse man viel grundsätzlicher an das Thema rangehen. „Was
       soll dieses System Schule leisten? Was ist denn eigentlich der Auftrag von
       Schule?“ Wenn man diese Frage beantwortet hat, werde man auch der
       politischen Bildung einen angemessenen Raum in der Schule geben können. Sie
       selbst beispielsweise habe während ihrer aktiven Zeit als Lehrerin mit
       ihren Schülern jeden Tag erst mal eine halbe Stunde Zeitung gelesen. Ohne
       dass dies auf Kosten des Satzes des Pythagoras gegangen wäre. Das sei alles
       möglich.
       
       Was Fleischmann vorschlägt, ist nichts anderes, als Schule ganz neu zu
       denken. Aber ob das bayerische Bildungssystem so viel Reformwillen
       aufbringt? Die Lehrervertreterin gibt sich optimistisch. Schließlich habe
       man gute Voraussetzungen: eine neue Ministerin, einen neuen
       Koalitionsvertrag; und sie habe den Eindruck, dass Stolz neue Dinge
       ernsthaft angehe. Ein bisschen Vorschusslorbeeren müssen offenbar sein.
       
       Ein Anruf bei Heinrich Ritter im unterfränkischen Haßfurt. Der 19-Jährige
       geht ans dortige Regiomontanus-Gymnasium und spricht als
       Landesschülersprecher für rund 1,7 Millionen bayerische Schüler. In Sachen
       demokratischer Bildung sieht auch er dringenden Nachholbedarf. Von der
       Sinnhaftigkeit einer Verfassungsviertelstunde ist er nicht überzeugt: „Die
       jetzt irgendwo noch in den aktuellen Stundenplan reinzuquetschen“, hält er
       für schwierig. „Oder soll es noch mehr Unterricht für Lehrer und Schüler
       geben?“
       
       Sinnvoll wäre es, sagt Ritter, nicht nur jede Woche über die Verfassung zu
       reden, sondern zu überlegen, wie man generell an Schulen Werte noch besser
       vermitteln und auch über Tagespolitik sprechen könne. Ein wichtiger Punkt
       ist dabei in Ritters Augen die Medienkompetenz der Schülerinnen und
       Schüler. Diese seien so oft mit Fake News konfrontiert, sei es nun über
       Instagram oder TikTok. Ritter würde sich ein in der Schule verankertes
       Korrektiv wünschen, eine Hilfestellung, um Falschnachrichten mithilfe
       faktenbasierten Wissens als solche zu entlarven. „Damit wir uns da nicht
       selbst was aufgrund der oft zweifelhaften Berichte auf Social-Media-Kanälen
       zusammenreimen müssen.“
       
       Vor allem ist dem Landesschülersprecher wichtig, dass die Schülerinnen und
       Schüler in die Diskussion über die Ausgestaltung dieser Viertelstunde mit
       eingebunden werden. „Das Kultusministerium muss sich zusammen mit uns, den
       Eltern und den Lehrerverbänden an einen Tisch setzen. Schule wird nicht
       zentral vom Kultusministerium gemacht.“
       
       In einem ist der Schüler mit den früheren Lehrerinnen Triebel und
       Fleischmann völlig einer Meinung: Zunächst müsse man den Lehrplan
       entschlacken. Der sei aktuell definitiv zu voll. Sei das Wissenspensum, das
       die Lehrkräfte durchzupauken hätten, erst mal reduziert, gebe es auch mehr
       Freiraum für neue partizipative Unterrichtsformate, für politische Bildung.
       Vielleicht ja sogar mehr als eine Viertelstunde.
       
       22 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Hubert-Aiwanger/!t5544061
 (DIR) [2] /AfD-Waehler-in-Bayern-und-Hessen/!5965710
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominik Baur
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Bildungspolitik
 (DIR) Politische Bildung
 (DIR) Bayern
 (DIR) Markus Söder
 (DIR) GNS
 (DIR) Schwerpunkt Grundgesetz
 (DIR) Bildungspolitik
 (DIR) Schwerpunkt AfD
 (DIR) Prozess
 (DIR) Landtagswahl Bayern
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Söders Stegreifpopulismus: Kommissar Ex kläfft nur
       
       Unser Bildungssystem ist spitze, meint man in der Bayerischen
       Staatskanzlei. Und so kämpft Söder gegen die Abschaffung unangekündigter
       Tests in Schulen.
       
 (DIR) AfD in Bayern: Radikal, illegal, scheißegal
       
       Der rechtsextreme Burschenschaftler Daniel Halemba wurde vorübergehend
       verhaftet. Trotzdem strotzen die völkischen Netzwerke bei Bayerns AfD vor
       Kraft.
       
 (DIR) Geschäft mit Corona-Masken in Bayern: Knast für Tochter von CSU-Granden
       
       Andrea Tandler hat den Staat um Millionen geprellt. Jetzt muss die Tochter
       des CSU-Politikers Gerold Tandler für mehrere Jahre ins Gefängnis.
       
 (DIR) Bayerische Regierung präsentiert: Gruppenbild mit wenigen Damen
       
       Frisch gewählt, hat Bayerns Ministerpräsident Söder sein Regierungsteam
       vorgestellt. Statt Frauen gilt es in Bayern einen anderen Proporz zu
       beachten.