# taz.de -- Die Wahrheit: Die Wurst spielt mit
       
       > Gute Laune zum miesen Spiel: Eine neue Generation von Fußballfans wächst
       > heran und erfreut sich an den Schwächen der Nationalelf.
       
 (IMG) Bild: Trinität für Fans: Bier, Wurst und Arschbrötchen
       
       Das prall gefüllte Anton-Klein-Sportstadion steht Kopf. Der Stürmer des
       deutschen Perspektivteams für die Europameisterschaft 2024 zerreißt im
       Überschwang sein Trikot und sprintet Richtung Kurve, wo er sich von den
       ekstatisch ausrastenden Fußballfans feiern lässt. Zwar steht es laut
       Anzeigetafel immer noch 8:0 für die bärenstarken Luxemburger, aber immerhin
       hat er durch das Vortäuschen einer Verletzung den Gegner dazu provoziert,
       den Ball ins Seitenaus zu spielen.
       
       „Die DFB-Elf führt nach Einwürfen jetzt zwölf zu zehn!“, quiekt uns Dr.
       Charlotte Knuffke durch die „Oh, wie ist das schön“-Gesänge entgegen. Die
       studierte Psychologin ist Mentaltrainerin und bereitet am
       DFB-Trainingsstandort im rheinischen Hennef deutsche Stadionbesucher auf
       die EM im eigenen Land vor. Ihr vielversprechendes Konzept stellt sie heute
       der Presse vor.
       
       „Bei Attraktivität und erfolgreicher Spielweise sind von der
       Nationalmannschaft bis zum Turnier im Sommer wohl keine Quantensprünge mehr
       zu erwarten“, fachsimpelt die sympathische Mittvierzigerin. „Deswegen hat
       man nach den peinlichen Niederlagen gegen die Türkei und Österreich beim
       DFB beschlossen, die Gehälter der Spieler um 90 Prozent zu kürzen und den
       freigewordenen Schotter lieber in meine Wenigkeit zu investieren. Haha, wie
       geil ist das denn, bitte?“
       
       Wir folgen Knuffke in den Cateringbereich der Arena, wo wir mit der
       Verhaltenstherapeutin vor einem quietschbunten Imbisswagen stehen bleiben.
       „Das Geheimnis einer gesunden und ergebnisneutralen Fankultur liegt
       zunächst einmal im radikalen Senken der Erwartungen“, ramentert die
       Seelenklempnerin. „Und das fängt schon bei der Versorgung im Stadion an.
       Hier ist der Kaffee koffeinfrei, das Bier lauwarm, Brezeln werden
       grundsätzlich ohne Salz gebacken und die labbrigen Bratwürste sind vor der
       Fabrik von Uli Hoeneß vom Laster gefallen. Da, probieren Sie mal.“
       
       ## Essen zum Vergessen
       
       Wir schnabulieren uns einmal quer durch das reichhaltige Halbzeitangebot
       und müssen der Knuffke tatsächlich Recht geben. Egal was – es schmeckt
       einfach alles total öde, fad und zum Vergessen. Magerkost bietet auch das
       Unterhaltungsprogramm auf den Bildschirmen im Stadioninnenraum.
       
       „Hier laufen die schlimmsten deutschen Momente aus der Vorrunde der WM 2022
       und dem desaströsen 0:6 gegen Spanien in Endlosschleife“, gluckst die
       Freudianerin entzückt. Aus therapeutischer Sicht ein drastischer, aber
       unvermeidlicher Schritt. „Erst wenn man das Elend tief genug verinnerlicht
       hat, kann man anfangen, sich wieder über kleine Dinge wie einen plötzlichen
       Wadenkrampf oder ein hübsch herausgespieltes Eigentor zu freuen.“
       
       Der Weg zurück zum begeisterungsfähigen und bedingungslos unterstützenden
       Fan laufe aber nicht immer so reibungslos ab. Frau Knuffke führt uns zu
       einem benachbarten Kunstrasenplatz, an dessen Rand sich verwöhnte
       Erfolgsfans mit hohem Rückfallrisiko gerade unter Qualen ein Spiel der
       DFB-Reserve gegen San Marino geben müssen.
       
       Uns fällt auf, dass viele Kursteilnehmer sich beim Anschauen des trostlosen
       Ballgeschiebes entweder verstohlen in die Hand beißen oder mit
       schmerzverzerrtem Gesicht den Zeigefinger in ihren dampfenden Kaffeebecher
       stecken. Einem stämmigen Glatzenträger, dem im westfälischen Zungenschlag
       ein wütendes „Getz lauf schon, du Krücke!“ herausrutscht, verpasst Knuffke
       via Taser einen leichten Elektro-Denkanstoß mit Sofortwirkung. „Schade,
       Josua! Nächstes Mal!“, korrigiert dieser sich kleinlaut, indes die
       Analytikerin gar nicht erst versucht, ihr schadenfrohes Grinsen vor uns zu
       verbergen.
       
       ## Pfeifen ohne Finger
       
       Dabei sind kleine Unmutsäußerungen im Fan-Aufbaukurs durchaus noch erlaubt.
       „Pfeifen ohne Zuhilfenahme der Finger und mit gespitzten Lippen geht völlig
       in Ordnung“, erklärt die Hypnotiseurin. „Das hört sich für die Spieler aus
       der Ferne wie das Flötsolo von ’Don’t worry, be happy’ an und wirkt bei
       deftigen Pleiten sogar sehr aufmunternd.“
       
       Zurück im Anton-Klein-Sportpark ist die Stimmung auch nach Ende der Partie
       noch immer fantastisch. Während die Spieler in den deutschen Farben sich
       nach dem 0:12 auf ihrer Ehrenrunde für den Einwurf-Kantersieg feiern
       lassen, wird auf dem Rasen bereits alles für die Siegerehrung vorbereitet.
       Formschöne Trostpokale gibt es unter anderem für die meisten unfreiwilligen
       Ballkontakte und die schönste Flugkopfballzeitlupe ohne Berührung mit dem
       Spielgerät.
       
       Frau Knuffke ist sich sicher, dass ihr spaßorientierter Therapieansatz die
       Fankultur auf Jahrzehnte prägen und in ganz Fußballdeutschland für Harmonie
       und Wohlbehagen sorgen wird. Und wenn die Mannschaft mit einem
       überraschenden Titelgewinn alles wieder auf null stellt? Zum Glück kann die
       knallharte Psychiaterin all unsere Zweifel mit dem Zücken ihres
       Elektroschockers zerstreuen. Jetzt sind auch wir uns absolut sicher: Das
       überaus glückliche EM-Vorrundenaus ist zum Greifen nah!
       
       1 Dec 2023
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Patric Hemgesberg
       
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