# taz.de -- Bilanz vom Jazzfest Berlin: Utopie des Miteinanders
       
       > Improvisation bleibt risikioreich. Das macht sie so spannend. Und das war
       > bei der 60. Ausgabe des Jazzfests Berlin wieder einmal zu erleben.
       
 (IMG) Bild: Aki Takase am Flügel
       
       Ein Bühnenbild wie ein Gemälde. Zwei schlanke und im Licht eines einzelnen
       Scheinwerfers schwarz glänzende Flügel schmiegen sich aneinander. Das Bild
       beschließt den ersten Konzertabend der 60. Edition des Berliner Jazzfests
       im Haus der Festspiele: [1][Aki Takase und Alexander von Schlippenbach],
       seit fast 40 Jahren als Duo spielend. Es ist ein berührender Anblick, als
       beide Hand in Hand die Bühne betreten.
       
       Der 85-jährige von Schlippenbach, elegant in schwarz, ist mit den Tasten
       wie verwoben, als er seine komplexen komponierten Miniaturen spielt.
       Takase, im langen Kleid, von dem die weißen Blattstrukturen herabzufließen
       scheinen, verbeugt sich mit ihrer als Requiem bearbeiteten Version von „Ida
       Lupino“, [2][dem berühmten Song der gerade verstorbenen Carla Bley].
       Vierhändig beschließen die beiden ihren Auftritt mit stehenden Ovationen
       des Publikums.
       
       Neben weiteren Verbeugungen des Jazzfests vor den Erneuerern der
       Improvisierten Musik, wie dem 83-jährigen Schlagzeuger Andrew Cyrille und
       dem 80-jährigen [3][Posaunisten Conny Bauer,] dessen Lebensleistung mit dem
       Albert-Mangelsdorff-Preis ausgezeichnet wurde, war ein weiterer Höhepunkt
       des Festivals, der sechsten Ausgabe unter Leitung von Nadin Deventer, der
       Auftritt des 79-jährigen Komponisten, Flötisten und Altsaxofonisten Henry
       Threadgill.
       
       ## Würdigung Henry Threadgill
       
       Threadgill gehört zur ersten Generation des Schwarzen
       Musiker*innen-Kollektivs AACM (Association for the Advancement of Creative
       Musicians) in Chicago, deren Klangsprache alle nachfolgenden
       Musiker*innen-Generationen beeinflusst hat. Threadgill brachte seine mit
       Spannung erwartete Auftragskomposition „Simply Existing Surface“ auf die
       Bühne, die er für die Kollaboration seiner Formation „Zooid“ mit dem
       Ensemble Potsa Lotsa XL der Berliner Altsaxofonistin Silke Eberhard
       entwickelt hatte. Die Suite für 15 Musiker*innen bestand aus einzelnen,
       variabel verschiebbaren Modulen für einzelne Instrumentengruppen und
       Solisten.
       
       Threadgill, der selbst Altsaxofon und Flöte spielt, hatte sich zwar im
       Vorfeld mit Silke Lange eine Dirigentin gewünscht, um sich auf sein eigenes
       Spiel konzentrieren zu können, übernahm dann jedoch spontan selbst die
       Regie und dirigierte von seinem Stuhl aus. In den ersten zehn Minuten noch
       vorsichtig mit der Komposition umgehend, wurde das Zusammenspiel dann
       flüssiger. Vor allem in den Soli konnten Silke Eberhard, aber auch der
       Trompeter Nikolaus Neuser und der Klarinettist Jürgen Kupke eigene
       Klangmodule bilden, die sich wie einzelne Zellen aus einem Organismus
       herauslösten und wieder integrierten.
       
       Ein hochkomplex angelegtes Werk, das auch mit Klang- und Lautstärketexturen
       operierte, in dem das Ensemble über die 60 Minuten der Aufführung, die live
       im Radio übertragen wurde, immer mehr zur Einheit wurde. Das Werk zeigte
       Threadgill als den großen Komponisten, dessen Würdigung in Europa längst
       überfällig war.
       
       Neben separaten Reihen innerhalb des Festivals, wie dem Chicago-Schwerpunkt
       „Sonic Dreams“ mit Mike Reeds „The Separatist Party“ und [4][Ben LaMar Gay]
       am Kornett, Marvin Tate am Mikrofon und dem Elektronik-Trio Bitchin Bajas,
       überzeugte die Programmierung der vier Konzerttage vor allem durch
       Auftritte junger Musikerinnen, [5][wie der kanadischen Trompeterin Steph
       Richards, die am Freitag über verschiedene Gerüche improvisierte]. Das
       übersetzte sich zwar nicht im Hören, jedoch wirkte Richards durch ihre
       hochintensive Spielpraxis dringlich und konzentriert.
       
       Ebenso das neue Projekt „matter 100“ der Pianistin Kaja Draksler, das die
       slowenische Musikerin mit ihrer Band um Sängerin Lena Hessels,
       Punk-Gitarrist Andy Moor, [6][Schlagzeuger Macio Moretti], Keyboarderin und
       Elektronics-Artist Marta Warelis und dem eine präparierte Drehleier
       spielenden Slowene Samo Kuti geprobt hatte.
       
       Die dadaistischen Texte und die teilweise per Vokoder verzerrte Stimme
       Hessels wurde zur Hommage an Laurie Anderson und Meredith Monk, während der
       Wechsel zwischen Punkpassagen und den ineinandergreifenden Klängen von
       Drehorgel, Klavier und Noise-Elementen für großen Spaß sorgte. Im Anschluss
       zeigte die 23-jährige Tenorsaxofonistin Zoh Amba virtuoses
       improvisatorisches Können und körperlichen Einsatz.
       
       ## Polyrhythmisches Gesamtkunstwerk
       
       Mitreißend geriet auch die Aufführung des Red Desert Orchestra unter
       Leitung der französischen Pianistin Eve Risser, die ein polyrhythmisches
       Gesamtkunstwerk präsentierte. Herausragend dabei Trompeterin Susana Santos
       Silva, die auch an den Tagen davor mit Fred Frith zeigte, was abseits des
       Gewohnten mit der Trompete möglich ist.
       
       Improvisation bleibt eben risikoreich, das macht sie so spannend. Eine
       Bestätigung waren ausverkaufte Konzerte in Berlin und glückliche
       Musiker*innen, die sich in den Pausen unters Publikum mischten und den
       Konzerten der Konkurrenz zuhörten. Ein Miteinander, das innerhalb einer
       gerade zersplitternden Welt eine kurze Utopie der Hoffnung lebte.
       
       8 Nov 2023
       
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