# taz.de -- Experte über Social Media und Krieg: „Können unseren Augen nicht trauen“
       
       > Auf Handys stehen News neben Urlaubsbildern und Selfies neben Propaganda.
       > Wissenschaftler Andrew Hoskins über den Einfluss sozialer Medien auf
       > Kriege.
       
 (IMG) Bild: Hamas-Foto des 7. Oktobers, die das israelische Militär internationalen Journalisten zeigte
       
       taz: Memes, Katzenbilder, Urlaubsfotos von Freund*innen – und dazwischen
       Videos und Fotos vom Krieg. Wie hat Social Media unsere Wahrnehmung
       verändert, Herr Hoskins? 
       
       Andrew Hoskins: Social Media hat die etablierte Ordnung der Produktion,
       Verbreitung und Rezeption von Nachrichten aufgelöst und sie mit dem
       ständigen digitalen Austausch von Meinungen und Erfahrungen verwoben.
       
       Nicht nur die Trennung von Privatem und dem Weltgeschehen ist neu. Auch die
       schier unendliche Menge an Nachrichten. 
       
       [1][In der Rundfunk-Ära bis zum Ende des 20. Jahrhunderts] hatten
       Nachrichtenagenturen und Zeitungen ein Monopol auf die Darstellung der
       Welt. Als ich klein war, hatten wir drei Fernsehkanäle, Radio und
       Zeitungen. Die Möglichkeit, mich zu informieren, war begrenzter.
       
       Dann kamen Soziale Medien und die etablierte Ordnung war gebrochen. Wozu
       führte das? 
       
       Wir leben dadurch in zersplitterten Realitäten. Ich kann eine Version eines
       Krieges sehen, während jemand, der im selben Raum sitzt, eine andere
       Version desselben Konflikts gezeigt bekommt. Es entstehen algorithmisch
       aufgeladene Echokammern, in denen einem mehr von dem präsentiert wird, was
       man geliked oder geteilt hat.
       
       Sind wir heute nicht trotzdem besser informiert? 
       
       Uns steht eine Fülle von Informationen mit nur einen Klick oder einen Swipe
       zur Verfügung. Aber sie sind nicht für jeden im selben Maße zugänglich.
       Nicht nur digitale Überlastung und Ablenkung hindern uns daran, uns zu
       informieren. Es wird auch schwieriger, die Herkunft und den Wahrheitsgehalt
       von Nachrichten festzustellen.
       
       Oft könnten wir aber über seriöse Quellen im Internet schnell herausfinden,
       ob etwas wahr ist. 
       
       Ja, die Informationen sind verfügbar, aber nicht für alle gut zugänglich.
       Millionen von Nachrichten und Videos wurden von Bürgern, Soldaten und
       Journalisten seit Beginn des Ukraine-Kriegs aufgenommen. Obwohl der
       russische [2][Krieg gegen die Ukraine im Jahr 2022] der am besten
       dokumentierte Krieg der Geschichte ist, nimmt unsere Aufmerksamkeit ab,
       weil wir ununterbrochen mit neuen Konflikten kontrontiert werden.
       
       Worin besteht hier die Herausforderung, insbesondere im Zeitalter der
       sozialen Medien? 
       
       Vor ein paar Jahren war das Bild, das die Mainstream-Nachrichten und die
       sozialen Medien von der Welt zeichneten, ziemlich neutral. Schlimme
       menschliche Brutalität wurde durch Regulierung und Zensur an den Rand
       gedrängt. Heute dringt der Horror häufiger in das öffentliche Bewusstsein
       ein.
       
       Welche Plattformen spielen dabei eine besondere Rolle? 
       
       [3][Telegram] ist ein Game Changer. Der Messaging-Dienst ist einzigartig.
       Dort strömen grafische und brutale Bilder vom Schlachtfeld mit begrenzter
       Moderation ein. Es geht nicht vorrangig um Likes und automatische
       Freigaben. Außerdem werden die Kanäle genutzt, um Spenden für den Krieg zu
       sammeln. Nicht Algorithmen sind hier an der Macht, sondern die Nutzer.
       Telegram könnte eine Rückkehr zu den „offenen“ Werten des Web 1.0 sein,
       doch stattdessen werden wir mit den Abgründen der Menschheit konfrontiert.
       Es ist die perfekte Waffe in der psychologischen Kriegsführung.
       
       Wie hat die Hamas Telegram genutzt, um ihren Angriff auf Israel zu
       inszenieren? 
       
       [4][Die Hamas filmte die Massaker in Israel am 7. Oktober]. Sie luden die
       Inhalte auf Telegram hoch. Diese verbreiteten sich dann auf X (a.d.R.:
       ehemals Twitter), Instagram und anderen Plattformen. Gewaltvideos finden
       ihren Weg über das schwächste Glied in die globale Medienlandschaft. Sobald
       Inhalte auf einer Plattform mit genügend Nutzern eingedrungen sind,
       verbreiten sie sich weiter. In der heutigen Kriegsökonomie ist dieses
       schwächste Glied Telegram.
       
       Auf Plattformen wie Facebook oder Tiktok können Moderations-Teams solche
       Inhalte entfernen. Bei Telegram bleiben sie stehen. 
       
       Die Plattformen wenden unterschiedliche Strategien bei der Moderation an,
       auch abhängig davon, aus welchem Land heraus sie agieren. Doch keine
       Plattform hat eine unfehlbare Methode, um das Teilen von Desinformation und
       Extremismus zu verhindern. Auf Telegram moderieren vor allem die Betreiber
       der Kanäle, indem sie Mitglieder aus ihrem Kanal entfernen, die
       unerwünschte Inhalte posten.
       
       Welche Rolle spielt „Compassion Fatigue“ – fehlendes Mitgefühl, das aus
       emotionaler Abstumpfung durch Überforderung resultiert – bei den
       Konsumenten von Medieninhalten? 
       
       Die Theorie der „Compassion Fatigue“ hat ein Problem: Sie geht davon aus,
       dass Menschen, die brutale Fotos und Nachrichten von Kriegen sehen, sich
       überhaupt für Krieg und Leid interessieren. Ich sage nicht, dass Krieg den
       Menschen egal ist. Doch sie wissen nicht, wie sie auf die schier unendliche
       Zahl der Darstellungen menschlichen Leidens reagieren sollen. Das wirkt
       sich auch auf ihre Handlungsbereitschaft aus. Man ging bisher davon aus,
       dass die Berichterstattung über die Statistik von Tausenden Menschen, die
       in einem Flüchtlingslager leiden, Leser nicht zum Spenden motiviert, da das
       dargestellte Problem zu komplex ist. Das Foto einer einzelnen
       hilfsbedürftigen Familie könnte hingegen eine stärkere Reaktion
       hervorrufen, da es vorstellbar ist, dass man mit einer kleinen Spende
       helfen, was verändern könnte. Ich bin mir aber nicht sicher, ob diese
       Formel der Bild-Reaktion-Handlung angesichts der Flut von Bildern überhaupt
       noch gilt.
       
       Es sind mehr Bilder von Kriegen und Konflikten im Umlauf als je zuvor. 
       
       Im aktuellen Krieg zwischen Israel und Hamas kursieren Bilder aus früheren
       Kriegen und sogar aus Videospielen, die zu Propagandazwecken genutzt
       werden. Menschen sind mit einer Mischung von Inhalten aus Vergangenheit und
       Gegenwart konfrontiert. Das schwächt das Vertrauen. Wir leben in einer
       Post-Trust-Ära, in der wir unseren Augen nicht trauen können. Die digitalen
       Kriege des 21. Jahrhunderts scheinen ungeklärt.
       
       Hinzu kommt, dass manche der neueren Bilder KI-generiert sind. 
       
       [5][KI verstärkt das Vertrauensproblem]. Die Kriege des 20. Jahrhunderts
       sind in der Geschichte verankert. Es gibt einen gewissen Konsens darüber,
       was passiert ist, von den Tätern, den Ursachen, den Auswirkungen. Natürlich
       tauchen manchmal neue Fakten auf. Heute wird jedoch stärker ein Krieg der
       Bilder geführt, mit Fälschungen und teilweise durch KI generierten Visionen
       der Welt. Auch wenn ein Krieg endet, ist es heute wahrscheinlicher, dass
       irgendwo noch Bilder auftauchen, die den Blick darauf verändern.
       
       14 Nov 2023
       
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