# taz.de -- Eskalation in Nahost: „Es gibt hier keinen sicheren Ort“
       
       > Was sagen die Menschen vor Ort zur Gewalt zwischen Israel und Hamas? Ein
       > Dekan aus Gaza, eine israelische Zivilistin und ein Reservist berichten.
       
 (IMG) Bild: Palästinensische Rettungskräfte nach einen israelischen Luftangriff in Gaza-Stadt am 9. Oktober
       
       Tel Aviv taz | Wie nehmen die Menschen vor Ort die Gewalteskalation
       zwischen Israel und der radikal-islamischen Hamas wahr? Die taz hat am
       Montag einige Stimmen eingeholt.
       
       ## Wesam Amer, Dekan an der Universität Gaza
       
       Mit meiner Familie habe ich unser Haus im Süden von Gaza verlassen, wir
       halten uns jetzt in der Nähe auf. Die Situation hat sich in der letzten
       Nacht extrem verschlimmert. [1][Gaza ist von allem abgeschnitten]. Es gibt
       nur noch zwei Stunden am Tag Strom, die Wasserversorgung fällt immer wieder
       aus.
       
       Die israelischen Luftangriffe zielen jetzt auch auf Wohnhäuser, sodass
       Tausende Menschen aus ihren Häusern fliehen. Es gibt immer wieder Warnungen
       der Armee auf die Telefone der Nachbarn, sodass wir die Häuser verlassen
       und warten müssen, was sie bombardieren. Es gibt aber auch Angriffe ohne
       Warnung. Viele versuchen deswegen in den Schutzräumen des UN-Hilfswerks
       unterzukommen, die aber keinen vollkommenen Schutz bieten. Es gibt hier
       keinen sicheren Ort.
       
       Eine Eskalation wie die jetzige haben wir noch nicht erlebt. [2][Diese
       Widerstandsaktion der Hamas,] dass sie den Zaun durchbrechen und in
       israelische Siedlungen eindringen konnten, das hat uns überrascht. Ich
       hoffe darauf, dass Israels rechtsextreme Regierung daran zerbrechen wird.
       
       Ich rechne mit einer sehr heftigen Antwort Israels, die wiederum zu neuen
       Angriffen der Hamas führen wird. Und ich gehe davon aus, dass es zumindest
       einen teilweisen Einmarsch der israelischen Armee geben wird. Ich weiß
       nicht, wie wir uns darauf vorbereiten sollen.
       
       Ich habe eine deutsche Staatsbürgerschaft und versuche mit meiner
       schwangeren Frau Gaza über Ägypten zu verlassen, aber wir kommen nicht an
       die Grenze und die deutsche Vertretung hier ist nicht zu erreichen. Ich
       glaube, dieser Krieg wird noch sehr lange dauern.
       
       ## Ronit Farkash, Bewohnerin des israelischen Moschaws Tkuma
       
       Am Samstagmorgen war ich mit den Hunden spazieren, als die Sirenen
       eingesetzt haben. Hier in der Nähe von Gaza liegen zwischen dem Alarm und
       dem Einschlag 15 bis 30 Sekunden und unbewohnte Gebiete verteidigt der Iron
       Dome nicht, weil es zu teuer wäre. Also bin ich, so schnell ich konnte,
       zurück zu den Häusern gerannt. Ich lebe seit 20 Jahren im Moschaw Tkuma,
       etwa sieben Kilometer von Gaza entfernt, und mit mir mein Mann und zwei
       Töchter. Meine zwei ältesten Kinder sind bei der Armee.
       
       Wenn ich zurückschaue, ist es immer noch, als würde ich einen Film sehen.
       Wir wussten nicht, was passiert, bis wir auf den Bildschirmen unserer
       Kameras einen Pick-up mit Bewaffneten sahen. Ich glaube, wir hatten Glück,
       dass das Tor zu unserem Dorf wegen des Feiertags geschlossen war. Sie sind
       dann weitergefahren. Kurz darauf haben wir aus dem Nachbardorf Netivot
       Schüsse gehört. Danach kamen langsam die Nachrichten, [3][was passiert ist]
       und dass überall bewaffnete Terroristen auf den Straßen sind.
       
       Mein Mann wurde deswegen eingezogen, und weil ich nicht mit den zwei
       Kindern im Schutzraum bleiben wollte, sind wir trotz der Gefahr nach Norden
       gefahren. Dort bleiben wir jetzt, bis die Lage wieder unter Kontrolle ist.
       
       Ich weiß nicht, wie es hier weitergehen soll. Diese Dörfer, in denen die
       Hamas Menschen umgebracht und entführt hat, werden nie wieder dieselben
       sein. Viele Leute werden nicht zurückkehren und ihre Kinder aufziehen, wo
       ihre Freunde oder Nachbarn abgeschlachtet wurden. Wir vertrauen unserer
       Regierung nicht mehr, es hat jedes Gefühl von Sicherheit zerstört.
       
       Nach dem, was sie mit uns gemacht haben, will ich, dass die Armee etwas
       Drastisches unternimmt. Ich will, dass es diesmal [4][nicht bei
       Luftangriffen bleibt]. Ich will, dass sie jedes Mittel einsetzen, um auch
       den letzten Hamas-Anhänger zu treffen, selbst wenn es auf Kosten
       Unschuldiger geht.
       
       ## Shalom, israelischer Reservist aus Tel Aviv
       
       Bisher war ich als Reservist [5][an allen Operationen] beteiligt. Im
       Libanon und auch in Gaza. Es war für mich immer selbstverständlich, zu
       gehen, wenn „der Anruf“ kam: Um meine Familie und meine Freunde zu
       schützen. Sie haben mich jetzt wieder angerufen, und ich weiß noch nicht,
       was ich tun soll. Es fühlt sich sehr fremd an, nicht zu gehen. Den größten
       Teil meines Erwachsenenlebens war ich in Situationen wie diesen kein
       Zivilist.
       
       Doch diesmal ist es anders. Ich habe den Feiertag am Samstag mit meiner
       Partnerin bei ihrer Familie verbracht. Zu sehen, wie sich alles entwickelt
       hat, war schockierend. Wir kennen den üblichen Ablauf, es ist wie eine
       düstere Routine: Die Hamas oder die anderen Organisationen schießen
       Raketen, dann gibt es Luftangriffe und am Ende verhandelt Katar oder
       Ägypten einen Waffenstillstand. Aber seit klar wurde, was dort passiert
       ist, bin ich extrem wütend und traurig. Was wir erleben, ist anders als
       alles, was ich je erfahren habe. Ich glaube, selbst meine Eltern haben nie
       eine derart schlimme Situation erlebt.
       
       Ich kann nicht ignorieren, wie viel Macht unsere Politiker in den letzten
       15 Jahren über die Situation hatten und wie ihre Politik der Hamas dabei
       half, zu wachsen. Dass es sehr wohl Chancen und Möglichkeiten gab, einen
       Dialog mit vernünftigeren Stimmen in der palästinensischen Gesellschaft zu
       suchen. Dass sie hätten verhindern können, dass sich eine Situation wie
       jetzt in Gaza jemals hätte so entwickeln können.
       
       Und wo war die Armee jetzt, als es passiert ist? Offenbar war ein Großteil
       im Westjordanland damit beschäftigt, Siedler dabei zu schützen, wie sie
       ihre Gottesdienste vor Palästinensern abhalten. Es ist verrückt, wie dünn
       besetzt die Grenze zu Gaza gewesen sein muss.
       
       Ich hoffe, dass es der Armee gelingt, die Hamas dort dieses Mal wirklich zu
       besiegen. Vielleicht kann sich dann auch die Situation für die
       Palästinenser wieder verbessern. Und ich glaube, dazu braucht es eine
       Bodenoffensive. Ob ich selbst gehe, weiß ich noch nicht.
       
       9 Oct 2023
       
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