# taz.de -- Wasserkraft im Tiroler Kaunertal: Auf Talfahrt
       
       > Das Platzertal in Tirol soll einer Wasserkraftanlage weichen.
       > Naturschützer, Landwirte und Paddler warnen vor irreversiblen Schäden.
       
 (IMG) Bild: Bislang nur vom Licht geflutet: das Platzertal in Tirol, eine Hochmoorlandschaft und CO2-Senke
       
       Auf mehr als 2.000 Metern über dem Meeresspiegel steht die Platzeralm wie
       das Pförtnerhäusl zu einer höheren Welt. Hinter dem Haus weiden Kühe, man
       hört Almglockengeläut. Ein Wandersteig windet sich bergan. Almrosen
       leuchten pinkfarben zwischen Steinen. Vielerorts tritt Wasser aus dem Hang,
       gurgelt bergab. Nach einer Stunde Anstieg flacht die Landschaft ab, gibt
       den Blick nach vorne frei.
       
       Eine fast asketische Landschaft breitet sich aus. Zwischen alpinen Wiesen
       und samtenen Moospolstern legt der Platzbach sein blaugrünes Band. Zwischen
       Torfbuckeln liegen Tümpel. Kein Baum, kein Strauch. Auch keine Hütte, keine
       Wegbeschilderungen. Es ist ein Stück unverfügte Natur.
       
       Nur heute sind am Taleingang ungewöhnlich viele, vor allem junge Leute
       unterwegs. Sie hantieren mit Seil und Reepschnüren, entrollen Banner. Als
       insgesamt 50 Meter Stoff über das Bachbett gespannt sind, kann man darauf
       in schwarzen Lettern lesen: „Platzertal bleibt!“ Die rund 20 Aktivisten
       kommen von den Umweltverbänden WWF und Global 2000 sowie dem
       Naturschutzverein WET, „Wildwasser erhalten Tirol“.
       
       Die Stelle haben sie für die Aktion bewusst gewählt. Von beiden Seiten
       rücken hier die Berge V-förmig zusammen, bilden einen Flaschenhals.
       Topografisch ideal in den Augen eines Ingenieurs, um hier eine Talsperre zu
       ziehen. Genehmigt die Politik die Pläne der Tiwag, der Tiroler Wasserkraft
       Aktiengesellschaft, wird hier in wenigen Jahren eine rund 120 Meter hohe
       und 400 Meter breite Betonmauer errichtet.
       
       ## Eine Mauer, so hoch wie der Stephansdom
       
       120 Meter – das ist in etwa so hoch wie der Stephansdom in Wien oder 20
       Meter höher als die Münchner Frauenkirche. Moorflächen im Ausmaß von etwa
       neun Fußballfeldern würden anschließend geflutet. Der neue Speichersee
       würde dann über Rohrleitungen mit dem tiefer liegenden Wasserkraftwerk
       Kaunertal verbunden.
       
       Bettina Urbanek, dunkle Haare, festes Schuhwerk, steht neben einem
       flechtenbewachsenen Findling und gibt der Presse Interviews. Sie ist für
       diese Aktion eigens aus Wien angereist und in das Hochtal aufgestiegen. Die
       Gewässerökologin beim WWF Österreich verfolgt dieses Ausbauprojekt seit
       mehr als einem Jahrzehnt.
       
       Urbanek findet klare Worte: „Dieses Hochtal samt seinem Moorgebiet auf
       2.350 Meter Seehöhe für ein Pumpspeicherkraftwerk zu fluten ist massiv
       naturzerstörerisch und energiewirtschaftlich so nicht nötig“, sagt sie. „Es
       ist ein Märchen, dass dieser Bau in Zeiten der Energiewende alternativlos
       sei – das soll nur die veraltete Planung der Tiwag kaschieren.“
       
       Die Tiroler Wasserkraft AG gehört zu hundert Prozent dem Land, es betreibt
       den Löwenanteil der über 1.000 Wasserkraftwerke in Tirol. Nun hat der
       Energieversorger die Pläne zum Ausbau des Kraftwerks Kaunertal zum
       wiederholten Male zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) eingereicht.
       
       ## Schweres Gerät in sensible Bergregionen
       
       Wobei der Begriff „Ausbau“ die Dimension der Baumaßnahmen nur unzureichend
       wiedergibt. De facto wäre es eines der größten Wasserkraftprojekte in
       Europa, mit unumkehrbaren ökologischen Auswirkungen auf drei Täler. Die
       Rede ist von drei Baustellen, die eine Fläche von insgesamt 19 Hektar
       betreffen würden.
       
       Rund 23 Kilometer Stollen von bis zu sechs Meter Durchmesser müssten in den
       Berg getrieben werden, teilweise unter Naturschutzgebieten hindurch.
       Schweres Gerät müsste in sensible Bergregionen verbracht werden, Flüsse
       abgeleitet. Aktuell veranschlagte Kosten: mehr als 2 Milliarden Euro. Ginge
       es nach der Tiwag, wäre der Baubeginn schon 2028.
       
       Das Unternehmen rechtfertigt das Ausbauvorhaben mit dem Verweis auf die
       österreichische Energiestrategie. Die Republik will bis 2040 klimaneutral
       werden. Wie überall bringt die Dekarbonisierung zunächst eine massive
       Erhöhung des Strombedarfs mit sich. Nach Aussagen des Bundesministeriums
       für Klimaschutz wird sich der Strombedarf Österreichs bis 2040 um 50 bis 70
       Prozent erhöhen, weil die fossilen Energieträger ersetzt werden müssen.
       
       Ausbauziel an erneuerbaren Energien für Österreich sind bis 2030 deshalb
       zusätzliche 27 Terawattstunden, davon 5 Terawattstunden aus Wasserkraft.
       Der Ausbau des Kraftwerks Kaunertal brächte laut Tiwag eine Leistung von
       zusätzlichen 886 Gigawattstunden im Jahr. Damit stiege das Unternehmen in
       eine höhere Liga der Erzeugungsgesellschaften auf.
       
       Zu der Protestaktion ist auch Marlon Schwienbacher gekommen. Der jugendlich
       wirkende Mann ist selbstständiger Biologe mit dem Schwerpunkt
       Vegetationsökologie. Seinem gebräunten Gesicht sieht man an, dass er viel
       im Gebirge unterwegs ist. Er hat eine Studie erstellt, die zeigt: Im
       Platzertal liegt einer der größten, fast unberührten hochalpinen Moor- und
       Feuchtgebietskomplexe Österreichs – seine Fläche erstreckt sich über mehr
       als 20 Hektar.
       
       „Das hier ist ein Lebensraummosaik aus Kleinstbiotopen, die über
       Wasserläufe miteinander vernetzt sind“, so der Wissenschaftler. Tiere und
       Pflanzen hätten sich hier über lange Zeiträume hinweg angepasst. „Das sind
       genau die Orte, die wir schützen müssen.“
       
       Moorlandschaften sind aber nicht nur Horte der Biodiversität, sie spielen
       auch eine bedeutende Rolle für den Klimaschutz. Torf ist Weltmeister in der
       Kohlenstoffspeicherung. Global betrachtet nehmen Moore nur 3 Prozent der
       Landfläche ein, aber speichern rund 30 Prozent des Kohlenstoffs.
       
       Dabei sind auch alpine Niedermoore Kohlenstoffsenken. „Ihre Vegetation
       entzieht der Atmosphäre den Kohlenstoff und trägt ihn unter
       Sauerstoffausschluss dauerhaft in die Böden ein – und zwar in großen
       Mengen“, so Schwienbacher. „Aber das tun nur Moore, die sich in einem guten
       Zustand befinden.“
       
       ## Immenser Speicherbedarf für den Klimaschutz
       
       Ein Besuch bei der Tiwag in Innsbruck. Am Eduard-Wallnöfer-Platz hat das
       Unternehmen seinen Hauptsitz. In der Glasfassade des Baus spiegeln sich die
       Skateboarder, die auf Betonrampen ihre Sprünge machen. Drinnen, im ersten
       Stock, setzt sich Wolfgang Stroppa an einen ovalen Konferenztisch und
       breitet einen Plan darauf aus. Der Diplomingenieur hat für das
       Ausbauprojekt leitende Funktion.
       
       Auf der Übersicht kann man erkennen: Herzstück des bestehenden Kraftwerks
       ist der Gepatsch-Speicher, ein Stausee aus den 60ern. In ihm wird jetzt das
       Wasser umliegender Bergbäche eingezogen. Von dort aus wird es abgelassen,
       treibt im Kraftwerk Prutz Turbinen an und wird in den Inn abgeleitet.
       Stroppa erklärt die Ausbaupläne: Zwei neue Kraftwerke mit Turbinenhäusern
       und Triebwasserwegen sollen entstehen, eines neben dem bereits
       existierenden, es hieße dann Prutz 2, und ein zweites zwischen
       Gepatsch-Speicher und dem neuen Speicher Platzertal mit Namen Versetz.
       
       Die zusätzliche Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien sei das Ziel,
       so der Tiwag-Ingenieur. „Zusätzliche Erzeugung heißt aber auch zusätzliches
       Wasser, das wir dafür benötigen.“ Das soll aus dem hinteren Ötztal kommen,
       davon wird später im Text noch die Rede sein. Dieses Plus an Wasser würde
       in den Speicher Gepatsch geleitet. Von dort könnte es über die Turbinen in
       den Inn abgelassen werden, oder zuerst hinauf in den neuen Speicher
       Platzertal gepumpt werden, gewissermaßen geparkt.
       
       „Das heißt, das Tal hat später andere Funktionen, als es davor hatte“, sagt
       Stroppa mit Hinblick auf das Platzertal. Diese Umwidmung rechtfertigt er
       mit dem Verweis auf die EU, die das Thema Speicherbedarf generell im Rahmen
       [1][der Klimaziele] ganz nach oben gesetzt habe. „Wir werden einen immensen
       Bedarf haben an Speicherung und an Ausgleichs- und Regelenergie“, sagt er.
       Diese Aussage ist erst einmal richtig.
       
       ## Schreckgespenst: Blackout
       
       Die Dekarbonisierung des Stromnetzes verlangt nach mehr Flexibilität zum
       Ausgleich der Schwankungen der Wind- und Solarstromerzeugung. Speicher sind
       dabei eine Möglichkeit, Flexibilität zu liefern. Und Pumpspeicherkraftwerke
       sind dank der Höhendifferenz eine Option, Energie zu speichern und die
       Einspeisung und Ausspeisung von Strom im Netz auszugleichen.
       
       Dies erklärt allerdings noch nicht, warum so ein Speicher in einem Hotspot
       alpiner Artenvielfalt gebaut werden muss. Die Energiewende bedeute,
       Kompromisse zu machen, so Stroppa, man müsse sich die Frage stellen: „Was
       bin ich bereit an Natur einzusetzen für die Erzeugung von erneuerbarer
       Energie?“
       
       In ihrem Werben um die Tiroler Bevölkerung nutzt die Tiwag ein weiteres
       Argument, das Wolfgang Stroppa auch im Gespräch mit der taz anführt. Das
       Thema Blackout. Das neue Pumpspeicherwerk könne bei einem großflächigen
       Stromausfall innerhalb des europäischen Verbundes die Netzspannung wieder
       aufbauen.
       
       Tatsächlich sind Wasserkraftwerke durch ihre mechanische Wirkweise – Wasser
       fällt durch die Schwerkraft auf Turbinen – „schwarzstartfähig“ und können
       im Krisenfall anforderungsgenau ins Netz speisen. Zur Wahrheit gehört aber:
       Das Kraftwerk Kaunertal vermag bereits jetzt einen Schwarzstart, so wie
       jedes andere Wasserkraftwerk, das an das Verbundnetz angeschlossen ist. Von
       denen gibt es in Tirol und Österreich bereits eine ganze Menge.
       
       ## Sprudelnde Ungezähmtheit
       
       Unter der Wellerbrücke bei Oetz tost die Ötztaler Ache. Sie donnert hier
       durch eine felsige Engstelle. Heute, an einem Sommernachmittag, wo die
       Sonne heiß auf die Ötztaler Ferner scheint, ist der Wasserpegel besonders
       hoch. Touristen stehen auf der Brücke, blicken übers Geländer in das
       Gesprudel, fasziniert von so viel Ungezähmtheit. Sie bestaunen die wenigen
       Kajakfahrer, die sich auf diesen schwierig zu fahrenden Abschnitt wagen,
       der in der Welt der Paddler weithin berühmt ist.
       
       Das Ötztal ist eines der letzten Täler Österreichs, in denen sich das
       Gletscherwasser auch in tieferen Lagen noch seinen natürlichen Weg suchen
       darf. Auf einer Strecke von 42 Kilometern durchzieht der Wildbach die
       Landschaft. Das Ötztal selbst ist ein inneralpines Trockental, von Natur
       aus niederschlagsarm. Es ist der Fluss, der dort ein Leben und Wirtschaften
       erst möglich macht.
       
       Doch bald könnte Schluss sein mit so viel Tosen und Rauschen. Die Tiwag
       möchte kurz vor dem Zusammenfluss von Venter und Gurgler Ache deren Wasser
       mittels zweier 25 Meter hoher Betonsperren in einem 500 Meter langen Becken
       aufstauen. Mehr als 70 Prozent der dortigen Wassermenge würden abgezweigt
       und dauerhaft in den Gepatsch-Speicher umgeleitet. Dafür müsste die Tiwag
       vom Kaunertal aus einen rund 23 Kilometer langen sogenannten
       Freispiegelstollen durch das Gebirge treiben. Für das Unternehmen ist das
       interessant: Das Volumen im Gepatsch-Speicher ließe sich damit fast
       verdoppeln.
       
       Reinhard Scheiber ist Obmann der Ötztaler Agrargemeinschaften und Gründer
       der Ötztaler [2][Bürgerinitiative gegen den Ausbau des Kraftwerks
       Kaunertal]. Die Initiative will, dass der Fluss im Tal verbleibt. „Für uns
       hat unser Wasser einen viel größeren Wert als nur die Energie, die in ihm
       steckt“, sagt er. „An ihm hängt alles dran – Landwirtschaft, Tourismus,
       Lebensqualität, Trinkwasser!“ Würde der Flusspegel sinken, sei die
       Absenkung des Grundwasserspiegels zu befürchten. „Das hätte Folgen auf
       unsere Futterwiesen“, so Scheiber.
       
       ## Trockene Wiesen
       
       Schon jetzt müsse man diese in trockenen Sommern bewässern. Die Landwirte
       sähen die Auswirkungen der Klimakrise auch auf den Almen. „Dort fallen
       Bäche trocken“, sagt Scheiber. „Dann müssen unsere Tiere weite Wege zur
       nächsten Tränke gehen.“ Die wenigsten Menschen im Tal seien komplett gegen
       die Nutzung von Wasserkraft. Aber dann sollten es bitte Laufkraftwerke in
       Gemeindehand sein.
       
       So bliebe das Wasser vor Ort und in Notzeiten verfügbar. „Geben wir es
       jetzt an die Tiwag, sind die Wasserrechte für 90 Jahre verloren“, sagt
       Scheiber. Das könne man gegenüber nachkommenden Generationen nicht
       verantworten. „Kann ich Geld trinken?“, so der Landwirt.
       
       Jürgen Neubarth kommt nicht aus der Riege der Naturschützer. Er sieht die
       Dinge aus energiewirtschaftlicher Sicht. Der Ingenieur berät
       österreichische und deutsche Unternehmen, Gemeinden, Behörden sowie NGOs zu
       Energiethemen. Für den WWF Österreich hat er das Ausbauprojekt Kaunertal
       analysiert.
       
       Er bezweifelt die Notwendigkeit, das Platzertal in einen Stausee zu
       verwandeln. „Es fehlt das übergeordnete öffentliche Interesse, wie es durch
       die europäischen Ausbauziele für den Ausbau der Erneuerbaren gilt“, so
       Neubarth. Tatsächlich würde der neue Platzer-Speicher und das Kraftwerk
       darunter gar keinen Strom aus den Erneuerbaren erzeugen, sondern beides
       würde nur dazu dienen, das Wasser zu speichern. „Und das mit Verlusten,
       weil das Wasser erst gegen die Schwerkraft nach oben gepumpt werden muss.“
       
       ## Geld statt Wasser
       
       Den Zeitdruck, mit dem die Tiwag das Projekt durchbringen will, sieht er
       kritisch. „Es gibt weder in Tirol noch in Österreich eine übergeordnete
       Speicherstrategie, die benennt, wie viel Speicherkapazitäten wir parallel
       zum Ausbau von Wind und Sonne überhaupt brauchen.“ Der bisherige Ausbaugrad
       von Photovoltaik liegt in Tirol derzeit bei 2,3 Prozent, Windkraft bei null
       Prozent.
       
       Außerdem sei die Energiewende kein Tiroler, sondern vielmehr ein
       europäisches Projekt. „Ein Speicher, der das europäische Verbundnetz
       stabilisieren soll, kann also auch woanders stehen als im Platzertal – der
       kann auch in Thüringen stehen.“
       
       Überdies gäbe es gelungene Beispiele dafür, ältere Pumpspeicherkraftwerke
       ohne große Naturzerstörung effizienter zu machen, wie etwa das Vorarlberger
       Kraftwerk Kops 2. Bei dem ist es durch die Optimierung der bestehenden
       Infrastruktur gelungen, 525 Megawatt Stromleistung zusätzlich zu
       generieren. Repowering nennt sich das. Ohnehin gelte, so Neubarth, eine
       alte energiewirtschaftliche Weisheit: „Die günstigste und effizienteste
       Flexibilitätsmöglichkeit ist der Stromnetzausbau.“
       
       Warum drängt die Tiwag dann so auf diesen Speicher? Auf die Frage lacht
       Neubarth: „Die wollen halt Geld verdienen, und das kann man mit dem
       Projekt.“ Was ein Pumpspeicherwerk wirtschaftlich interessant mache, sei,
       das Wasser mehrmals am Tag zwischen Unter- oder Oberbecken hin- und
       herzuschicken. „Wenn mittags dank Sonneneinstrahlung viel günstiger
       PV-Strom an der Strombörse zu haben ist, wird das Wasser nach oben in die
       Reserve gepumpt.
       
       ## Anwalt der Natur
       
       Und es wird etwa dann heruntergelassen, wenn die Sonne nicht mehr scheint,
       in den Haushalten der Bedarf steigt und die Preise hochgehen. Das geht rauf
       und runter die ganze Zeit, 2.000 Stunden im Jahr. Billig Strom kaufen,
       teuer verkaufen – das ist die Idee.“
       
       Noch einmal nach Innsbruck, Meraner Straße. Nur wenige Gehminuten vom
       Hauptsitz der Tiwag entfernt hat die Tiroler Umweltanwaltschaft ihre Büros.
       Diese vom Staat bezahlte Institution gibt es in Österreich in jedem
       Bundesland. Der Biologe Johannes Kostenzer leitet die Tiroler Einrichtung.
       In ihm hat die Natur einen starken Fürsprecher. „Ich bin dazu vereidigt, in
       Behördenverfahren die Interessen der Natur zu vertreten“, erklärt er.
       
       Wie ein Naturschutzverband hat er Parteistellung, wenn größere Bauten oder
       Infrastrukturmaßnahmen geplant sind. Kostenzer hat das Recht auf
       Akteneinsicht, er kann Pläne einsehen und darf bei Verhandlungen
       Stellungnahmen abgeben. Dazu hat er Weisungsfreiheit. „Mir kann kein
       Politiker reinreden“, sagt er. Kostenzer spricht ruhig und überlegt. Er hat
       viel Erfahrung mit Konflikten dieser Art. Rund 1.250 Fälle im Jahr landen
       bei ihm und seinen Mitarbeitern.
       
       Noch mehr erneuerbare Energie aus Tiroler Flüssen zu ziehen hält er für
       eine Fehlentwicklung, weil diese Technologie wieder den ökologischen
       Lebensraum Gewässer belaste. Tatsächlich befinden sich 43 Prozent der
       Tiroler Fließgewässerstrecken, gemessen an den Kriterien der
       EU-Wasserrahmenrichtlinie, ökologisch in einem sehr schlechtem Zustand.
       
       ## Die Gletscherschmelze nicht einberechnet
       
       Kostenzer spreizt fünf Finger. „Wir können die gesunden Flussabschnitte in
       Tirol an nur einer Hand abzählen“, so der Umweltanwalt. „Aber gerade in
       Zeiten der Klimakrise brauchen wir intakte Gewässer dringend.“ Das Gleiche
       gelte für Moorflächen, die bei Starkregen natürliche Wasserrückhalte sind.
       „Solche Räume aufs Spiel zu setzen geht völlig gegen die Intention des
       [3][Nature Restoration Law] zur Wiederherstellung der Natur, für das gerade
       erst das EU-Parlament abgestimmt hat.“
       
       Der Umweltanwalt spricht noch einen Fakt an. „Die hydrologische Planung der
       Tiwag ist viele Jahre alt, sie ist gar nicht angepasst an die
       Gletscherschmelze in ihrer Gewaltigkeit.“ Tatsächlich schmelzen die
       Ötztaler Ferner rasant. „In den nächsten 20 bis 30 Jahren wird ein
       wesentlicher Anteil von dem Wasser, das die Tiwag neu einziehen will, nicht
       mehr da sein“, so Kostenzer. „Gerade weil wir nicht wissen, welche
       Auswirkungen das Schmelzen der Gletscher auf Grundwasser und Quellen haben
       wird, muss die Politik bei der Entscheidung zu diesem Projekt dem
       Vorsorgeprinzip eine entscheidende Rolle geben.“
       
       In der Vergangenheit haben Umweltverbände oft gegen die Ingenieursträume
       der Tiwag protestiert und den Kampf verloren. Doch jetzt formiert sich
       breiterer Widerstand. Eine tälerübergreifende Allianz ist entstanden,
       Umweltschutzorganisationen, Bürgerinitiativen, Wissenschaft gehen in den
       Schulterschluss mit Vertretern von Landwirtschaft und Tourismus.
       
       Und dann ist da noch WET, gegründet von Kajakfahrerinnen, die sich nicht
       allein aus Eigeninteresse, sondern auch aus ökologischen Beweggründen für
       Fließgewässer einsetzen. Denn Querbauten und Ableitungen blockieren nicht
       nur Paddelstrecken. Sie bringen das System Fluss durcheinander, im Wasser
       und an seinen Ufern – und so auch seine für den Menschen unverzichtbaren
       Leistungen. In der [4][Filmdokumentation „Der letzte Tropfen“] haben die
       WET-Aktivistinnen die Stimmen und Argumente gegen den Ausbau des
       Kaunertalkraftwerkes zusammengetragen.
       
       ## Natur als Warenlager?
       
       Anfang des Jahres hat die Tiwag ihre Ausbaupläne zur vorgeschriebenen
       Umweltverträglichkeitsprüfung eingereicht. Im Juli schrieb die [5][Tiroler
       Tageszeitung], dass die Behörden dem Unternehmen einen Verbesserungsauftrag
       in 18 von 36 überprüften Fachbereichen erteilt haben – vor allem, weil in
       den Unterlagen die Folgen der Klimakrise unzureichend berücksichtigt
       wurden. Bis März 2024 müssen die Unterlagen überarbeitet werden.
       
       Frühestens 2025 wird es zu einem ersten Behördenentscheid kommen. Dann wird
       sich zeigen, ob die Tiroler Landesregierung eine Energiepolitik fortführt,
       die Natur als Warenlager versteht, Hochtäler in riesige Wannen verwandelt
       und Flüsse auf Knopfdruck an- und ausschaltet. Oder ob sie der Strategie
       des österreichischen Bundesministeriums für Klimaschutz folgt, die
       ausdrücklich den Ausbau von Sonnenkraft und Windenergie forcieren will.
       
       Laut einer [6][Studie der Tiroler Landesregierung] beträgt das ausbaufähige
       Photovoltaikpotenzial allein auf Dachflächen 4,6 Terawattstunden. Deutlich
       mehr, als der Ausbau des Kraftwerks Kaunertal mit dem Einzug der Ötztaler
       Ache und der Flutung des Platzertals bringen würden.
       
       6 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Basis-fuer-besseres-Klimaziel/!5894540
 (DIR) [2] https://www.lebenswertes-kaunertal.org/
 (DIR) [3] https://environment.ec.europa.eu/topics/nature-and-biodiversity/nature-restoration-law_en
 (DIR) [4] https://www.youtube.com/watch?v=4p8aUPZcXOk
 (DIR) [5] https://www.tt.com/artikel/30845959/tiwag-am-zug-entscheidende-tage-fuer-das-kaunertal
 (DIR) [6] https://www.tirol.gv.at/fileadmin/themen/umwelt/wasser_wasserrecht/PV-FREIFLAECHEN-Bericht-fi.pdf
       
       ## AUTOREN
       
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