# taz.de -- Ausstellung „Lose Enden“ in Hamburg: Bedeutsame Textilien
       
       > Flechtmatten von den Marshall-Inseln erzählen viel über Kolonialisierung,
       > Atomwaffentests und Klimawandel. Das zeigt eine Ausstellung im MARKK.
       
 (IMG) Bild: Gutes Geschäft mit Kokosplantagen: Kaufmann Adolph Capelle mit seiner Frau Limenwa, ca. 1879 – 1882
       
       Es sind ja bloß Matten. Und nein, es sind nicht bloß Matten. Es sind
       hochkomplexe Flechtwerke, auch wenn sie zunächst nicht so wirken: Dezent,
       fast unscheinbar hängen die mit braun-beige Mustern überzogenen Matten aus
       Hibiskus- und Kokosfasern auf algengrünen Museumswänden. Sie stammen von
       den [1][Marshall-Inseln] im West-Pazifik, entstanden zwischen 1900 und 1940
       und gehören zur Ausstellung „Lose Enden“ des Hamburger „Museums am
       Rothenbaum. Kulturen und Künste der Welt (MARKK)“.
       
       Wer mag, kann abstrahierte Vögel und Reptilien in die Muster hineinlesen.
       Doch dahinter liegt mehr: Diese zunächst so „folkloristisch“ wirkenden,
       einst als Kleidungsstücke verwendeten Matten – von der hellen „weiblichen“
       Mitte her gewoben und dann von einer „männlichen“ Bordüre eingefasst –
       zeigen Gesellschaftsschicht, Erbfolge und Segenswünsche an. Ganz streng
       reglementiert waren die Codes dabei nicht. Der oder die FlechtkünstlerIn
       konnte auch selbst erfundene Symbole hinzufügen, deren jeweilige Deutung
       offen bleibt.
       
       Das änderte sich erst, nachdem 1857 britische Kolonisatoren eine
       Missionsstation samt Schule auf Ebon errichteten, einer der über 1.000 zu
       Mikronesien gehörenden Inseln. Die heißen eigentlich „jolet jen Anij“
       („Geschenke von Gott“). Ihr europäischer Name bezieht sich auf John
       Marshall, der die Inseln 1788 als erster Brite angesteuert und erstmals
       kartiert hatte.
       
       Im puncto Kleidung agitierten die Missionare von Anfang an gegen die
       oberkörperfreien Matten, plädierten für Baumwollkleider. So verschwand die
       Kulturtechnik des Mattenflechtens im Laufe der Jahre weitgehend – und mit
       ihr die „biologisch abbaubaren“ Textilien.
       
       Nur in Museen des globalen Nordens gibt es noch Matten, von den
       Kolonialmächten hergebracht. „Ausgezeichnete Leistungen sind die schönen
       Matten und die großen Kanus …“ steht noch heute auf der revisionistischen
       Homepage „deutsche-schutzgebiete.de“: 1885 besetzte das Deutsche
       Kaiserreich die Inseln, die dann 1906 Teil der [2][Kolonie
       Deutsch-Neuguinea] wurden.
       
       Da waren deutsche Händler, die auf den lukrativen Handel mit dem aus
       Kokosnüssen gewonnen Kokosöl-Grundstoff Kopra zielten, längst vor Ort. Der
       Gifhorner Kaufmann Georg Eduard Adolph Capelle war 1859 nach Ebon gekommen,
       hatte eine Einheimische geheiratet und so Land für Kokosplantagen erworben.
       Ein vergilbtes Foto in der Ausstellung zeigt das Paar. 1873 folgte der
       Hamburger Kaufmann [3][Johan Cesar Godeffroy]. Auch er betrieb – nicht nur
       dort – Kokosplantagen, unter Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung.
       
       Wie die Matten in das Hamburger Museum kamen, ist nicht ganz klar. Einige
       werden die Kaufleute mitgebracht haben, weitere jene Forscher, die im Zuge
       der Hamburger [4][Südsee-Expedition] (1908–1910) die deutschen
       Kolonialgebiete bereisten und erkundeten. Ein „gewaltvoller
       Erwerbungskontext“ kann laut Jamie Dau, Provenienzforscher des MARKK, zwar
       nicht nachgewiesen werden. Offen sei aber, ob die Aneignungen nach heutigen
       Maßstäben unter fairen Bedingungen stattgefunden hätten, sagt er.
       
       Fest steht aber, dass die Matten als Wissensspeicher fungieren, und das in
       einer merkwürdigen zeitlichen Koinzidenz: Einerseits haben
       CO2-Einsparbemühungen sowie die Tatsache, dass in Coronazeiten keine
       Baumwolle importiert werden konnte, zu einem Revival der Flechttechnik auf
       den Marshall-Inseln geführt. Anderseits kam fast zeitgleich – 2021 –
       Meitaka Kendall-Lekka, Professorin für Business Studies am College of the
       Marshall Islands, für die Ausstellungsvorbereitung ins MARKK, um dort
       erstmals die „Jaki-ed“ genannten Matten zu begutachten.
       
       „Es war ein tiefes Gefühl von Verantwortung, aber auch von Stolz und
       Traurigkeit“, schreibt sie in der Ausstellungsbroschüre. Es sei, „als ob
       unser kulturelles Erbe still und zeitlos in der Ferne darauf gewartet
       hätte, wiedervereint und willkommen geheißen zu werden“. Ihr erster Impuls
       sei gewesen, diese Dinge mitzunehmen. Aber sie erinnere sich auch „an die
       Erkenntnis und die Angst, dass die Gegenstände, wenn man sie nach Hause
       bringen würde, wahrscheinlich so gut wie weg wären“.
       
       Auch ihre StudentInnen und andere MashallesInnen hätten ihr in einer
       Umfrage mehrheitlich gesagt, dass Inseln keine Kapazitäten hätten, diese
       Dinge angemessen aufzubewahren. Die [5][Restitutionsfrage], schreibt
       Meitaka Kendall-Lekka, sei also noch offen.
       
       Wenn man es zu Ende denkt, liegt hinter der Sorge, die Matten nicht
       angemessen zu bewahren, auch die Bedrohung durch den klimawandelbedingten
       [6][Anstieg des Meeresspiegels]: Die Marshall-Inseln liegen zwei Meter über
       Normalnull und werden ForscherInnen zufolge zwischen 2030 und 2050
       überspült werden.
       
       Marshallesische PolitikerInnen appellieren deshalb seit Jahren an die
       Weltgemeinschaft, den Klimawandel einzudämmen. Ein Video der
       marshallesischen Künstlerin und Aktivistin Selima Leem im MARKK zeigt eine
       entsprechende Rede des damaligen Präsidenten Christopher Loeak auf der
       Pariser Klimakonferenz 2015. Und 2021 hat Tina Stege, Klimabotschafterin
       der Marshall-Inseln, den Hilferuf auf der Glasgower Klimakonferenz
       wiederholt.
       
       Passiert ist wenig. Dafür wurde bekannt, dass die mit Beton überbauten
       Atommüll-Deponien auf dem Bikini-Atoll Risse bekommen – und ihr Untergrund
       nie abgedichtet wurde, sodass auch der Pazifik radioaktiv verseucht werden
       könnte. Der auch „Sarg“ genannte Betondeckel ist ein Relikt der
       Atombomben-Tests der USA, denen die UNO die Inseln nach 1945 als
       Treuhandgebiet überlassen hatte. Von 1946 bis 1958 zündeten die Vereinigten
       Staaten 67 radioaktive Testbomben auf dem [7][Bikini- und dem
       Eniwetok-Atoll.]
       
       ## Atombomben-Tests vernichteten Atoll
       
       Die BewohnerInnen wurden auf benachbarte Inseln evakuiert – nicht weit
       genug, um der Radioaktivität zu entgehen. 20 Jahre später, in den 1970ern,
       wurde besagter Beton-Sarg gebaut. Ob man aus Nachlässigkeit oder
       absichtsvoll so lange wartete, ist offen. Das US-Energieministerium soll –
       so die Website „Atomwaffen A–Z“ des Bonner Netzwerks Friedenskooperative –
       1977 notiert haben, die verstrahlten Menschen seien „die beste verfügbare
       Datenquelle zum Transfer von Plutonium, das von einem biologischen System
       durch die Darmwände aufgenommen wurde“. In der Tat haben Krebserkrankungen
       und Missbildungen bei Neugeborenen dort seither stark zugenommen.
       
       Die marshallesische Künstlerin und Aktivistin Kathy Jetnil-Kijiner
       thematisiert das in ihrem Video „Anointed“ – was hier sowohl „gesalbt“ als
       auch „ermächtigt“ bedeutet. Im Mattenrock läuft sie über den Betonsarg,
       sucht Spuren der Vergangenheit. Beschwört die Unversehrtheit der Inseln –
       damals, als man die unverstrahlten Melonen und Kokosnüsse noch essen und
       sorglos in der Lagune baden konnte.
       
       Dann kamen die Tests – mit Strahlung, Feuer, Hitze. Ein Atoll soll ganz
       verdampft sein damals. Und in dem verzweifelten Versuch, eine Erinnerung an
       das Davor, eine Rückbindung an die Vergangenheit zu finden, erzählt Kathy
       Jetnil-Kijiner die Legende von Letao, dem Sohn der Schildkrötengöttin. Er
       wurde von ihr gesalbt und ermächtigt, sich in alles zu verwandeln, sogar in
       Feuer. Das tat er, gab es einem kleinen Jungen, der versehentlich sein
       Heimatdorf verbrannte. „Und Letao lachte und lachte“, rezitiert sie.
       
       Eine böse Legende. Unverkennbar die Parallele zu den Atomwaffentests. „Wer
       gab ihnen die Macht?“, fragt die Künstlerin. „Wer ermächtigte sie, uns zu
       verbrennen? Uns anzulügen: „Ihr seid nicht mehr verstrahlt. Eure
       Krankheiten sind normal.“
       
       So verhöhnen Täter ihre Opfer, aber die wehren sich: Auf ihre Klage hin
       richten die USA 1986 einen Entschädigungsfonds ein. 2001 beschloss das
       Nuclear Claims Tribunal, dass die USA rund 1,1 Milliarden US-Dollar zahlen
       müssten. Der Fonds zahlte 300 Millionen und ab 2009 nichts mehr.
       
       Was das alles mit den Matten zu tun hat? Sie sind nicht nur Auslöser dieser
       Recherchen, stehen für koloniale Vergangenheit und heutige
       [8][Öko-Apartheid]. Sie sind auch die einzigen Relikte der unverstrahlten
       Ära der Marshall-Inseln, die bald selbst vergangen sein werden.
       
       7 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Ausstellung-ueber-Klimafolgen/!5932499
 (DIR) [2] /Postkoloniales-Berlin/!5918562
 (DIR) [3] /Hamburgs-Kolonialgeschichte/!5031841
 (DIR) [4] /Polit-Kunst-aus-der-Suedsee-in-Hamburg/!5668330
 (DIR) [5] /Restituierte-Benin-Bronzen/!5907410
 (DIR) [6] /Jahresbericht-Integration-und-Migration/!5932699
 (DIR) [7] /Atomar-verstrahltes-Suedsee-Paradis/!5167458
 (DIR) [8] /Co-Chefin-des-Club-of-Rome-ueber-Europa/!5910575
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Radioaktivität
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Atomwaffen
 (DIR) Atombombe
 (DIR) Klimaschutzziele
 (DIR) Meeresspiegel
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Wassermangel
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Klimaethikerin zur Überforderung: „Wir sollten mehr tun“
       
       Viele Menschen fühlen sich von Klimaschutzmaßnahmen überfordert. Die
       Klimaethikerin Kirsten Meyer erklärt, warum wir uns etwas abverlangen
       sollten.
       
 (DIR) Sinkende Pegel am Panamakanal: Er sinkt bedrohlich
       
       Eine monatelange Dürre gefährdet eine der wichtigsten Wasserstraßen für den
       Welthandel. Der Pegelstand im Panamakanal ist stark gesunken.
       
 (DIR) Klimawandel in der Literatur: Apokalypse ciao
       
       Die Klimakrise kommt längst in Kunst und Kultur vor. Ein Blick auf die
       Klima-Fiktion zeigt: Der Trend geht weg vom Weltuntergang, hin zur
       Ermutigung.