# taz.de -- Musikfestspiele in Aix-en-Provence: Der Abgrund Mensch
       
       > Così fan tutte, Wozzeck, Dreigroschenoper: Die Auftaktproduktionen des
       > Festival d'Aix-en-Provence überzeugen – musikalisch und inhaltlich.
       
 (IMG) Bild: Gelungene Uraufführung: „Picture a day like this“ von George Benjamin und Martin Crimp
       
       Die Musikfestspiele in Aix-en-Provence berufen sich gerne auf Mozart als
       Schutzheiligen, starteten aber im Théâtre de l’Archevêché unter freiem
       Himmel ausgerechnet mit der „Dreigroschenoper“ von Kurt Weill und Bert
       Brecht.
       
       Inszeniert hat Schaubühnenchef Thomas Ostermeier, ein Stammgast bei den
       Nachbarfestspielen in Avignon, den populären Klassiker auf Französisch und
       in Koproduktion mit der Comédie Française. Die aktuellen Unruhen in den
       großen Städten Frankreichs verleihen dabei nicht nur Macheath Worten an die
       „Polizistenhunde“ per se Brisanz. „… Man schlage ihnen ihre Fressen mit
       schweren Eisenhämmern ein.“ Deeskalation geht anders.
       
       Im ästhetisch ehrgeizigen Rahmen wird die reklamierte Brisanz freilich
       nicht beglaubigt. Ein klassenkämpferischer Choral zum Mitsingen, zu dem das
       Publikum „animiert“ wurde, ändert daran nichts. Die ästhetische Form und
       die verordnete französische Eloquenz entfernen das Stück deutlich von
       [1][der Gegenwart], machen es zu einer eher entlegenen historischen
       Reminiszenz. Es ist eine Revue, deren Bühnenhintergrund an
       [2][suprematistische künstlerische Aufbrüche der Entstehungszeit erinnert].
       Daneben laufen Leuchtschriftbänder à la Jenny Holzer als Brückenschlag in
       die Gegenwart.
       
       Die berühmten Songs werden an der Rampe vor vier Standmikrophonen gesungen.
       Dort gibt es auch einen Hochzeitstorte-ins-Gesicht-Slapstick, der nicht
       enden will. Dazu noch eine Brückenkonstruktion und fahrbare Treppen. Marie
       Oppert als Polly und Christian Hecq als Peachum machen Eindruck – Birane Ba
       als Mackie bleibt blass. Immerhin besehen Maxime Pascal und sein Ensemble
       Le Balcon mit detailreich prägnanter Wucht auf der kämpferischen
       musikalischen Intention.
       
       ## Beziehungsexperiment Mozarts
       
       Dmitri Tcherniakovs „Così fan tutte“ dann war streitbar. Mit diesem am
       konsequentesten an die Nachwelt adressierten Beziehungsexperiment Mozarts
       von 1790 begann 1948 die Festspielgeschichte in Südfrankreich. Der
       bekennend Mozart-affine Thomas Hengelbrock sorgte mit seinem fabelhaften
       Balthasar-Neumann-Orchester für den rechten musikalischen Drive.
       Tscherniakov steigt in die Geschichte mit einem cineastischen Erfolgsrezept
       ein: mehrere Paare treffen sich zu einem Essen, im Laufe des Abends knallt
       es, und das Dessert sind Scherben!
       
       Diesmal gibt es sogar Tote. Wenn die vier Gäste des unheimlichen Paares
       Alfonso (grandios und frei im Umgang mit der Vorlage: Georg Nigl) und
       Despina (Nicole Chevalier als Komödiantin vom Feinsten!) am Ende wörtlich
       zu Boden gehen und Despina Alfonso erschießt, dann ist das der Schlusspunkt
       einer Deutung, die vom Verkleidungsspiel nur Masken übrig lässt und das
       Wochenende der drei Paare zu einem spannend eskalierenden Spiel um
       Selbstentblößung und -erkenntnis durch einen (bewussten) Partnertausch
       macht.
       
       Agneta Eichenholz (Fiordiligi), Claudia Mahnke (Dorabella) und ihre
       Männer, Rainer Trost (Ferrando) und Russell Braun (Guglielmo) sind reife
       Eheleute, bei denen alles mehr nach Lebenserfahrung als nach stürmischer
       Liebeslust bzw. entsprechendem -frust klingt. Raus kommt dabei ein
       zeitgemäßer Mozart, der als sinnliche Nachdenkherausforderung durchs Ziel
       geht.
       
       ## Uraufführung von „Picture a day like this“
       
       Ein Crescendo einhelliger Begeisterung begann mit der Uraufführung von
       Georges Benjamins (63) einstündiger Novität „Picture a day like this“ im
       Théâtre du Jeu de Paume zum Libretto von Martin Crimp. Benjamin liefert ein
       Musterbeispiel von dichter, auf die menschliche Stimme setzender Musik
       voller spannender Stimmungswechsel im Einzelnen. Bei der Uraufführung
       folgten die 22 Musiker des Mahler Chamber Orchestra ebenso willig seinem
       Dirigat wie das erstklassige Protagonisten-Quintett, für das Daniel
       Jeanneteau und Marie-Christine Soma einen Raum von zurückhaltend karger,
       aber doch sinnlicher Eleganz geschaffen hatten.
       
       So märchen- wie parabelhaft geht es um eine Mutter, die ihr verstorbenes
       Kind zurückbekommen soll, wenn sie von einem glücklichen Menschen einen
       Knopf ergattert. Weder das Liebespaar oder die erfolgreiche Komponistin
       noch alle anderen, die sie trifft, sind aber wirklich glücklich. Und das
       ihr ähnliche Zauberwesen Zanella schließlich ist es nur, weil es sie gar
       nicht gibt.
       
       Es ist betörend zu welch klagender Dringlichkeit es Marianne Crebassa als
       diese verzweifelte Frau bringt; hinreißend die vokalen Höhenflüge von Beate
       Mordal und Counter Cameron Shahbazi mit ihren beiden Paaren; atemberaubend
       die Falsettausbrüche von Bariton John Brancy als Künstler und Sammler und
       harmonisch komplementär schließlich Anna Prohaska als spiegelbildliches
       Zauberwesen. Alle Partien werden hier zu einem exemplarischer Fall von in
       die Kehle komponierter Musik!
       
       ## Moderne-Klassiker mit musikalischem Glanz
       
       Auch der „Wozzeck“, den Simon McBurney im Grand Théâtre de Provence auf die
       Bühne brachte, wurde gefeiert. Simon Rattle und sein London Symphony
       Orchestra sorgten für den musikalischen Glanz von Alban Bergs
       Moderne-Klassiker. Die Inszenierung schafft mit wenig Mitteln den großen
       Effekt. Wenn am Ende der Wozzeck langsam im Bühnenboden versinkt und die
       Hände nach seinem Sohn ausstreckt, ist das ein ungemein anrührendes Bild.
       Wenn er untergegangen ist, dann bewegt sich die Rückwand der von drei
       Seiten begrenzten Bühne nach vorn, denn das Gefängnis des Lebens und
       Leidens ist nunmehr gleichsam implodiert.
       
       Die letzten kindlichen Hopp-hopp-Worte kommen nicht von dem Jungen, sondern
       von einer Juniorausgabe des Hauptmanns, der seinen Altersgenossen genauso
       piesackt (bzw. mit dem Finger pikst) wie vordem der skurril überzeichnete
       Hauptmann Wozzeck. Bühnengestalterin Miriam Buether assoziiert Gefängnis
       und Tretmühle in einem. Zum Schlafsaal oder Wirtshaus wird die sonst leere
       Bühne durch die Massen, die sie bevölkern. Schauplätze verwandeln sich wie
       von Zauberhand ineinander. Für den exemplarischen Blick in den Abgrund
       Mensch ist Christian Gerhaher der ideale Wozzeck! Auch um Gerhaher herum:
       vokaler Luxus und darstellerisches Charisma (etwa Malin Byström als Marie).
       
       Für das Festival in Aix-en-Provence schlagen zum Auftakt zwei ganz und gar
       gelungene Produktionen und eine herausfordernde Referenz an den
       musikalischen Hausgott Mozart zu Buche.
       
       19 Jul 2023
       
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