# taz.de -- Die Berge des Giro d'Italia: Mythische Höhen
       
       > Die Quälerei über die Alpenpässe macht den Reiz der Italienrundfahrt aus.
       > An den Anstiegen schreiben die Helden des Radsports Geschichte.
       
 (IMG) Bild: Typisch Giro: Schnee, übles Wetter und steile Rampen – Felice Gimondi 1972 am Stilfser Joch
       
       Bergamo taz | Das Peloton des Giro d’Italia ist erschöpft, lädiert und
       dezimiert. 136 Fahrer nur noch sind Ende der zweiten Woche von den 176
       Gestarteten übrig. Stürze ließen Knochen krachen und offenes Fleisch unter
       der Haut hervorquellen. Corona forderte Tribut. Und auch Kälteeinbrüche und
       beinahe andauernder Regen trugen zu fast schon historischem Ungemach bei.
       
       „Dieser Giro wird besonders“, prophezeite bereits in der ersten Woche
       Enrico Gasparotto, sportlicher Leiter des deutschen Teams Bora-Hansgrohe
       und zwischen 2007 und 2019 selbst acht Mal Giro-Fahrer. Besonders mache
       diesen Giro das Wetter, in Kombination natürlich mit dem harten Parcours,
       meinte Gasparotto.
       
       [1][Das Leiden der Einen ist der Mythos-Generator] für die anderen. Je
       furchtbarer eine Etappe ist, auf desto gewaltigere mythische Höhen lassen
       sich die Erzählungen darüber schrauben. Aus genau diesem Grunde ließ 1937
       Armando Cougnet, Chef der Gazzetta dello Sport und zugleich
       Gründungsdirektor des Giro d’Italia, das Peloton zum allerersten Mal durch
       die Bergwelt der Dolomiten fahren.
       
       Es war eine Jubiläumsausgabe des Giro, die 25., und Cougnet wollte etwas
       ganz Besonderes kreieren. Glaubt man den Chronisten, waren die
       Gebirgsstraßen damals eher Maultierpfade und Überreste alter
       Militärstraßen. Zu denen, die damals zuerst im Wettkampfmodus über den
       Karerpass und den Passo Rolle mussten, gehörten [2][Gino Bartali, der
       Titelverteidiger und spätere zweifache Tour de France-Sieger], sowie der
       damalige italienische Meister und Olympiasieger von 1932 in Los Angeles,
       Giuseppe Olmo.
       
       Für Bartali wurde es eine Triumphfahrt. Mehr als fünf Minuten nahm er dem
       Zweitplatzierten ab. Für Olmo hingegen, in seiner Karriere immerhin 20 Mal
       Etappensieger des Giro und 1936 Gesamtzweiter hinter Bartali, war es eine
       Tortur. Er war so erschöpft und mit seiner Moral derart am Ende, dass er
       darum bat, das italienische Meistertrikot ausziehen und es mit seinem
       normalen Trikot ersetzen zu dürfen. Denn er habe die Trikolore mit seiner
       schwachen Leistung entehrt. So ist es zumindest auf der Website
       [3][ilnuovociclismo.com] zu lesen.
       
       ## Olmo am Ende
       
       Bei dieser Dolomitenpremiere gab auch einer der populärsten deutschen
       Rennfahrer jener Zeit auf: Otto Weckerling. Der gebürtige Anhaltiner
       entschädigte sich ein paar Wochen später mit dem Gewinn der Deutschlandtour
       sowie dem Sieg bei einer Alpenetappe der Tour de France; er war wahrlich
       kein Schwächling. Die Dolomiten aber waren zuviel für ihn. Zuviel auch für
       Olmo. Der hörte bald darauf mit dem aktiven Radsport auf und begann 1939,
       als 28-Jähriger, Fahrräder zu bauen. Die Marke Olmo existiert bis heute.
       Sie stellte 1999 das Rad, auf dem der Spanier Oscar Freire Weltmeister
       wurde.
       
       Vincenzo Torriani, Nachfolger von Cougnet als Giro-Chef, wollte seinem
       Vorbild nicht nachstehen. In seiner Amtszeit beim Giro, fast ein halbes
       Jahrhundert lang von 1949 bis 1993, führte er Stilfser Joch (1953),
       Gaviapass (1960) und Mortirolo (1990) ein. Die Premiere am Gavia war
       zunächst davon geprägt, dass eine Einheit der italienischen Gebirgsjäger
       die ganze Nacht den Schnee wegschippte.
       
       In der Schneise, die sie in die weiße Welt geschlagen hatten, wuchtete sich
       der Italiener Imerio Massignan als Erster nach oben. Seitdem nannte man ihn
       den „Engel des Gavia“. Er war allerdings ein unglücklicher Engel. Denn auf
       der Abfahrt platzte ihm gleich zweimal der Reifen. Das Begleitauto war
       unendlich weit weg. Massignan flickte selbst.
       
       Der Luxemburger Kletterkünstler Charly Gaul, auf dem Pass noch zwei Minuten
       hinter Massignan, kam immer näher und überholte ihn schließlich. In den
       Straßen des Zielortes Bormio schloss Massignan noch einmal auf – bis ihn
       eine weitere Panne ereilte und er 14 Sekunden hinter Gaul den Zielstrich
       überquerte.
       
       Er war der tapferste Fahrer jenes Tages, der schnellste am Berg. Gleich
       vier Pannen auf dieser Etappe verhinderten aber seinen Sieg. Gaul kam, wie
       die Chronisten notierten, mit „nur“ zwei Pannen davon. Den Giro gewann
       allerdings auch Gaul nicht. Er wurde Gesamtdritter, Massignan – noch einmal
       ein Unglücksrabe – Gesamtvierter mit 15 Sekunden Rückstand auf Gaul.
       
       ## Die verschwundene Bergetappe
       
       Das Rosa Trikot des Gesamtsiegers brachte Jacques Anquetil nach Frankreich.
       Insgesamt gewann er zweimal den Giro und fünfmal die Tour. Der „Engel vom
       Gavia“ hielt sich in derselben Saison in Anquetils Heimat schadlos, wurde
       Bergkönig der Tour de France.
       
       Anquetil war sieben Jahre später bei einer weiteren Bergpremiere dabei, der
       sogenannten „verschwundenen Bergetappe“ des Giro. Stilfser Joch und Gavia
       waren Giro-Boss Torriani noch nicht steil, herausfordernd und spektakulär
       genug. Also ließ er zum nächsten Jubiläum, der 50. Austragung des Giro, den
       Weg zu den Drei Zinnen von Lavaredo erkunden.
       
       Das sind drei Felsbrocken, die tatsächlich wie Überreste einer Festung von
       Giganten aussehen. Asphaltierte Straßen gab es damals noch nicht. Die Piste
       war so steil, der Belag so uneben, dass die Fahrer Schwierigkeiten hatten,
       das Gleichgewicht zu halten. „Tausende Fans standen links und rechts der
       Straße auf den letzten Kilometern des Anstiegs. Angesichts der Probleme der
       Fahrer sahen sie sich genötigt, sie noch mehr als üblich anzuschieben,
       auch, um zu verhindern, dass sie in den Morast neben der Piste fielen“,
       erinnert sich Giovanni Michelotti, damals Vizechef des Giro.
       
       Dass die Fans mehr schoben und drängten als sonst, hing wohl auch damit
       zusammen, dass die Gebirgsjäger, die eigentlich für Sicherheit sorgen
       sollten und schon seit 7 Uhr früh an der Strecke standen, sich in der Kälte
       mit Grappa wärmten. Als die Giro-Karawane dann eintraf, waren fast alle
       Gebirgsjäger besoffen, will Michelotti beobachtet haben.
       
       Vielen Fans dürfte es kaum anders gegangen sein. Nur einen schoben sie
       nicht an: Wladimiro Panizza. Der war damals 22 Jahre jung, in seinem ersten
       Profijahr und auf dem Weg zu seinem ersten großen Erfolg. Er war der
       Ausreißer des Tages und stürmte ganz allein auf die Drei Zinnen zu. Weil er
       so stark war und nicht in den Graben zu stürzen drohte, schob ihn auch
       keiner an. Es war das Pech von Panizza. Hinter ihm jagten, angetrieben
       durch die Zuschauer, die großen Favoriten her: Eddy Merckx, der spätere
       Alles-Gewinner, Felice Gimondi, auch er Sieger aller drei großen
       Rundfahrten und Weltmeister obendrein sowie Anquetil, ebenfalls Sieger von
       Giro, Tour und Vuelta, aber niemals Weltmeister.
       
       Anquetil wurde abgehängt, Merckx und Gimondi zogen an Panizza vorbei.
       Gimondi gewann die Etappe und holte rosa. Bei Panizza flossen derweil
       Tränen der Enttäuschung, vielleicht auch solche des Zorns. Angerührt von
       dem Elend und wohl auch beschämt wegen der zu offensichtlichen Hilfe für
       die Verfolger ließ Giro-Boss Torriani die Etappe annullieren.
       
       ## Hagel an den drei Zinnen
       
       Die Drei Zinnen waren auch in diesem Jahrhundert Schauplatz mythischer
       Etappen. 2013 etwa stürmte [4][Vincenzo Nibali] im Rosa Trikot des
       Gesamtführenden als Solist durch die Schneise, die wieder einmal in den
       Schnee geschlagen war. Sage und schreibe 15 Räumfahrzeuge fuhren die ganze
       Nacht hin und her, um den Weg passierbar zu halten, schreibt der Journalist
       [5][Fabio Genovesi in seinem Huldigungsbuch „In meinem Herzen alles
       Sieger“]. Es regnete, es hagelte und schneite.
       
       Den Weg vermochte Nibali kaum zu sehen. Eher hörte er ihn, stets darauf
       achtend, das Schreien der Fans von links und das Schreien der Fans von
       rechts in der gleichen Lautstärke zu vernehmen, dem Sonar eines Delfins
       gleich. Man nannte ihn ja auch, zwar nicht den Delfin, aber doch den „Hai
       von Messina“. Nibali zementierte hier seinen ersten Giro-Sieg. Auch er
       fügte noch Tour und Vuelta zum großen Triple hinzu.
       
       Am nächsten Freitag geht es erneut zu den Drei Zinnen in die Dolomiten. Das
       Wetter wird sicher wieder furchtbar. Und die Zinnen werden, wenn das Rennen
       nicht ausfällt, den nächsten Helden gebären. Unklar ist nur, ob einen
       glücklichen wie Nibali, einen tragischen wie Panizza oder einen beschämten
       wie Gimondi.
       
       20 May 2023
       
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