# taz.de -- Housing first in Finnland: Das Recht auf ein Zuhause
       
       > Finnland hat das Vorgehen gegen Obdachlosigkeit umgedreht: Die neue
       > Wohnung ist Anfang, nicht Ende der Reintegration. Ein Modell?
       
       Anfangs sitzt Heikki Kakko zurückgelehnt in einem Sessel in einer Ecke des
       Gemeinschaftsraums, wie ein stiller Beobachter, die Beine
       übereinandergeschlagen. Er trägt gemütliche Sachen, grauen Pulli, schwarze
       Kunststoff-Clogs. Draußen dämmert es, als innerhalb weniger Sekunden eine
       Horde Menschen in den Raum einfällt wie ein unerwarteter Schneesturm. Die
       deutsche Bauministerin Klara Geywitz (SPD), eingepackt im leuchtend roter
       Jacke, setzt sich auf die Couch. Der Rest der Delegation und die
       mitgereisten Journalist*innen verteilen sich im Raum. Hier in Espoo,
       einer Nachbarstadt von Helsinki, möchte Geywitz erfahren, wie Finnland es
       geschafft hat, erfolgreich Obdachlosigkeit zu bekämpfen.
       
       „Das hier ist der Ausgangspunkt für ein besseres Leben“, sagt Heikki Kakko
       auf Finnisch. Eine Dolmetscherin übersetzt. Der 68-Jährige wohnt seit drei
       Jahren im Wohnprojekt Väinölä, das Menschen vor der Obdachlosigkeit
       bewahrt. Kakko, der seine frühere Wohnung nach einer Firmenpleite verlor,
       findet, dass jeder Mensch „eine zweite Chance verdient“ habe, egal ob es
       Drogen, Alkohol oder Schulden seien, die die Person in eine Krise gestürzt
       hätten. Petri Olavimyllyen, ein anderer Bewohner, der neben ihm sitzt,
       sagt knapp: „Dieser Ort ist für mich lebenswichtig.“ Die Alternative lässt
       er unausgesprochen: ein Leben auf der Straße in einem Land, in dem im
       Winter die Minusgrade in den zweistelligen Bereich fallen.
       
       Der finnische Kampf gegen Obdachlosigkeit, der über verschiedene
       Regierungen und Koalitionen hinweg getragen wurde, geht auf kalte Winter in
       den 1980er Jahren zurück, in denen viele Obdachlose erfroren. Während in
       den meisten EU-Ländern heute die Zahlen der Wohnunglosen steigen, sind sie
       in Finnland seit Jahrzehnten rückläufig. In den 1980er Jahren waren es mehr
       als 20.000, 2022 nur noch 3.686. Bis 2027 soll dort niemand mehr ohne
       Wohnung sein. Dass die deutsche Bauministerin nun Mitte Februar für zwei
       Tage Finnland besuchte, ist also kein Zufall. Bis 2030 soll in Deutschland
       die Obdachlosigkeit überwunden werden, so steht es im Koalitionsvertrag.
       
       Finnlands Strategie heißt seit 2008 Housing first: zuerst ein Zuhause. Eine
       eigene Wohnung wird als Grundlage betrachtet, um sich von
       Schicksalsschlägen und Problemen erholen zu können. In der traditionellen
       Obdachlosenhilfe müssen sich Obdachlose hingegen erst als „wohnfähig“
       erweisen und ihre Probleme in den Griff kriegen, bevor sie eine eigene
       Wohnung bekommen, nicht alle schaffen das. Bei Housing first ist das
       anders: Wohnen wird als Grundrecht betrachtet, ohne Bedingungen.
       
       ## Hohe Erfolgsquote
       
       Flankiert wird das Ganze von umfangreichen Unterstützungsangeboten, die
       aber auf Freiwilligkeit beruhen. Entwickelt wurde dieses Konzept in den
       1990er Jahren in New York, mittlerweile gibt es verschiedene Initiativen in
       Europa. Aber als absolutes Musterbeispiel gilt Finnland. Dort wurde Housing
       first 2008 im ganzen Land zum Grundprinzip der Obdachlosenarbeit erklärt.
       Verschiedene Studien belegen den Erfolg, zwischen 75 und 90 Prozent
       schaffen es, den Wohnraum dauerhaft zu halten.
       
       Etwa im Wohnprojekt Väionölä, in dem Heikki Kakko wohnt: einem
       zweistöckigen Komplex mit 35 Wohnungen, umgeben von vielen Bäumen,
       fußläufig ein See. Alle haben einen eigenen Mietvertrag, die Miete wird vom
       Staat übernommen. Sozialarbeiter*innen unterstützen bei
       Behördengängen, Drogenproblemen, Schulden oder Alltagsbewältigung – wenn
       die Bewohner*innen wollen.
       
       Kakko öffnet die Tür zu seiner Wohnung. Es sind etwa 40 Quadratmeter, ein
       Wohnzimmer mit Küchenzeile, ein Schlafzimmer, ein eigenes Bad. Alles
       akkurat aufgeräumt. Nicht alle Wohnungen seien so vorzeigbar, sagt der
       Leiter der Einrichtung. Kakko hat Fotos von seiner Familie rumstehen, ein
       blau-weißer Rennfahreranzug hängt an der Wand, in einer Vitrine stehen
       Modellautos: Erinnerungen an sein Leben vor Väionölä.
       
       20 Jahre lang sei er Rallyefahrer gewesen und habe als Autohändler
       gearbeitet, erzählt er. Dann wird die Geschichte etwas schwammig: Gemeinsam
       mit Freunden habe er eine Geschäftsidee gehabt, die nicht gut ausging.
       Kakko ging pleite, er verlor sein ganzes Geld, seine Wohnung. Im
       Wohnprojekt arbeitet der 68-Jährige nun für zwei Euro die Stunde, putzt die
       Flure, schippt im Winter Schnee. Er hofft, dass diese Station „ein
       Sprungbrett ins normale Leben“ ist. Hier in der Einrichtung gibt es keine
       zeitlichen Vorgaben, wie lange man bleiben darf.
       
       „Das ist ein Ort für die soziale Rehabilitation“, erklärt die Mitarbeiterin
       Lynn Mutuku. Manche verweilten hier nur kurz, andere blieben vielleicht ihr
       Leben lang. Die Gründe seien sehr unterschiedlich: Manche landen hier nach
       einer schweren Trennung, andere haben mit Drogen oder Alkohol zu kämpfen,
       andere haben sich verschuldet und damit kaum noch eine Chance auf dem
       freien Wohnungsmarkt. Selbstbestimmung und individuelle Betreuung werden
       großgeschrieben. Doch ganz ohne Regeln geht es nicht.
       
       In der Gemeinschaftssauna etwa dürfe der finnischen Tradition nach Alkohol
       getrunken werden, aber „nicht mehr als ein, zwei Biere“, erklärt Mutuku.
       Eine weitere Regel: „Unter Drogeneinfluss darf sich niemand in den
       Gemeinschaftsräumen aufhalten.“ Denn das begünstigte „anti-soziales
       Verhalten“. Gewalt werde im Wohnprojekt nicht geduldet und das habe auch
       schon vereinzelt dazu geführt, dass Menschen ihre Wohnung räumen mussten.
       Sie dürfen sich dann aber erneut auf Wartelisten setzen lassen. Erst bei
       einem genaueren Blick werden kleine schwarze Halbkugeln an der Decke
       sichtbar: Der Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss ist videoüberwacht.
       
       Väionölä ist nur eines von vielen Housing-first-Projekten in Finnland. Der
       Wohnkomplex wurde 2014 von Y-Säätiö gebaut, einer 1985 gegründeten
       Non-Profit-Stiftung. Die Stiftung besitzt über 18.000 Wohnungen und ist
       nach eigenen Angaben viertgrößter Anbieter von Mietwohnungen im Land.
       Y-Säätiö baut oder kauft Wohnungen in ganz Finnland, um sie gezielt
       Obdachlosen oder anderen, die es auf dem freien Wohnungsmarkt schwer haben,
       bereitzustellen.
       
       Housing first wird nicht nur in geschlossenen Wohneinheiten praktiziert.
       Obdachlose können auch dezentral in Einzelwohnungen in ganz normalen
       Wohnhäusern untergebracht werden. Das hänge aber vom Betreuungsbedarf ab,
       erzählt die Geschäftsführerin Teija Ojankoski bei einem Besuch bei Y-Säätiö
       in Helsinki. Bislang hätten sich kleinere Wohneinheiten insgesamt besser
       bewährt. Man habe dann weniger mit dem Nimby-Phänomen zu tun. Nimby ist
       eine Abkürzung für „Not in my backyard“: nicht in meinem Hinterhof. Es
       beschreibt Widerstände der Nachbarschaft gegen den Neubau von
       Obdachlosenunterkünften.
       
       Obwohl spezieller Wohnraum für Obdachlose hohe Investitionen erfordert,
       geht die Stiftung davon aus, dass sich das Modell auf längere Sicht
       finanziell lohne. Eine Fallstudie habe gezeigt, dass man bis zu 15.000 Euro
       pro Person im Jahr weniger Kosten habe, wenn die Betroffenen vernünftig
       untergebracht sind. Der Grund: Die Ausgaben für Gesundheit und soziale
       Dienstleistungen seien geringer, aber auch die Kosten im Rechtssystem oder
       für die Polizei.
       
       Ein Problem ist aber: Nicht alle Obdachlosen haben Zugang zum
       Housing-first-Programm in Finnland. Nur wer offiziell Anspruch auf
       Sozialleistungen hat, kann es in Anspruch nehmen. Auf viele obdachlose
       EU-Bürger*innen oder Illegalisierte trifft das nicht zu. Diese werden in
       der finnischen Obdachlosenstatistik auch nicht erfasst, so Ojankoski. Etwa
       Nadia Tinuta. Alle paar Monate kommt sie aus Rumänien nach Finnland, um
       etwas Geld zu verdienen. Klara Geywitz trifft Tinuta bei einem Besuch in
       der Redaktion des Obdachlosenmagazins [1][Iso Numero], das sich 2011 aus
       Solidarität gründete, als im Land Rufe nach einem Bettelverbot laut wurden.
       Mit dem EU-Beitritt von [2][Bulgarien] und Rumänien im Jahr 2007 tauchten
       plötzlich in finnischen Städten osteuropäische Minderheiten auf, erklärt
       Janne Hukka, Geschäftsführer und Mitgründer der Zeitschrift: „Betteln war
       damals ein völlig neues Phänomen.“ Diese Zeitschrift richte sich daher auch
       „an Transeuropäer, für die es hier keine Lösung gibt“. Denn Housing first
       sei „ein nationales System“, sagt er.
       
       300 Verkäufer*innen gäbe es mittlerweile, Tinuta ist schon seit vielen
       Jahren dabei. Gemeinsam mit Klara Geywitz geht sie zum Hauptbahnhof
       Helsinki, ihrem Stammplatz. Tinutas Kopf ist mit einem schwarz-weißen Schal
       verhüllt, über die dunkle Jacke hat sie eine rote Weste geworfen. Auf den
       Socken, die sie über die Leggings gezogen hat, sind vierblättrige
       Kleeblätter abgebildet. Wenn sie Glück hat, verkauft sie mehrere Magazine
       an einem Tag. 10 Euro kostet die Zeitschrift, 5 Euro darf sie davon
       behalten. Das Geld schickt sie über Western Union nach Hause zu ihren
       sieben Kindern. „Es ist hart für mich, sie zurückzulassen“, sagt sie. „Wenn
       ich Arbeit in Rumänien finden würde, würde ich nicht mehr hierher kommen.“
       
       Tinuta erzählt mithilfe einer Übersetzerin von ihrem Schicksal: Lange habe
       sie hier auf der Straße geschlafen, in öffentlichen Toiletten,
       Verkehrsmitteln oder in Zelten im Wald. Erst vor einiger Zeit habe sie
       einen Platz in einer Notunterkunft bekommen, dort teile sie sich ein Zimmer
       mit sieben anderen. „Das wird bei der geografischen Lage Deutschlands noch
       mal eine besondere Herausforderung“, sagt Klara Geywitz später. Finnland
       teilt nur mit drei Ländern eine Landgrenze: Schweden im Westen, Norwegen im
       Norden und Russland im Osten. Deutschland hingegen liegt im Zentrum Europas
       und grenzt an neun andere Staaten. Auch in Deutschland können nur
       leistungsberechtigte Obdachlose langfristige Hilfen in Anspruch nehmen.
       Alle anderen sind auf Wärmestuben oder Notunterkünfte angewiesen, um die
       Nacht zu überstehen.
       
       Laut dem [3][ersten Wohnungslosenbericht der Bundesregierung waren Anfang
       2022] rund 263.000 ohne eigene Wohnung, etwa 37.400 davon lebten auf der
       Straße. „Wir sind im Gegensatz zu den Finnen mehrere Jahrzehnte
       hintendran“, sagt Klara Geywitz am Ende ihrer Reise. In Relation zur
       Gesamtbevölkerung leben in Deutschland, ausgehend von den offiziellen
       Zahlen, fast fünfmal so viele Obdachlose wie in Finnland. „Ein Geheimnis
       des politischen Erfolgs in Finnland ist die Kontinuität“, sagt Geywitz. Das
       gelte für den sozialen Wohnungsbau und die Bekämpfung der Obdachlosigkeit.
       Wenn man Erfolge wolle, müsse „man über Jahre, Jahrzehnte investieren“.
       Denn der Bereich Bau- und Wohnungspolitik sei „ein langsamer Tanker“.
       
       ## Modellversuche in Deutschland
       
       Hoffnungslos will Geywitz aber nicht klingen. Sie verweist darauf, dass die
       [4][Mittel für den Sozialen Wohnungsbau] deutlich erhöht wurden und auch
       damit Wohnungen für ehemalige Obdachlose gebaut werden können. Mit dem
       Besuch sei zudem klar geworden, dass es „mit der Vermittlung in Wohnraum
       lange nicht getan ist.“ Zu Housing first gehöre „auch ein starkes
       Betreuungssystem“. In Deutschland sind die Länder und Kommunen für die
       Versorgung von Obdachlosen zuständig. Sie werde sich Gedanken machen, wo
       der Bund helfen könne. In diesem Jahr will sie einen nationalen Aktionsplan
       erarbeiten.
       
       In mehreren deutschen Städten wird Housing first schon in Modellprojekten
       erprobt: in Düsseldorf, Köln, Nürnberg oder [5][Bremen]. Erst vor Kurzem
       wurde ein Housing-first-Bundesverband gegründet, um sich besser zu
       vernetzen. [6][Auch das Land Berlin hat den Ansatz bereits in einer
       Pilotphase in zwei Projekten erprobt], die mittlerweile verstetigt und
       ausgebaut wurden.
       
       [7][Corinna Müncho] ist Vorsitzende des Bundesverbandes und Projektleiterin
       von einem der Projekte in der Hauptstadt, dem „Housing First Berlin“, einer
       Kooperation der Berliner Stadtmission und der Neue Chance gGmbH. Seit
       Projektstart 2018 wurden über 50 Wohnungen vermittelt, über das ganze
       Stadtgebiet verteilt. Mit einer sehr hohen Erfolgsquote. Im Büro hängt eine
       Stadtkarte mit kleinen Fähnchen überall dort, wo bereits Wohnungen
       vermittelt wurden, erzählt Müncho am Telefon. Sie klingt zufrieden.
       
       „Auch ein Mensch, der zehn Jahre auf der Straße gewohnt hat und vielleicht
       suchtkrank ist oder traumatisiert, kann in einer eigenen Wohnung leben,
       wenn er die richtige Unterstützung bekommt“, sagt Müncho. „Das wurde diesen
       Menschen lange nicht zugetraut.“ Wenn es nach ihr geht, bräuchte Berlin
       dringend noch mehr Housing-first-Projekte, mehr Mittel dafür stehen bereit.
       Aber kann das funktionieren? Housing first berlinweit? Oder gar bundesweit?
       [8][Gerade in Großstädten ist bezahlbarer Wohnraum ein knappes Gut.]
       
       Das größte Problem sei derzeit nicht, Wohnungen zu finden, sondern das
       Personal. „Wir können nicht mehr Personen aufnehmen, weil das
       Betreuungsteam nur begrenzte Kapazitäten hat“, sagt Müncho. Nach wie vor
       sei das Projekt zuwendungsfinanziert mit gedeckeltem Budget. Doch der
       Andrang sei groß: Über 500 Interessierte stehen auf der Liste. Die meisten
       würden sich telefonisch melden. Manchmal sind es Obdachlose selbst, „die
       das durch Mundpropaganda erfahren haben, in Notunterkünften oder über
       Straßensozialarbeit“, erzählt Müncho. Manchmal seien es gesetzliche
       Betreuer*innen oder Passant*innen.
       
       Bei Housing first wird eine ganz bestimmte Personengruppe in den Blick
       genommen: „Menschen, die ihrem Leben eine Wendung geben wollen, die sich
       eine eigene Wohnung wünschen, aber bisher im bestehenden Hilfesystem keine
       Chancen hatten“. Denn im traditionellen Stufenmodell müssen Obdachlose
       zunächst außerhalb des normalen Wohnungsmarktes ihre „Wohnfähigkeit“
       beweisen – etwa im betreuten Wohnen. Nur wer sich bewährt, zum Beispiel
       regelmäßig Termine einhält, eine Therapie macht, seine Schulden reguliert,
       kann am Ende auf eine eigene Wohnung hoffen. Viele scheitern.
       
       Beim Housing first dagegen steht zuallererst ein eigener Mietvertrag.
       Sozialarbeiter*innen unterstützten anfangs dabei, alle dafür
       notwendigen Unterlagen zusammenzutragen, erklärt Müncho. Manchmal müssen
       noch ein Jobcenterantrag gestellt oder Ausweise beantragt werden, es werden
       Gespräche mit potenziellen Vermieter*innen geführt. „Wir besprechen
       aber auch, was sich die Teilnehmer*innen wünschen und was sie
       brauchen“, so Müncho. „Wenn es zum Wohnungseinzug kommt, kann die Person
       sagen: Danke, das war’s. Sie kann selbst entscheiden, ob sie weiter Hilfe
       in Anspruch nehmen will. Aber die meisten wollen es, gerade weil es
       freiwillig ist.“ Vor allem die Anfangszeit sei für viele sehr hart, sie
       müssten sich erst mal wieder in einem geregelten Leben zurechtfinden.
       „Viele kümmern sich erst mal um ihre Zähne oder Erkrankungen. Plötzlich
       taucht wieder Post auf, die bearbeitet werden muss, viele melden sich
       wieder bei ihren Angehörigen.“
       
       Der Soziologe Volker Busch-Geertsema beschäftigt sich schon lange mit dem
       Thema Obdachlosigkeit. Seit 1991 forscht er bei der Gesellschaft für
       innovative Sozialforschung und Sozialplanung in Bremen. Seit 2009
       koordiniert er die Beobachtungsstelle Europäisches Observatorium zur
       Wohnungslosigkeit. „Im europäischen Vergleich war Deutschland spät dran,
       bis es erste Housing-first-Projekte umgesetzt hat“, erklärt Busch-Geertsema
       am Telefon. Dabei hätten viele Projekte gezeigt: „Wenn man Menschen
       individuell unterstützt, bleiben sie zum allergrößten Teil in der Wohnung.“
       
       Für Busch-Geertsema ist die Frage nach Wohnraum der Dreh- und Angelpunkt:
       „Housing first geht nicht ohne Häuser.“ Finnland habe als einziges Land von
       Anfang an erkannt, „dass es für die erfolgreiche Umsetzung zusätzlichen
       Wohnraum speziell für diesen Personenkreis geben muss.“ Das größte Problem
       in Deutschland sei der „absolute Mangel“ an bezahlbaren Wohnraum. Bei der
       Vergabe von Sozialwohnungen könnte man deshalb Quoten einführen, „dass es
       für den Personenkreis der Obdachlosen einen prioritären Zugang geben muss“.
       Zudem wäre es wichtig, „Housing first dauerhaft zu finanzieren und zu einer
       Pflichtleistung zu machen“. Dennoch betont er: Housing first könne nur ein
       einzelner Bestandteil einer nationalen Strategie sein. Daneben brauche es
       einen schnellen Zugang zu Wohnraum für alle und eine stärkere präventive
       Arbeit, um Wohnungslosigkeit zu verhindern. Zum Beispiel könnte man dafür
       sorgen, dass niemand aus der Haft heraus in die Wohnungslosigkeit entlassen
       wird.
       
       Vielleicht braucht es neben bezahlbaren Wohnungen und einem
       Paradigmenwechsel in der Obdachlosenhilfe aber auch ein Umdenken in der
       Gesellschaft. „Bei den Finnen gibt es einen großen gesellschaftlichen
       Konsens, dass es eine Schande ist, wenn Menschen wohnungslos sind in so
       einem reichen Land“, sagt Busch-Geertsema. Hierzulande werde „es noch allzu
       oft hingenommen. Nach dem Motto: Die Armen werden immer mit uns sein.“
       
       22 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [4] /Mieterbund-ueber-sozialen-Wohnungsbau/!5904576
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       ## AUTOREN
       
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