# taz.de -- Nach dem Erdbeben in der Türkei: Gemeingefährliche Gebäude-Amnestie
       
       > Die türkische Regierungspartei AKP legalisierte Häuser, die ohne
       > Genehmigung gebaut wurden. Auch die Warnungen von Ingenieuren wurden
       > wohl ignoriert.
       
 (IMG) Bild: Ein ganzes Haus, einfach umgekippt: Straßenbild in Golbasi, Türkei, am 13. Februar
       
       Berlin taz | Eine Amnestie für Gebäude ohne Genehmigungen hat wohl zu den
       mittlerweile fast 32.000 Toten infolge des Erdbebens in der Südosttürkei
       beigetragen. Im ebenfalls betroffenen Nordwesten Syriens starben über 3.500
       Menschen.
       
       294.000 Gebäude im türkischen Teil des Erdbebengebiets, die zuvor ohne
       Genehmigung gebaut wurden, wurden im Rahmen einer Amnestie der regierenden
       Partei AKP anerkannt – allein im Jahr 2018. Dies war damals die neunte
       Amnestie, die die AKP in ihrer 20-jährigen Regierungszeit durchführte.
       
       Gegen eine Geldsumme wurden dabei auch mangelhaft gebaute Gebäude für
       bewohnbar erklärt. Wenn es das Erdbeben nicht gegeben hätte, würde jetzt
       wohl eine zehnte Amnestie im Parlament diskutiert werden.
       
       Die Sprecherin der türkischen Arbeiterpartei, Sera Kadıgil, klang müde und
       wütend, als sie am Samstag auf einem Youtube-Kanal sagte: „Sie haben den
       Menschen Gräber gebaut und sie lebendig begraben.“
       
       ## Die Verwerfungslinien waren der Politik bekannt
       
       Dass etwa unter der [1][schwer getroffenen Stadt Kahramanmaraş] tödliche
       Verwerfungslinien verlaufen, war bekannt. Vor zwei Jahren erstellte die
       Kammer der Geologie-Ingenieure der Union der Türkischen Ingenieur- und
       Architektenkammer einen detaillierten Bericht über die Gefahr unter
       Kahramanmaraş. Der Bericht wurde an Mitglieder des Parlaments, Ministerien
       und Präsident Recep Tayyip Erdoğan geschickt.
       
       „Niemand antwortete“, sagte Hüseyin Alan, der Leiter der Kammer, einen Tag
       nach dem Erdbeben der türkischen Tageszeitung Evrensel Daily. Als die
       Kammer versuchte, dem AKP-Bürgermeister von Kahramanmaraş, Hayrettin
       Güngör, zu erklären, dass die Verwerfungslinien in den Bauplänen der Stadt
       berücksichtigt werden müssten, soll der Bürgermeister geantwortet haben,
       dass er „nicht an diese Pläne glaube“.
       
       Die Amnestie ist keine Erfindung des AKP-Regimes, sondern ist bereits seit
       den 1960er Jahren Teil der Wahlversprechen verschiedener Parteien.
       
       Doch nach dem letzten großen [2][Erdbeben von Marmara im Jahr 1999], bei
       dem 18.000 Menschen starben, gab es den Wunsch nach Veränderung. Im Jahr
       darauf wurde ein neues Gesetz erlassen, das die Inspektion von Gebäuden
       vorschreibt. Im Jahr 2012, ein Jahr nach [3][dem Erdbeben in Van], bei dem
       über 600 Menschen starben, wurde ein ambitioniertes Gesetz verabschiedet.
       In der Theorie zielte es darauf ab, alle Gebäude, die nicht erdbebensicher
       waren, zu beseitigen und neue zu bauen. Das Ministerium für Umwelt und
       Städtebau legte dafür verschiedene Zonen fest, und die Gemeinden erteilten
       Genehmigungen an Bauunternehmer.
       
       ## Gewinne über Menschenleben
       
       Doch nahmen sich die Unternehmer nicht immer der gefährdeten Gebäude an,
       sondern wohl solcher, bei denen sich durch die Baumaßnahmen gute Gewinne
       erzielen ließen. Die Amnestien lösten dann das Problem der gefährdeten
       Gebäude.
       
       Der Stadtteil Kadiköy an der Südküste Istanbuls ist ein gutes Beispiel
       dafür, wie das Gesetz missbraucht wurde. Es ist ein wohlhabendes Gebiet mit
       wertvollen Grundstücken, die meisten Gebäude wurden in den 70er und 80er
       Jahren während des letzten Baubooms errichtet. Obwohl eine Verwerfungslinie
       unter dem Marmara-Meer verläuft, waren andere Stadtteile Istanbuls
       wesentlich bedrohter. Aufgrund der hohen Grundstückswerte waren Kadiköy für
       Bauunternehmer aber sehr attraktiv.
       
       Das Prinzip: Ein Bauunternehmer reißt ein Gebäude ab und baut ein höheres,
       mit mehr Etagen, und verkauft dann diese Wohnungen. Der Gewinn ist sicher.
       Die Gebäude sollen jetzt erdbebensicherer sein. Zumindest hoffen das die
       Bewohner.
       
       Das jüngste Erdbeben hat gezeigt, dass auch viele Gebäude, die in den
       letzten Jahren gebaut wurden, in sich zusammengefallen sind. Dazu könnte
       beigetragen haben, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Gebäudeinspektionen
       privaten Firmen überlassen wurden. Das Gesetz, das die Inspektionen
       vorschreibt, wurde erst 2019 so verändert, dass diese Aufgabe nun Privaten
       zufällt. Es besteht der Verdacht, dass auch hier Profit über Sicherheit
       stand.
       
       ## Mehr als zwei Drittel der Türkei liegen auf Erdbebengebiet
       
       Der Journalist Bahadır Özgür hat sich die Aktivitäten von Immobilienfirmen
       in der Provinz Hatay genau angesehen. Öz Burak Construction ist eines der
       Unternehmen, die er unter die Lupe nahm. Das Motto: „Wir kombinieren die
       beste Technologie mit dem besten Material und bauen Häuser, in denen man
       alt werden kann.“
       
       Mindestens zehn Gebäude des Unternehmens liegen – in der Region mit der
       höchsten Zahl an Todesopfern innerhalb der Türkei – in Trümmern. Sie wurden
       alle nach 2010 gebaut. In einem Interview rühmt sich der
       Selfmade-Unternehmer stolz: „Ich habe einen Grundschulabschluss. Ich habe
       mehr als 1.500 Gebäude gebaut.“
       
       Mehr als zwei Drittel der [4][Türkei liegen auf Erdbebengebiet]. Nach
       Angaben des türkischen Umweltministeriums waren 6,7 Millionen der fast 20
       Millionen Gebäude gefährdet.
       
       Aus Angst vor starken Reaktionen macht die AKP nun Jagd auf die
       Bauunternehmer, die die bei dem Erdbeben eingestürzten Gebäude errichtet
       haben. Vizepräsident Fuat Oktay gab am Sonntag bekannt, dass „Haftbefehle
       gegen 131 Verdächtige erlassen wurden, die für die zerstörten Gebäude
       verantwortlich sein sollen“. Bilder von Geschäftsleuten, die beim Versuch,
       ins Ausland zu fliehen, an der Grenze erwischt werden, sollen die
       Bevölkerung beruhigen.
       
       ## Vor Erdoğans Gesetz sind nicht alle gleich
       
       Dennoch sind in Erdoğans AKP vor dem Gesetz nicht alle gleich. Der
       Vorsitzende des AKP-Bezirks Dulkadiroğlu in der Provinz Kahramanmaraş,
       Şahin Avşaroğlu, ist der Eigentümer einer Firma, die ein massives Gebäude
       gebaut hat, das zusammengestürzt ist. Bislang wurden keine rechtlichen
       Schritte gegen ihn eingeleitet.
       
       Präsident Erdoğan, der nach dem Marmara-Erdbeben 1999 zu den Ersten
       gehörte, die den Bauunternehmern und der Regierung die Schuld gaben, hat
       dieses Mal eine andere Ansicht: „Auf eine Katastrophe dieses Ausmaßes kann
       man nicht vorbereitet sein.“ Und wenn er eines versprechen könne, dann
       dies: „Wir werden innerhalb eines Jahres alles wieder aufbauen.“
       
       15 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.aljazeera.com/news/2023/2/13/in-turkey-kahramanmaras-the-stench-of-death-lingers
 (DIR) [2] /Politik-Profit-und-Kartenhaeuser/!1274861/
 (DIR) [3] /Kurdenkonflikt-in-der-Tuerkei/!5109137
 (DIR) [4] /Nach-dem-Erdbeben-in-der-Tuerkei/!5912472
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ali Çelikkan
       
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