# taz.de -- Wahl in Tunesien: Demokratie im freien Fall
       
       > Die Tunesier*innen haben gewählt, doch das Parlament in dem
       > nordafrikanischen Land hat kaum noch Macht. Entsprechend niedrig war die
       > Beteiligung.
       
 (IMG) Bild: Seltener Anblick: eine Wählerin am Samstag in einem Vorort von Tunis
       
       Tunis taz/dpa | Im Regierungsviertel von Tunis bewachen am Samstag drei mit
       Schnellfeuergewehren ausgerüstete Soldaten den Eingang einer Schule.
       Wahlhelfer*innen haben die Namen der registrierten 900
       Wähler*innen des Wahlbezirks auf Pinnwände geheftet. Die Parlamentswahl
       läuft wie schon in den vergangenen Jahren reibungslos.
       
       Doch die Polizist*innen und Wahlhelfer*innen stehen gelangweilt in
       den Klassenräumen herum, denn nur selten verirrt sich jemand in das
       Wahllokal. Meist sind es ältere Menschen, die eintreffen: „Ich habe die
       längste Zeit meines Lebens unter Ben Ali gelebt“, sagt Mohamed Mahmoud.
       „Wählen ist für mich Pflicht.“ Als der 65-Jährige aber aus der Wahlkabine
       kommt, wirkt er verstört. „Ich kannte kaum einen Kandidaten und habe
       jemanden gewählt, den ich aus der Schulzeit kenne.“
       
       Mahmoud ist einer von wenigen Tunesier*innen, die dem Ruf an die Wahlurnen
       gefolgt sind. Die Mehrheit hat die erste Parlamentswahl nach der
       [1][Machtübernahme durch den umstrittenen Präsidenten Kais Saied]
       boykottiert. Noch nicht einmal 9 Prozent der mehr als 9,2 Millionen
       Wahlberechtigten stimmten ab – deutlich weniger als bei früheren Wahlen.
       
       Über 1.000 Kandidat*innen hatten sich für die 161 Sitze der ersten
       Kammer des Parlaments beworben, doch auf den Wahllisten standen
       mehrheitlich unbekannte Kandidat*innen, viele von ihnen erstmals politisch
       aktiv. Saied hatte das Wahlrecht geändert und die Parteilisten durch eine
       Direktwahl von Abgeordneten ersetzt. Am Montag sollen die vorläufigen
       Ergebnisse der Wahl veröffentlicht werden.
       
       ## Ein Rückschlag für Saied
       
       Faruk Buasker, Leiter der Wahlkommission, begründete die niedrige
       Wahlbeteiligung mit der erstmals seit der Revolution von 2011
       ausgebliebenen ausländischen Finanzhilfe für die Kandidat*innen. Damals war
       der Langzeitherrscher Zine el-Abidine Ben Ali gestürzt worden, woraufhin
       das Land einen demokratischen Weg einschlug. Doch Korruption und
       Machtkämpfe lähmten das Land. Im Sommer letzten Jahres suspendierte Saied
       schließlich das Parlament und setzte die Regierung ab.
       
       Die Opposition sowie die Zivilgesellschaft nahmen die niedrige
       Wahlbeteiligung mit Erleichterung auf und bekräftigten ihre Forderung nach
       einem Rücktritt Saieds. Die [2][Gewerkschaft UGTT] und fast alle
       politischen Parteien des Landes hatten geraten, die Wahl zu boykottieren.
       
       Auch international dürfte die Wahl ein Rückschlag für Saied sein. Der
       Präsident hatte kürzlich noch für sein Projekt der Basisdemokratie
       geworben. Seine drastischen Maßnahmen, die von Kritiker*innen als
       Putsch gesehen werden, hätten einen Bürgerkrieg verhindert.
       
       Saied hatte das alte Parlament Ende März schließlich ganz aufgelöst, um
       seine politischen Gegner zu schwächen und seine eigene Macht auszubauen. Er
       hält die meisten Parteien für Lobbygruppen korrupter Geschäftsleute. Seit
       der Einführung einer umstrittenen neuen Verfassung im Sommer kann der
       Staatschef auch ohne Zustimmung des Parlaments die Regierung sowie
       Richter*innen ernennen und entlassen. Die neue Volksvertretung wird nur
       noch wenig Befugnisse haben.
       
       Saied argumentiert, dass er den Willen der politikverdrossenen Bevölkerung
       vertrete. Viele teilen zwar seine Ablehnung der alten politischen Elite.
       Doch zu der akuten sozialen und wirtschaftlichen Krise schweigt Saied. Am
       Samstag bezeichnetet er die Stimmabgabe als „historische Gelegenheit“ für
       die Bürger*innen, „ihre Rechte von denen wiederzuerlangen, die das Land
       ruiniert haben“. Doch die Tunesier*innen haben offenbar mit ihrem
       Präsidenten gebrochen.
       
       18 Dec 2022
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mirco Keilberth
       
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