# taz.de -- Straßenblockaden der Letzten Generation: Seien Sie ruhig sauer
       
       > Ein Autofahrer versucht, Klimaaktivist*innen von der Straße zu
       > zerren. Warum Wut im Straßenverkehr völlig okay ist, Selbstjustiz aber
       > nicht.
       
 (IMG) Bild: Nervig, so ausgebremst zu werden. Blockade-Aktion der „Letzten Generation“ am 16.11.2022 in Berlin
       
       Bremen, neun Uhr morgens. Auf der riesigen T-Kreuzung
       Stresemannstraße/Steubenstraße, zwischen Bürgeramt, Baumarkt und Autoläden,
       dort, wo Autofahrer*innen sich scheinbar manchmal so fühlen wie auf
       der Landstraße, nimmt ein weißer Kleintransporter [1][beim Rechtsabbiegen
       einem Radfahrer die Vorfahrt]. Die Bremsen des Rades quietschen, sein
       Fahrer schreit: „Ey!“
       
       Der Van steht schon mitten auf der Spur des Mannes, will sogar
       weiterfahren, ohne das Rad vorher vorbeizulassen. Es folgt ein Stop-and-go
       beider, ein Schlag das Radfahrers an die Außenwand des Autos, ein weiterer
       Schrei.
       
       Alle Menschen, die Rad fahren, kennen wohl dieses Gefühlschaos: unbändige
       Wut, Dankbarkeit, noch zu leben – und den Impuls, diesen einen Gedanken
       „Hätte ich doch nur …“ Aber was? „Hätte ich doch nur noch lauter
       geschrien?“ „Wäre ich doch nur in die Fahrerkabine gesprungen und hätte ihm
       eine reingehauen?“
       
       Bevor nun der Eindruck entsteht, dies sei eine [2][Hassrede an
       Autofahrer*innen]: Ist es nicht. Es ist ein Text voller Verständnis
       für alle Gefühle im Straßenverkehr.
       
       ## Sogar Autofahrende leiden
       
       Es sind nicht nur Radler*innen, die von Rad- oder Autofahrenden bedrängt
       oder von Fußgänger*innen ausgebremst werden. Auch Leute, die zu Fuß
       unterwegs sind, leiden unter Unachtsamkeiten der beiden anderen Gruppen,
       unter schmalen, zugeparkten Wegen, ätzenden Ampelphasen. Sogar Autofahrende
       haben es nicht leicht: wenn Menschen einfach bei Rot gehen oder fahren,
       andere Autos drängeln – oder wenn sich Protestierende der „[3][Letzten
       Generation“ vor ihnen auf die Straße kleben].
       
       Wer dann zu einem Arzttermin oder das kranke Kind aus der Kita abholen
       muss, hat jedes Recht, wütend zu sein. So auch der Mann, der Anfang der
       Woche in Göttingen mit vielen anderen vor einer blockierten Kreuzung
       ausharren musste. „Ich muss arbeiten“, rief er, noch bevor die Polizei da
       war, und zerrte Aktivist*innen von der Straße, wie ein Video belegt.
       Diese setzten sich natürlich kurz danach wieder an ihren Platz. „Halt die
       Fresse“, rief der Fahrer, und: „Ihr Wichser.“
       
       Recht auf Wut: ja. Recht auf Selbstjustiz: ganz klar nein. Die Hannoversche
       Allgemeine Zeitung (HAZ) stellt trotzdem die Frage, ob Autofahrer
       „eigenhändig die Straße freiräumen dürfen“. Der zitierte Polizeisprecher
       stellt dann zum Glück klar: Dürfen sie natürlich nicht. Es handele sich
       schließlich um eine Versammlung. [4][Laut HAZ habe der Autofahrer sogar
       gedroht]: „Setz dich wieder hin und ich breche dir die Beine.“
       
       Dass die HAZ das Thema auf diese Art aufgreift, ist nicht nur unnötig,
       sondern auch unangenehm. Denn es zeigt eine Ungerechtigkeit – Autofahrer
       kann wegen der Blockade nicht zur Arbeit –, die im Vergleich zu anderen
       Ungerechtigkeiten klitzeklein ist.
       
       ## Mehr verunglückte Radfahrende
       
       Zum Beispiel, dass Menschen ohne Blechpanzer [5][bei Unfällen immer
       benachteiligt] sind. Im ersten Halbjahr 2022 ist die Zahl der verunglückten
       Radler*innen in Hamburg und Schleswig-Holstein gestiegen – im Stadtstaat
       um fast 25 Prozent im Vergleich zu 2019, vor allem mit Pedelecs. Um die
       gleiche Prozentzahl sanken die Verunglückten im Pkw oder Lkw. Weil jetzt
       einfach [6][mehr Menschen Rad fahren]? Vielleicht. Das ändert aber nichts
       daran, dass die absolute Zahl der Verletzten gestiegen ist.
       
       Und da wäre noch die Ungerechtigkeit der Klimakrise, für deren Bekämpfung
       sich die Aktivist*innen einsetzen. Weil sie finden, dass die Politik
       immer noch viel zu wenig tut, greifen sie inzwischen zu drastischen
       Mitteln. Das ist verständlich angesichts der Katastrophe, die vor allem auf
       die Jüngeren zurollt.
       
       Natürlich fühlt es sich unfair an, wenn einen so eine Blockade selbst
       trifft. Trotzdem: Auf den Gedanken, sich selbst zu wehren, darf nie eine
       Handlung folgen. Wenn Sie das nächste Mal in einer solchen Blockade stehen,
       denken Sie dran: Diese Menschen haben jedes Recht, auf das größte Problem
       aufmerksam zu machen, dass die Menschheit jemals hatte. Und Sie und Ihre
       Pläne sind in diesem ganzen großen Zirkus relativ unwichtig.
       
       8 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [4] https://www.haz.de/der-norden/goettingen-autofahrer-zerrt-klimaaktivisten-von-der-strasse-und-droht-XP7TJAOEXZCTPOUXRYJBUAQLJM.html
 (DIR) [5] /Getoetete-Radfahrerin-in-Berlin/!5821702
 (DIR) [6] /Wenn-Lastenraeder-Autos-ersetzen/!5895689
       
       ## AUTOREN
       
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