# taz.de -- Revival der Cassette: Stichflamme Dormagen – Tape only
       
       > Wie es zur Renaissance von Cassetten als Tonträgern kam. Eine Spurensuche
       > zwischen ESA-Raumfahrtagentur und DIY-Homerecording.
       
 (IMG) Bild: Höre, staune, gute Laune: Die Cassetten-Single vom genialen Künstler-Alias „Stichflamme Dormagen“
       
       Totgesagte leben länger. Nahezu unbeachtet vom Mainstream ist in den
       letzten Jahren eine äußerst umtriebige Musikszene entstanden, die sich
       eines steinalten Mediums bedient: Wir sprechen nicht etwa vom grassierenden
       Vinylboom, sondern von der Kompaktkassette (engl. Compact Cassette, CC,
       oder auch MC für Music Cassette) und ihren Jünger:Innen – bisher eine
       Nische, die von größeren Marktaktivitäten und wohlfeilem Investorengeist
       unbehelligt bleibt.
       
       Während für das Wiederaufleben der Schallplatte mehr oder weniger
       schlüssige Gründe angeführt werden können – warmer Sound, durch Form und
       Verpackung prädestiniert zum Sammelobjekt et cetera –, drängt sich die
       Kassette mit ihrem Plastiküberschuss und den knirschenden Hüllen nicht
       unbedingt als Fetisch auf. Man muss darüber hinaus in diesen Tonträgern
       herumspulen, kann Stücke nicht gezielt ansteuern, das Band wird eingezogen,
       auch mal „gefressen“, leiert mit der Zeit aus und klingt dünner.
       
       Doch trotzdem gibt es nicht nur hierzulande eine rege Szene, die auf das
       magnetische Band in der PET-Hülle schwört. Ab wann und warum man sich der
       Kassette wieder zugetan zeigte, darüber lässt sich vortrefflich streiten:
       In der hiesigen Musikszene sehr prominent ist das Berliner Label Mansions &
       Millions, das 2020 sogar den Indie Award des Verbands der unabhängigen
       Musikunternehmer*innen (VUT) gewinnen konnte.
       
       ## Nu New Age-Ästhetik
       
       In Neukölln setzte man seit dem Start im 2015 immer auch auf Kassetten.
       Dort findet sich dann Pop von Acts wie Andreya Casablanca (vom Duo Gurr)
       und dem New-Age-Ästhetik-Enigma The Zenmenn wieder. Neben formalen und
       ästhetischen Gründen – Retrooptik, Mixtape-Reminiszenzen,
       Achtziger-Revival – sprechen in jedem Fall eben auch monetäre Gründe dafür,
       sich dem vermeintlichen Dino-Medium zuzuwenden.
       
       Im Gegensatz zu Vinyl ist die Produktion von Tapes billig und schnell
       realisierbar. Im Zweifel braucht man nicht mehr als ein Kopiergerät:
       Doppelkassettendeck mit Recordingfunktion plus einige Rohlinge. So trägt
       die Wiedergeburt der Kassette auch besondere Blüten: Selbst die scheinbar
       unhandliche Cassingle ist reinkarniert. Kein ganzes Album, sondern
       vergleichbar mit der Maxi-CD oder dem 7-Zoll-Vinyl, verbergen sich hier
       zwei bis vier Tracks auf den beiden Seiten einer Kassette – nicht mehr,
       nicht weniger.
       
       In Köln hat sich im September 2020 ein Label gegründet, das sich auf die
       Veröffentlichung von Cassingles spezialisiert hat: Superpolar Taïps.
       Gründer und Chef des Miniladens ist Marco Trovatello und Eingeweihten kein
       Unbekannter. Im Hauptberuf ist er bei der Europäischen
       Raumfahrtorganisation ESA für die Kommunikation und Außendarstellung
       verantwortlich. Abseits kosmischer Gefilde ist Trovatello seit Mitte der
       Nullerjahre zu einem arbeitenden Aktivisten in Sachen der Netzmusik
       geworden.
       
       ## Schrumpfender Markt
       
       Als das Musik-Internet in Form von Napster und Pirate Bay Anfang der
       Nullerjahre gerade seine Unschuld verloren hatte und die „Diebe des Netzes“
       zu den Sündenböcken des schrumpfenden Musikmarktes gemacht wurden, entstand
       im Underground Gegenwehr. Hier kamen nun einige Tausend Musikschaffende
       weltweit zusammen und versuchten das „Geschäft“ und die Kunstform sowie
       ihre Distribution neu zu denken.
       
       Das (Inter-)Netz sollte nicht als kunstfeindlich, sondern als emanzipativ
       gedeutet werden – Demokratisierung der Mittel. Die Möglichkeiten des WWW
       wurden also nicht verteufelt, sondern affirmiert: Man stellte fortan Musik
       zu sogenannten Creative-Commons-Lizenzen kostenfrei in den Orkus. Nur die
       Vervielfältigung war eingeschränkt, der private Genuss mehr als willkommen.
       
       Damals kamen zuvorderst Experimental- und Nischen-Fuzzis zusammen,
       mittenmang Trovatello: „Mit Frank Christian Stoffel hatte ich damals selbst
       ein klassisches Netlabel namens ‚Der Kleine Grüne Würfel‘ betrieben. Mit
       CC-Lizenzen, so offen wie möglich, nur digital.“ Netzmusikkultur starb
       infolgedessen einen langsamen Tod.
       
       ## Im Netz monetarisierbar
       
       Die Arbeit für den Gotteslohn ließ sich nicht in bare Münze umwandeln;
       globale Verbreitung war zwar vortrefflich, die Zentren aber so weit
       verstreut, dass Touren unmöglich war. Dazu drängten sowohl die
       Streamingunternehmen wie Spotify und Apple Music auf den Markt als auch
       die Distributionsplattform Bandcamp. Musik war jetzt leichter erhältlich
       und in einem ganz kleinen Umfang endlich auch im Netz monetarisierbar.
       
       Folglich wuchs der Markt für Tonträger; unter ihnen auch das Tape.
       Musiker:Innen veröffentlichten nun eben Kassetten und verschickten sie
       in die weite Welt. Dafür gab es Porto und sogar noch ein paar Euros
       obendrauf. Die Kassette, mit ihren geringen Herstellungskosten (die
       Produktion kostet zwischen 50 Cent und zwei Euro) und der Möglichkeit, sie
       selbst zu Hause zu vervielfältigen, bot sich für solcherlei Späße an.
       
       Trovatello ist nachhaltig vom Medium fasziniert: „Ich fand interessant,
       dass diese Szene und das Medium Kassette in Deutschland, abgesehen von dem
       Künstler Harald ‚Sack‘ Ziegler, meist unterbelichtet blieb. Obwohl sie
       eigentlich genau die Idee von ‚Untergrund-Musik‘, wie ich sie verstanden
       habe, verkörpert.“ Jener Harald „Sack“ Ziegler ist seit 40 Jahren das
       Gewissen des Kölner Undergrounds und veröffentlicht eben auch Musik auf dem
       Label Superpolar Taïps.
       
       ## Dissidente Magnetbänder
       
       Seine ersten Schritte machte Ziegler in den frühen Achtzigern. Damals
       wandten sich sowohl in der BRD als auch in der DDR vermehrt Bands der
       Kassette als Medium zu. Mehrere hervorragend zusammengestellte Compilations
       wurden hier zuletzt veröffentlicht; hervorzuheben sind etwa
       „[1][Magnetband] – experimenteller Elektronik-Underground DDR 1984–1989“
       und „Elektronische Kassettenmusik Düsseldorf 1982–1989“.
       
       Während die zweite Kopplung ihre Relevanz aus dem Fokus auf die rheinische
       Industrial- und Postpunk-Szene gewinnt, kann „Magnetband“ exemplarisch die
       Geschichte halb-illegaler, dissidenter Musik in der ehemaligen DDR
       erzählen. Einfach, schnell, dreckig und abseits des staatlichen Apparats
       konnten Bands wie die [2][AG. Geige] (aus dem heutigen Chemnitz) ihre Musik
       verbreiten.
       
       Diese gleich zweifach disparate Rolle, die die Kassette in der deutschen
       Musikszene gespielt habe, sei dann dementsprechend Hauptantrieb gewesen bei
       der Gründung von Superpolar Taïps. Neben Netzmusik-Bekanntschaften aus
       aller Welt, liege der Fokus auf der deutschen Underground-Szene. Die Namen
       der Künstler*innen sind deswegen nur Insidern ein Begriff, sie haben
       allesamt einen besonderen Glanz: Whettman Chelmets (rauschender
       Gitarren-Elektro-Noise) trifft auf moduS ponY (sortiert man in der Nähe von
       [3][Mouse on Mars] ein).
       
       Höchstrangig interessant ist auch Stichflamme Dormagen. Wer oder was sich
       dahinter verbirgt, darüber schweigt sich Trovatello aus – wie auch bei
       anderen Acts seines Labels, die lieber in der Anonymität verbleiben wollen.
       
       Die Stichflamme in der Bayer-Chemiepark-Stadt Dormagen leuchtet trotzdem
       lichterloh: [4][„Ihre Meinung ist uns wichtig“] ist ein zweiminütiger
       Parforceritt, der zwischen Punk, Animal-Collective-Demo und tribalistischem
       Ritual changiert. Selbstverständlich klingt das krude, ja sogar leicht
       bekloppt; manches bewegt sich an der Grenze der Hörbarkeit. Aber genau für
       solche Experimente ist das Label und sein Cassingle-Format gedacht.
       
       Daran ändert auch nichts, dass mittlerweile vollständige Alben – ebenso auf
       MC – erscheinen. Die gesammelten Werke des Duos Klaus C. Niebuhr & Wilfried
       Schmitz aus den Jahren 2002 bis 2004, nicht ganz ernst als „The Greatest
       Hits“ veröffentlicht, liefern einen wunderbaren akustischen Einblick in
       eine Zeit, als sich abseits des Berliner Indie-Mainstreams überall in der
       BRD seltsame kleine Zellen bildeten, die eigenwillige, geniale
       Homerecording-Musik realisierten.
       
       Wer zu Hause noch ein funktionierendes Tapedeck rumstehen hat, sollte der
       alten Plastikschrulle beizeiten eine Chance geben. Unverhofft gute Musik
       könnte einem sonst verborgen bleiben.
       
       23 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /DDR-Spacefunk-von-Charlie-Keller/!5717177
 (DIR) [2] /Kulturszene-in-Chemnitz/!5619232
 (DIR) [3] /KI-Konzeptalbum-von-Mouse-On-Mars/!5753913
 (DIR) [4] https://superpolar.bandcamp.com/album/ihre-meinung-ist-uns-wichtig-cassingle-21
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lars Fleischmann
       
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