# taz.de -- Venezianische Bootskultur im Film: Denn sie wissen nicht, was sie tun
       
       > Der Regisseur Yuri Ancarani beobachtet in seinem Film „Atlantide“ eine
       > Motorboot-Subkultur: Jugendliche in den Lagunen rund um Venedig.
       
 (IMG) Bild: Stille Wasser fließen tief: Szene aus „Atlantide“
       
       Einmal fabulieren Daniele und seine Freundin Maila über eine Redewendung:
       Wer es gemächlich angehe, der komme weit; wer hingegen schnell mache,
       steuere in den Tod. Nahezu prophetische Gedanken, beobachtet man die jungen
       Männer, die der italienische Regisseur Yuri Ancarani für seinen Film
       „Atlantide“ über mehrere Jahre beobachtet und schließlich in
       konzentrierter, ästhetisierter Form abgebildet hat.
       
       Recht schnittige Kerle in noch schnittigeren Booten, genannt [1][Barchin]i,
       ausgestattet mit leistungsstarken Motoren, Subwoofern und neonfarbenen
       LEDs. Dazu rollen die Lyrics von Rapper Sick Luke, und Plastikverpackungen
       von [2][Kinder-Pinguí]-ähnlichen Süßigkeiten fliegen durch die Gegend.
       Gerne steckt man sich auch einen Joint an oder versteht sich aufs
       effektvolle [3][Vapen].
       
       Der 50-jährige Ancarani weiß, wie man derlei Ausdrucksformen einer doch
       ziemlich spezifischen Jugendkultur, angesiedelt auf den Lagunengewässern
       vor und um Venedig, ansehnlich in Szene setzt. Minutenlang sind die
       Selbstinszenierungen seiner Protagonisten mitzuerleben, Scope-Bilder fassen
       die Weite der glatten Wasseroberfläche, über die die Boote aufgrund ihrer
       Geschwindigkeit manchmal hüpfen wie flache kleine Steine, die man genau
       dafür aus seinem Handgelenk geschleudert hat. Die Namen von Freundinnen
       werden als Aufkleber auf das Vehikel geklebt und nach Ende der Beziehung
       wieder abgekratzt.
       
       ## Venedig aus der Distanz
       
       Als Sehnsuchtsort ist Venedig, aus der Distanz stets erkennbar, doch
       scheinbar unendlich weit von den Inseln Sant’Erasmo und Pellestrina
       entfernt, denen Daniele, Maila, Alberto, Jacopo und wie sie alle heißen
       entstammen. Zwei Sommer hat sich der Regisseur laut eigener Aussage unter
       sie gemischt und sich dabei auch an die eigene Kindheit und Jugend in der
       Romagna erinnert – allen voran an die waghalsigen und oftmals tödlich
       endenden Motorradrennen, die unter dem Namen „Samstagabendmassaker“
       firmierten.
       
       „Atlantide“ wohnt damit auch eine gleißende Morbidität inne, ein Exzess
       unter der Sonne. Nicht selten strahlen die Bilder des Films betonte Ruhe
       und Coolness aus. Die Gefahr wird aus der Langeweile geboren und dem
       Versuch, ihr zu entkommen. Zumindest sporadisch artikulieren sich einzig
       Daniele und seine Freundin Maila, die eine eher glücklose und von einseitig
       empfundenen Gefühlen geprägte Beziehung führen.
       
       Während Danieles Boot dem der anderen in Sachen Geschwindigkeit unterlegen
       ist (und noch dazu Benzin ans Wasser abgibt), berichtet Maila von zittrigen
       Knien, die den Angehimmelten allerdings so gar nicht zu interessieren
       vermögen. Beide schwappen Kilometer vorm Markusbecken an ihren eigenen
       Begierden vorbei, während andere ringsum versuchen, das Beste aus der
       Situation herauszuholen: Open-Airs auf der Insel San Francesco del Deserto
       zwischen einer Handvoll Mönche, Selfies im Bikini.
       
       ## Menschenleer und dunkel
       
       In „Atlantide“ gehen Stillstand und Bewegung eine sonderbare Beziehung ein,
       es prallen die Gegensätze Venedigs so verstörend wie betörend aufeinander.
       Immer wieder füllen gigantische Kreuzfahrtschiffe das Bild, ist der
       massentouristische Schwall zu erahnen, der ansonsten jedoch gesichtslos
       bleibt. Als Daniele, mit einem anderen, schnelleren Motorboot, schließlich
       doch Venedig erreicht, nachts, mit einer neuen Freundin oder vielleicht nur
       einer Geliebten für einige Stunden, wirkt die Stadt menschenleer und
       dunkel.
       
       Einzig die Beats seines Bootes hallen unter den Brücken, unter denen die
       ausgelassene Begleitung (Schauspielerin Bianka Berényi), auf dem Bug
       thronend und tanzend, hindurch zu tauchen scheint.
       
       Die schamlose, provokante, laute und triumphale Penetration eines Ortes, an
       dem man, entsprechend einer Logik des Tourismus, nachts nichts zu suchen
       hat. Es ist eine der zweischneidigen Feierlichkeiten in Ancaranis Film, der
       sich klar auf die Seite einer Generation stellt, die sich dem Leben völlig
       schutzlos preisgibt. Mit freiem Oberkörper und starrer Miene beschleunigen
       die Männer auf den Barchini auf weit über 80 Stundenkilometer, ein kleiner
       Fehler, eine Kollision mit einem den im Wasser treibenden, maroden
       Holzstählen, einer Bricola, könnte den Tod bedeuten. Der Flirt mit der
       Geschwindigkeit kommt ohne Sicherheitsgurt.
       
       ## Maskuline Welten
       
       Dabei ist es nicht das erste Mal, dass der Filmemacher dem manchmal
       zwanghaft anmutenden Treiben maskuliner Welten beiwohnt. In „The
       Challenge“, einem Dokumentarfilm von 2016, der das Leben unanständig
       reicher Scheichs in Katar zeigte, transportierte sich die Sucht nach
       Geschwindigkeit, nach Superlativen, ebenfalls anhand von Fahrzeugen.
       
       Vergoldete Motorräder etwa und weiße Geländewagen, die sich die hohen Dünen
       emporzwangen und deren Motoren den Sand unter sich zum Schmelzen brachten.
       Auch animalische Statussymbole schmückten: Geparde, an der Leine und neben
       sich auf dem Sofa drapiert, Falken, als Reisebegleiter im Privatjet.
       
       „The Challenge“ verstand sich als rein dokumentarische Arbeit, Yuri
       Ancarani selbst wandelt immer wieder zwischen Dokumentarischem und
       Fiktionalem. Eine Mischung, die ihm auch Zutritt zu bedeutenden Galerien
       und Biennalen verschafft hat. „Atlantide“ generiert seine Kraft indes vor
       allem aus einer Herangehensweise, die der Regisseur selbst im Spektrum des
       Dokumentarfilms verortet: die lange und intensive Beobachtung seiner
       Protagonisten. Aus ihr sei nach und nach die Geschichte entstanden.
       
       ## Sorgen, Nöte und Träume
       
       Ancarani habe die Gespräche der jungen Leute verfolgt, von ihren Sorgen,
       Nöten, Träumen erfahren, sie unauffällig und ohne Crew gefilmt. Und
       tatsächlich ergibt sich der Film auf eine bemerkenswerte Weise, der übliche
       Drehbuch-Leim fehlt und wird kaum vermisst, einige Szenen wirken kryptisch,
       können erst im Nachhinein, vielleicht gar nicht verstanden werden.
       
       Yuri Ancarani operiert offenbar mit der Vision eines selbstständigen
       Publikums, dem man nur wenig Navigation mit auf dem Weg geben muss. Dafür
       wird es audiovisuell belohnt. Denn die Loslösung von diversen
       Genre-Konventionen legt einen Möglichkeitsraum frei, in dem nicht nur die
       Regie unbekümmerter agieren kann – auch als Betrachtender erfährt man eine
       Erleichterung.
       
       „Atlantide“ bietet die Möglichkeit, sich sehr unmittelbar in ein Universum
       zu begeben, das fasziniert und existiert, das sich seiner eigenen Echtheit
       aber nicht laufend selbst versichern muss. Gleichzeitig geht die
       Stilisierung der leuchtenden, wummernden Motorboote mit einer grundlegenden
       Ästhetisierung einher, die mitunter überaus mitreißend sein kann.
       
       Eine lange, sehr unheimliche Kamerafahrt gegen Ende des Films dreht die
       Perspektive auf eine Art, dass die sich auf dem Wasser spiegelnden Brücken
       Venedigs zu Toren, Pforten, gleichsam fantastischen Gesichtern wandeln,
       durch die man unaufhörlich zu gleiten scheint. Schlund um Schlund wird man
       verschluckt, dringt tiefer; ist das Atlantis, fragt man sich irgendwann,
       haben die vielen Barchini-Kapitäne einen letztlich hierhin geführt?
       
       Dass es sich nur um ein Kippbild handelt, einen gar nicht allzu aufwendigen
       Kniff, kann für das Vermögen Yuri Ancaranis sprechen, etwas
       Unwahrscheinliches an einem unwahrscheinlich oft fotografierten Ort
       ausfindig zu machen. Die Geschichte von „Atlantide“ vollzieht sich
       tagtäglich vor einer der berühmtesten Kulissen der Welt. Jemand, der quasi
       von der Bühne aus in die hinteren Reihen guckt, seinen Blick schärft und
       das Vorgefundene noch einmal in einem ganz eigenen Modus wiedergibt,
       schafft nicht nur etwas sehr Sehenswertes, sondern auch Außergewöhnliches.
       
       7 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=Sh_ymU8bn9Y
 (DIR) [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kinder_Pingu%C3%AD
 (DIR) [3] https://www.smokesmarter.de/was-ist-vapen
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carolin Weidner
       
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