# taz.de -- Die Wahrheit: Rio, sing doch mal was!
       
       > Ein Künstler mit Widersprüchen war Rio Reiser. Doch sein Publikum wollte
       > von ihm am liebsten Eindeutiges. Wie im Sommer 1994 …
       
       Als vor Kurzem der Kreuzberger Heinrichplatz [1][in Rio-Reiser-Platz
       umgetauft wurde], dachte ich: Das ist doch mal eine hübsche Idee – eine
       staatliche Bürokratie benennt in einem Verwaltungsakt einen Platz nach
       einem Anarchisten!
       
       Diese Widersprüchlichkeit passt prima zu Reisers Leben und Kunst. Bis heute
       aber hätten manche Fans ihn lieber ohne Widersprüche. Eindeutig. Auf dem
       Stand von 1972. Ton Steine Scherben für immer und ewig. Einmal durfte ich
       diese Sehnsucht nach Eindeutigkeit live erleben.
       
       Im Sommer 1994 war ich bei einem kleinen Kulturverein angestellt und nutzte
       die Gelegenheit, um mir einen Fanboy-Traum zu erfüllen: Ich engagierte Rio
       für eine Lesung aus seiner Autobiografie „König von Deutschland“.
       
       Es war das letzte Date einer langen Tour. Er war sichtlich im Eimer, aber
       trotzdem freundlich und unprätentiös: Bier und Wasser auf der Bühne wären
       nett. Nur bitte kein Klavier. Sonst wolle das Publikum nur noch das eine
       von ihm.
       
       Müde setzte er sich an den Lesetisch … um sich augenblicklich zu
       verwandeln. Mit dem ersten Satz war er wach, charmant und selbstironisch.
       Eine Anekdote jagte die nächste. Teile des Publikums waren begeistert.
       Andere waren gekommen, um Gericht zu halten.
       
       Jemand rief: „Sachma, Rio. Wie ist das eigentlich, wenn man so’n reicher
       Sack ist?“ Rio ließ den Rufer freundlich auflaufen: „Versteh ich nicht. Wie
       meinst’n das?“ – „Na ja, wie es ist, wenn man so viel Geld hat?“ – „Kapier
       ich immer noch nicht.“ – „Na ja, du hast ja jetzt Kohle, wie passt das denn
       zu deinen alten Songs.“ – „Tut mir leid, ich hab keine Ahnung, worauf du
       hinaus willst.“
       
       Langsam wurde der Askese einfordernde Inquisitor mürbe. Nach zwei weiteren
       Versuchen kapitulierte er stöhnend: „O Mann … das gibt’s doch nicht.“
       Ähnliche Fragen folgten. Rio reagierte weiter aikidohaft.
       
       Selbstverständlich forderte jemand trotz fehlenden Klaviers: „Rio, sing
       doch mal was!“ Er sang a cappella „Somewhere Over the Rainbow“. Weil er
       ihnen nicht geben wollte, wonach sie eigentlich verlangten. Und weil er das
       Lied liebte. Nicht alle Zuhörer teilten diese Liebe. Einige lachten, einer
       pöbelte: „Da kannste ja auch gleich ‚Que sera‘ singen!“ Ich dachte: „Ja, du
       Honk, und du würdest nicht mal merken, wie schön das wäre!“
       
       Die Enttäuschten ereiferten sich auch hinterher noch lautstark über Rios
       Performance. Sie wollten einen bestimmten, den „Keine Macht für
       Niemand“-Anarcho Reiser, er aber hatte sich verweigert. Wie es sich für
       einen Künstler, gerade für einen politischen, gehört. Aber Kunst war nicht
       das, worum es diesen Leuten ging, sie verlangten nach einer
       Parolenmaschine. Rios wahre Qualitäten interessierten sie nicht.
       
       Der Musiker Lutz Kerschowski beschrieb diese einmal so: „Wenn dieser Typ
       den Mund aufmacht und singt, dann kannst du dem bis ins Herz kucken.“ Ich
       hätte ihm gern noch ein paar Jahrzehnte länger ins Herz gekuckt.
       
       31 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Umbenennung-in-Berlin-Kreuzberg/!5872155
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hartmut El Kurdi
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Rio Reiser
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Musik
 (DIR) Künstler
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Faschisten
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Das UKW-Massaker
       
       Auch im altmodischen Küchenradio von NDR 1 werden Musikstücke mitunter
       schrecklich entstellt.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Mussolinis neue Flamme
       
       Begriffe wie „rechtspopulistisch“ und „postfaschistisch“ werden in den
       Medien beschönigend für rechtsradikale Parteien benutzt. Die Nazis freut's.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Sozialpornos mit Berührung
       
       Schon klar, dass sich soziale Verwerfungen ansprechend für die sogenannte
       Hochkultur inszenieren lassen. Ändern an der Schieflage wird sich so nix.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Trouble auf Windsor Castle
       
       Wenn ein Teebecher zum Orakel wird und sich die weitere Entwicklung der
       britischen Monarchie an seinem Äußeren haargenau ablesen lässt …
       
 (DIR) Die Wahrheit: Zurück in der Umarmerei
       
       Abknutschen adé: Corona war diesbezüglich ein Segen. Plötzlich
       Drück-und-Küss-Pause. Wie schnell man sich doch entwöhnte – bis wieder
       Besuch kam …