# taz.de -- Historiker über Putins Ukraine-Krieg: „Mit Hitler hat das nichts zu tun“
       
       > Immer wieder werden Analogien zwischen Putin und den Nazis gezogen.
       > Historiker Ulrich Herbert sieht das als Versuch einer Entlastung
       > deutscher Schuld.
       
 (IMG) Bild: Zerstörter Kindergarten bei Kiew nach russischem Raketeneinschlag, Juni 2022
       
       taz: Herr Herbert, führt der russische Präsident Wladimir Putin in der
       Ukraine einen Vernichtungskrieg? 
       
       Ulrich Herbert: Nein. Mit diesem Begriff wird der Krieg von Nazideutschland
       in der Sowjetunion bezeichnet. Das Ziel war es, alle jüdischen Teile der
       Bevölkerung und größere Teile der slawischen Bevölkerung zu ermorden und
       das Land zu zerstören. Das ist in unfassbar hohem Maße gelungen, Millionen
       Menschen sind getötet worden. Das meint der Begriff Vernichtungskrieg. Der
       Krieg in der Ukraine hat nach Schätzungen bislang etwa 20.000 Ukrainer und
       mehr als 30.000 Russen das Leben gekostet. Ein schrecklicher Krieg, der
       enormes Leid über das angegriffene Land und seine Bewohner bringt. Was die
       Größenordnungen angeht, kann man vielleicht an den zweiten Irakkrieg
       denken, der 2003 begann und über die Jahre etwa 600.000 Tote kostete.
       Niemand hat diesen Krieg seinerzeit einen Vernichtungskrieg genannt. Aber
       sogleich wurde Saddam mit Hitler verglichen.
       
       Ist das, wie Schriftsteller Hans Magnus Enzensbergers Vergleich von Saddam
       mit Hitler 1991, ein Versuch mit NS-Metaphern einen appellativen Raum zu
       schaffen? 
       
       Diese Vergleiche sollen mobilisieren und beschämen, vor allem in
       Deutschland. Allerdings ist der NS-Vergleich eine kleine Münze geworden.
       Wenn Gaddafi und Saddam, Trump und Putin mit Hitler assoziiert werden
       können, fragt sich, welchen Erklärungswert das noch hat.
       
       Gibt es für Putins Regime und Krieg plausiblere historische Analogien? 
       
       Ja, etwa Milosevic, Serbien und die postjugoslawischen Kriege. Da gibt es
       auffällige Parallelen, auf die die Historikerin Marie-Janine Calic
       hingewiesen hat. Hier wie dort wandelt sich ein zerfallender
       postkommunistischer Staat nach innen zu einer nationalistischen Autokratie
       und nach außen zum Aggressor. Milosevic hat einen Bürgerkrieg entfesselt,
       der etwa 150.000 Opfer gefordert hat. Er hat die großserbische Doktrin
       verfolgt: wo Serben leben, ist Serbien, mit dem Ziel, große Teile der
       selbstständig gewordenen Nachbarstaaten zu annektieren. Das ist übertragen
       auch eine Rechtfertigung für den Angriffskrieg auf die Ukraine. Der extreme
       Nationalismus des Putinschen Regimes und die Perspektive der
       Wiedergewinnung der 1990 durch die Auflösung der UdSSR „verlorenen“ Gebiete
       durch die Schaffung eines großrussischen Reiches sind die entscheidenden
       Kennzeichen des Regimes. Das Regime in Russland ist nationalistisch,
       revisionistisch und imperialistisch; es führt einen brutalen Angriffskrieg.
       Die Faschismus-Vergleiche, die im Umlauf sind, führen nicht weit.
       
       Gibt es da nicht doch Analogien? In Russland existiert ein Führerkult, es
       gibt die Diffamierung des Feindes und ein Freund-Feind-Denken, eine
       totalitäre Formierung der Gesellschaft und Aggression nach außen. Das sind
       Kennzeichen von faschistischen Regimen. Kann man keine Linie von Mussolini
       bis Putin ziehen? 
       
       Die Kennzeichen, die Sie genannt haben, finden wir in einem Großteil aller
       Autokratien und Diktaturen weltweit. Faschistische Regime unterscheiden
       sich von autoritären Diktaturen vor allem durch die Massenbewegung, die den
       Führer trägt und von ihm getragen wird, die ihn nach vorne peitscht und von
       ihm genutzt wird. Diese Dynamik ist entscheidend für faschistische Regime.
       Solches gibt es in Russland nicht. Faschismus ist in Bezug auf Russland ein
       rhetorischer Kampfbegriff, der das Böse und Gegnerschaft assoziieren soll.
       Analytisch taugt er nicht. In dieser Logik könnten wir auch China als
       faschistisch bezeichnen.
       
       Aber existiert da nicht doch ein Graubereich zwischen Diktatur und
       Faschismus? Hatte Pinochets Militärdiktatur in Chile faschistische Züge? 
       
       Die chilenische Militärdiktatur war ein grausames Regime, das zehntausende
       Oppositionelle ermorden und verschwinden ließ. Wir haben uns angewöhnt,
       nahezu alle Rechtsdiktaturen als „faschistisch“ zu bezeichnen und so in die
       Nähe der Verbrechen des NS-Regimes zu stellen. Das war auch nach dem Putsch
       Pinochets 1973 so, „Faschismus“ war der zentrale Begriff der Mobilisierung
       gegen das chilenische Militärregime. Aber in Chile gab es weder einen
       Führerkult noch eine faschistische Massenbewegung, keine völkische
       Ideologie, nicht einmal kriegerischen Expansionismus. Es war eine
       Militärdiktatur, die mithilfe der USA die linke Opposition in dem Land
       unterdrückte und ausrottete, auch um so eine Linksentwicklung in
       Lateinamerika zu verhindern. Zudem war Chile unter Pinochet das
       Versuchslabor des extremen Neoliberalismus. Man sieht, die Vokabel
       „Faschismus“ verdeckt hier mehr als sie erklärt. Sie dient vor allem dazu,
       unsere Abscheu zu demonstrieren. Aber das nützt sich ab.
       
       Russland begründet den Krieg mit dem „Kampf gegen die Faschisten“ in Kiew … 
       
       …und seine Aggression gegen die Ukraine sogar mit der Behauptung eines
       „Genozids“ der Ukraine an russischstämmigen Bürgern. Das besitzt zwar
       keinerlei faktische Grundlage, dient aber vor allem der Legitimation des
       Angriffs auf die Ukraine gegenüber der eigenen Bevölkerung, indem eine
       Verbindung zum Großen Vaterländischen Krieg von 1941/45 gezogen wird:
       Damals wie heute gegen die Faschisten! Das ist offensichtlich absurd, und
       zeigt wie schal diese Vergleiche geworden sind.
       
       Der Krieg in der Ukraine wird von Historikern und Medien als Völkermord
       bezeichnet. Weniger wegen der extrem hohen Opferzahlen, sondern weil hier
       die Identität eines Volkes ausgelöscht werden soll. Putin sieht die
       Ukrainer ja als „Kleinrussen“ und subalternen Teil seines Imperiums. Ist es
       sinnvoll, in diesem Sinne von Völkermord zu sprechen? 
       
       Völkermord und auch Genozid bedeuten die physische Vernichtung einer
       nationalen oder kulturellen Entität. Die stetige Ausweitung des Begriffs
       hin zu kulturellem Völkermord ist hoch problematisch. Sie wird ja
       beispielsweise auch von rechtsradikalen Intellektuellen benutzt, um die
       Auswirkungen der Massenmigration nach Europa zu diffamieren. Putins Ziel in
       der Ukraine ist ein anderes – die Auslöschung der nationalen Identität der
       Ukraine, die in einem völkischen Sinn Russland zugerechnet wird. Das ist
       ein brutales, ein verbrecherisches Konzept, aber es ist etwas völlig
       anderes als die physische Vernichtung.
       
       Sondern? 
       
       Ein Eroberungskrieg, ohne Rücksicht auf zivile oder militärische Verluste,
       aber mit begrenzter Zielsetzung. Kennzeichnend ist hier, dass die russische
       Führung offenbar davon überzeugt war, die Ukraine durch einen kurzen
       „Sondereinsatz“ besiegen, die Ostteile annektieren, das Land aus der
       Verbindung zu Europa und dem Westen lösen und an Russland binden zu können.
       Ähnlich wie vor zwei Jahren in Weißrussland nach der gefälschten
       Präsidentenwahl, als Lukaschenko mit russischer Unterstützung die
       prowestlich orientierte Protestbewegung brutal niederschlug und sein Regime
       ganz an die russische Macht anlehnte. In der Ukraine aber erwies sich
       dieses Kalkül wegen des massiven militärischen Widerstands als falsch, und
       nun setzt Putin auf die systematische Zerstörung der zu erobernden Städte
       durch Artillerie, ganz wie im zweiten Tschetschenienkrieg nach 1999 mit
       vermutlich bis zu 80.000 Toten.
       
       Der Historiker Timothy Snyder hat der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
       gesagt, dass „die Kolonisierung der Ukraine Hitlers Hauptziel im Zweiten
       Weltkrieg war“. Kann man das so sehen? 
       
       Snyder hat in dem Buch „Bloodlands“ einleuchtend gezeigt, dass die
       stalinistische Aushungerungspolitik, der Holocaust und die
       Partisanenverfolgung durch die Deutschen vor allem Weißrussland, die
       Ukraine und die westlichen Gebiete Russlands betrafen. Der Ansatz, von
       doppelt bestraften Regionen zu sprechen, die von Hitlers und Stalins
       Gewaltpolitik heimgesucht wurden, ist plausibel. Aber Hitlers Krieg gegen
       die Sowjetunion richtete sich gegen den Kommunismus und zielte auf die
       rassistische Unterwerfung der Slawen. Unterscheidungen zwischen den
       einzelnen Völkern der Sowjetunion spielten dabei keine Rolle, die Ukraine
       als Staat oder Nation besaß für Hitler überhaupt keine Bedeutung. Dass
       Snyder nun auch den in Deutschland seit einiger Zeit frisch erwachten
       Antikolonialismus auf die Ukraine lenkt, um Unterstützung von den Deutschen
       zu bekommen, ist noch weniger überzeugend. Deutschland war nach 1941 kein
       Kolonialherr in der Ukraine, sondern eine brutale Besatzungsmacht für drei
       Jahre. Es gab auch keine spezifische NS-Unterdrückung in der Ukraine, die
       sich von der im Baltikum, in Weißrussland oder in Westrussland
       unterschieden hätte. Auch Snyders These, es sei „Hitlers zentrales
       Kriegsziel“ gewesen, die ukrainische Landwirtschaft zu kontrollieren, ist
       nicht haltbar. Das zentrale Kriegsziel der Nazis war die Vernichtung der
       „jüdisch-bolschewistischen Sowjetunion“. Die Gewinnung der
       „Nahrungsfreiheit“ durch den Zugriff auf die sowjetische Landwirtschaft war
       ein Ziel neben vielen anderen. Der anerkannte Historiker Snyder hat sich
       mehr und mehr in einen Aktivisten verwandelt, der sich massiv für die
       nationalen Interessen vor allem von Polen und der Ukraine einsetzt und dort
       wie ein Heilsbringer gesehen wird. Diese Rolle hat Vorteile, aber
       intellektuell eben auch Schattenseiten.
       
       Hat die Verknüpfung von Putin mit NS-Vergleichen in Deutschland eine
       Entlastungsfunktion? Oder spielt das keine Rolle mehr? 
       
       Es gab kürzlich einen Prozess in der Ukraine gegen einen jungen russischen
       Kriegsgefangenen, der einen Zivilisten getötet hatte. Er wurde zu
       lebenslanger Haft verurteilt – ein Urteil, das die russische Seite jetzt
       mit Todesurteilen gegen aus westlichen Ländern stammende Soldaten der
       Ukraine beantwortet. In Spiegel online wurde der russische Soldat aber
       sogleich mit Adolf Eichmann verglichen, dem hauptverantwortlichen
       Organisator des Holocaust. Die Überschrift lautete nach Hannah Arendts
       bekanntem Diktum, „Die Banalität des bösen Russen“. Das kann nur einer
       deutschen Journalistin einfallen. Ein Russe erschießt einen ukrainischen
       Zivilisten, und in Deutschland assoziiert jemand sofort: Holocaust! Das hat
       offenbar etwas Entlastendes: Jetzt sind endlich andere so schrecklich wie
       einst die deutschen Nazis.
       
       Ist dies das einzige Motiv, warum so problematische Begriffe so oft
       verwendet werden? 
       
       Faschismus, Vernichtungskrieg und Völkermord sind jetzt Reizworte, um die
       Deutschen bei der Ehre oder der historischen Moral zu packen. Die Botschaft
       ist: Ihr habt schon mal einen Vernichtungskrieg geführt, jetzt passiert das
       wieder, ihr dürft euch nicht zurückhalten. Und zugleich richtet es sich an
       die deutschen Linksliberalen: Ihr bildet euch doch so viel auf eure
       „Vergangenheitsbewältigung“ ein. Jetzt könnte ihr in der Ukraine mal
       zeigen, wie ernst ihr es damit meint. Snyder, manche deutsche Politiker und
       Journalisten hoffen, auf diese Weise die deutsche Öffentlichkeit, die in
       dieser Frage gespalten ist, zu beeindrucken, um eine stärkere militärische
       Unterstützung der Ukraine durch Deutschland auszulösen. Die soll den Sieg
       bringen, während das Zögern Deutschlands den Untergang der Ukraine, wenn
       nicht Europas bedeuten würde. Das scheint mir eine vollständige
       Überschätzung der politischen und militärischen Potenziale Deutschlands zu
       sein.
       
       Soll die Bundesregierung ihre Zurückhaltung aufgeben und der Ukraine mehr
       von den verlangten Waffen lieferte? 
       
       Das hängt von politischen und militärischen Faktoren ab, die ich weder
       übersehen noch wirklich beurteilen kann, zumal die Faktengrundlage höchst
       dünn und widersprüchlich problematisch ist, wie immer in Kriegszeiten. Wenn
       ich es recht verstehe, sind sich die Militärexperten in dieser Frage nicht
       einig und eher skeptisch, was den Kriegsausgang betrifft. Die Beantwortung
       der Frage hängt jedenfalls nicht ab von historischen Analogien oder
       moralischen Postulaten. In der Ukraine findet ein Aggressionskrieg einer
       imperialistischen Atommacht statt, und es ist ohne Zweifel richtig, sich
       dem entgegenzustellen. Die Beantwortung der Frage, in welchem Ausmaß und
       bis zu welchem Punkt die westliche und zumal die deutsche Politik die
       Ukraine militärisch unterstützt, hängt davon ab, wie man die militärischen
       Chancen und die politischen Risiken einschätzt. Mit „Faschismus“ und
       „Hitler“ hat das nichts zu tun.
       
       1 Jul 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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