# taz.de -- Die Wahrheit: Vom Haufen zum Kompost
       
       > Am Samstag öffnet die Documenta fifteen in Kassel ihre Pforten. Die
       > Wahrheit ist schon einmal hindurchgeschritten.
       
 (IMG) Bild: Kunstwerk der Documenta 15 in Kassel
       
       Die Warterei ist endlich vorbei: Dann dreht sich die Kunstwelt nicht mehr
       um Basel, Venedig oder New York, denn schon bald öffnet die weltweit
       bedeutendste Ausstellung gutaussehender, moderner und leider auch teurer
       Kunst ihre Pforten: Vom 20. bis 25. September findet in Hannover die IAA
       Transportation Messe statt, die Internationale Automobil Ausstellung für
       Brummis, Trucks und Laster. Unbedingt empfehlenswert, für Kunstfreaks und
       Mobilskulpturensammler ein absolutes Muss! Doch leider hat diese
       Topveranstaltung einen hohen Preis – man müsste dafür nach Hannover reisen.
       
       Immerhin könnte man sich die Bedenkzeit mit einem Ausflug nach Kassel
       verkürzen, dem Hannover Nordhessens. Denn dort wird morgen wieder die
       Documenta eröffnet, die insgesamt fünfzehnte von fünfzehn. Sie wird in
       diesem Jahr offiziell „documenta fifteen“ heißen, denn das ist
       international und wird sogar im fernen Hessisch Sibirien verstanden, in den
       numinosen Weltgegenden zwischen Bad Wildungen und Bad Zwesten.
       
       Die weltberühmte Documenta ist eine mit Kunst aufgepimpte Bundesgartenschau
       von einzigartigem Rang. Über volle hundert Tage hinweg verwandelt sich die
       stolze Pökelfleischstadt Kassel in das „Museum der hundert Tage“. Dennoch
       kostet das Tagesticket keine hundert, sondern nur schlappe 27 Euro; falls
       aber die Inflation weiter krass ansteigt, wird (bei gleichbleibendem Preis)
       aus dem Tages- ein Stundenticket. Dafür gibt es dann aber auch eine riesige
       Auswahl fantastischer Kunstwerke zu sehen, von denen man einige
       ausdrücklich berühren darf, andere hingegen nicht. Manche oder auch viele
       Künstlernamen wird man noch nie gehört haben, doch das macht nichts,
       denn Namen sind Schall und Rauch, Kunst hingegen ist Rauch mit Schall und
       einem Quantum Trost.
       
       Insgesamt, so schätzen Experten, wird im Kasseläner „Museum der tollen
       Tage“ Kunst im Wert von mindestens 328 Millionen Euro zu sehen sein.
       Ziemlich sicher werden groß- und mittelformatige Bilder und unförmige,
       längliche Plastiken aus Verbundwerkstoffen zu sehen sein, auch
       Flachbildschirme mit verwackelten Videos, wo einer schreit oder zittert,
       ferner erwarten uns von Globalisierungsverlierern zusammengeleimte Mobiles
       mit rätselhaften Motiven, zentnerschwere Stoffresteballenaufhäufungen, die
       irgendetwas kritisch hinterfragen oder auf den Punkt bringen, eine
       begehbare Schrott-skulptur, eine barrierefreie Behindertentoilette, die
       aber gar keine Toilette ist, sondern eine täuschend echte Replik, wo man
       dann seinen eigenen Standort hinterfragen muss, ferner verstörende
       Assemblagen, Collagen und Potpourris aus ihrer ursprünglichen Funktion
       beraubten Gebrauchsgegenständen, ein schlafender Museumswärter aus
       glasfaserverstärktem Kunststoff, ein Tryptichon mit zwei fehlenden Bildern
       zum Preis von einem, ein herausgemeißeltes Graffito, das von einem sozialen
       Brennpunkt dieser Erde stammt, eine indonesische Reistafel, ein kaputter
       Farbfernseher, eine Trockenhaube und ein Fragezeichen und dann noch ein
       Fabergé-Ei mit Strassstein-Intarsien von Franklin Mint mit einer süßen
       Katze drauf, es ist hochwertig verarbeitet, ein bleibender Wert, man kann
       jederzeit Verwandte und Freunde damit beeindrucken.
       
       ## Asoziale Plastik
       
       Das Zauberwort der diesjährigen Saison lautet jedenfalls: Skulptur, gern
       auch als soziale, und, falls sie im Internet gepostet wird, auch asoziale
       Plastik. Diese ganzen konkret gemalten Bilder von
       mehrheitsgesellschaftlichen Menschen sind ja mittlerweile viel zu teuer.
       Außerdem ist die Skulptur längst nicht mehr „das, worüber man stolpert,
       wenn man von einem Gemälde zurücktritt“, wie es der amerikanische Maler Ad
       Reinhardt einmal formulierte, sondern das, was man kauft, wenn alle anderen
       es auch halbwegs preiswert kaufen, bevor es dann zu teuer wird.
       
       Da jedoch traditionell pro Documenta mindestens ein Großkunstwerk im
       Kataster Kassels verbleibt, befürchtet man schon jetzt die anschließende
       baurechtliche Übernahme des Überraschungskunstwerkes mit dem schönen Namen
       „Komposthaufen“, das in der Karlsaue vor sich hin wächst. Darauf soll dann
       alles geworfen werden dürfen, was in Kassel Rang und Namen hat, das ist zum
       Glück nicht viel.
       
       Einer alten, narrischen Tradition folgend, wird für jede Kasselaner
       Documenta eine Leiter bestimmt, manchmal auch mehrere sog. „künstlerische
       Leiter“, denn ohne die geht es nun mal nicht. In den letzten Quinquennien
       wurden als künstlerische Leiter stets Vertreter einer gebeutelten
       Minderheit herangezogen: 1992 war es ein Holländer, 1997 eine Frau, danach
       ein schwarzer Afrikaner, eine Frau mit Doppelnamen, zuletzt ein Pole – und
       nun soll sogar eine ganze Monteursgruppe aus Indonesien die Leitung
       übernehmen. Sie nennt sich „Ruangrupa“ und hat in Kassel sogar schon ein
       ganzes Haus besetzt, es heißt „Ruru Haus“ (Königsstr. 43), und das völlig
       neuartige dahinter steckende Konzept erklärt die Website
       documenta-fifteen.de: „RuruHaus ist eine Wortneuschöpfung, die sich aus dem
       Indonesischen ‚ruru‘ (=Raum) und dem deutschen Wort ‚Haus‘ zusammensetzt.“
       
       ## Krasses Kunstwerk
       
       Muss man erst mal drauf kommen! Das Raumhaus steht übrigens allen offen,
       die sich dafür interessieren, „Ideen, Austausch und Kollaborationen“ sind
       jederzeit willkommen, vielleicht hat ja auch jemand Bock und bringt ein
       total krasses Kunstwerk vorbei, welches ins nicht vorhandene Gesamtkonzept
       passt.
       
       Und eine weitere Neuerung: Wegen des großen finanziellen Misserfolges vor
       fünf Jahren wird die Documenta nicht wieder in Athen stattfinden, wohin sie
       kurzzeitig verzogen war. Sondern als internationales Bastel- und
       Reishüttenfestival über alle Zeitzonen dieser Erde verteilt sein. Ob die
       fifteente Kasselinische Documenta ein voller Erfolg wird, ein Debakel oder
       nur ein Etappensieg auf dem Weg vom Haufen zum Kompost – das ist also noch
       unsicher wie die Kehrwoche im kollaborativen Ruruhaus.
       
       Sicher ist nur: Am Sonntag, dem 25. September ist Schluss, in Hannover wie
       in Kassel. Und am Montag, dem 26. September – auch das eine Neuerung –
       werden sämtliche Werke, die keinen Abnehmer gefunden haben, zum halben
       Preis verramscht. Schnäppchenjäger also aufgepasst! Bis dahin aber können
       Sie sich in Kassel jederzeit aufs Formidabelste unterhalten und belehren
       lassen, und dafür ist seit jeher die Caricatura-Galerie im und am
       Kasselöner Hauptbahnhof zuständig. Die neue Ausstellung „Systemfehler hoch
       zwei“ kam der Documenta schon mal zuvor – und ist bereits geöffnet.
       
       17 Jun 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Oliver Maria Schmitt
       
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