# taz.de -- Nato-Beitritt von Schweden und Finnland: Mehr Eis, bitte!
       
       > Ausgerechnet Putin wirbt neue Mitglieder. Aber warum sind Schweden und
       > Finnland noch nicht dabei? Und welche Folgen hätte ein Beitritt?
       
 (IMG) Bild: Die finnische und die schwedische Flagge flankieren das Nato-Symbol
       
       1 Wieso sind Schweden und Finnland nicht schon längst in der Nato?
       
       Die Nato entstand 1949 als Verteidigungsbündnis westeuropäischer und
       nordamerikanischer Staaten zum Schutz vor Angriffen durch Deutschland oder
       durch die Sowjetunion. Schweden war nicht dabei – es verfolgt seit den
       Napoleonischen Kriegen, als es 1809 Finnland an das russische Zarenreich
       abtreten musste, eine Politik der Neutralität und machte schon beim Ersten
       und Zweiten Weltkrieg nicht mit.
       
       Finnland durfte nicht dabei sein – es wurde [1][1939] von der Sowjetunion
       angegriffen, [2][kämpfte] später auf Deutschlands Seite gegen die
       Sowjetunion und sicherte seine Unabhängigkeit zu Kriegsende nur durch
       Blockfreiheit.
       
       2 Blockfreiheit, Neutralität – ist das nicht gut?
       
       Mit seinem Überfall auf die Ukraine hat Russland deutlich gemacht, dass es
       bereit ist, Nachbarn anzugreifen, um seine Interessen durchzusetzen.
       Finnland hat eine über 1.300 Kilometer lange Grenze mit Russland und sieht
       sich als potenzielles Opfer russischen Revanchismus’. Schweden ist in der
       Ostsee ein unmittelbarer Nachbar Russlands, das die Ostsee-Exklave
       Kaliningrad hochgerüstet hat.
       
       Auch die öffentliche Meinung in beiden Ländern hat sich gewandelt. Die alte
       Generation, zu Sowjetzeiten aufgewachsen, als in finnischen Schulbüchern
       eine sowjetische Sicht auf die Geschichte gelehrt wurde und sogar die
       Bücher [3][Solschenizyns] verboten waren, ist nicht mehr dominant. Eine
       junge, oft weibliche, weltoffene und progressive Politikergeneration, die
       nach dem Ende des Kalten Krieges aufwuchs, hat sie abgelöst.
       
       Sie identifiziert sich mit den ebenfalls von jungen Politikern regierten
       baltischen Staaten und sucht selbstbewusst den Schulterschluss gegen einen
       rückwärtsgewandten, imperial-konservativen Nachbarn, der aus seinen
       Großmachtansprüchen keinen Hehl macht.
       
       3 Ganz Skandinavien in der Nato – kommt da ein anderer Kalter Krieg auf uns
       zu?
       
       Bei Anhörungen im US-Kongress diese Woche wurde hervorgehoben, dass der
       Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands die Nato nicht nur in der Ostsee,
       sondern auch in der gesamten Arktis stärkt. Der [4][„Arktische Rat“],
       einziges Forum aller Arktisanrainer zur Deeskalation rund um den Nordpol,
       ruht seit der russischen Invasion der Ukraine – Russland hält den Vorsitz,
       alle anderen Mitglieder haben ihre Mitarbeit suspendiert.
       
       US-Militärkreise, die über den Ukrainekrieg hinausdenken, haben längst die
       Arktis als nächsten möglichen Brennpunkt der Nato-Russland-Konfrontation
       ausgemacht. Denn mit der Polarschmelze öffnet sich die Arktis für Fischerei
       und Rohstoffausbeutung, es entsteht zumindest im Sommer eine neue, viel
       kürzere Handelsroute zwischen Europa und Ostasien an Russlands Nordküste
       entlang. Moskau hat daher ein strategisches Interesse am Klimawandel, es
       will sich als dominante militärische Macht in der Arktis positionieren und
       testet seine Grenzen immer wieder aus.
       
       Erst in dieser Woche hat die russische Marine Manöver in der norwegischen
       Wirtschaftszone in der Barentssee abgehalten und diese sogar für
       norwegische Schiffe gesperrt. Schwedische und finnische Streitkräfte sind
       polartauglich und bieten Norwegen eine wichtige Verstärkung – Schweden und
       Finnland operieren bereits nach Nato-Standard, halten mit Nato-Staaten
       gemeinsame Manöver ab, kooperieren in der Luftraumüberwachung, und die
       skandinavischen Streitkräfte arbeiten längst eng zusammen. Ein möglicher
       zukünftiger Brennpunkt ist Spitzbergen, das Russland nur so lange als Teil
       Norwegens anerkennt, wie sie demilitarisiert bleiben – nach den Erfahrungen
       der Ukraine ein instabiles Konstrukt.
       
       4 Ist die Nato-Norderweiterung also klare Sache?
       
       Nein. Alle anderen Nato-Mitglieder – derzeit dreißig – müssen zustimmen.
       Die Türkei sagt derzeit Nein, weil sie Schweden und Finnland vorwirft,
       kurdische „Terroristen“ zu unterstützen. Jetzt wird verhandelt, das
       Ergebnis ist derzeit offen.
       
       5 Kann die Nato die Türkei nicht einfach rausschmeißen?
       
       Nein, die Nato-Verträge sehen keinen Rauswurf oder auch nur die
       Suspendierung eines Mitglieds vor. Wie bei allen internationalen Verträgen
       besteht nur die Möglichkeit, den Vertrag für aufgelöst zu erklären, indem
       man der Gegenseite Vertragsbruch vorwirft. Es könnten also alle anderen
       Nato-Mitglieder gemeinsam beschließen, dass die Türkei die Nato-Verträge
       nicht einhält, sie kündigen und zugleich ohne die Türkei neu beschließen.
       Die Ablehnung eines Beitrittskandidaten ist aber kein Vertragsbruch, der so
       einen Schritt rechtfertigen würde.
       
       Selbst wenn so etwas ginge: Die Türkei aus der Nato zu entfernen, würde
       Erdoğan in die Arme Putins treiben und die Türkei zum unkontrollierbaren
       Risikofaktor in der gesamten Region machen, von Libyen über Zypern bis
       Syrien und Irak. Eine unsinnigere Politik ist kaum vorstellbar.
       
       6 Vor ein paar Jahren bezeichnete Emmanuel Macron die Nato als „hirntot“.
       Ist das heute also anders?
       
       Macron sagte das 2019, als Donald Trump noch US-Präsident war. Auf dem
       Nato-Gipfel in Großbritannien listeten damals Experten drei Probleme der
       Nato auf: Trump, Erdoğan und Macron. Von Putin war kaum die Rede; man
       fürchtete den Aufstieg Chinas.
       
       Heute ist Trump weg, Macron wiedergewählt und beruhigt, Erdoğans Zeit geht
       sichtlich zu Ende. Am wichtigsten aber: Putin hat die Bedrohung aus Moskau
       wiederhergestellt, und zwar noch bedrohlicher als zu Sowjetzeiten, weil
       gewaltbereiter. Die Nato hat ihren Sinn wiedergefunden. Gerade die Staaten
       Osteuropas, die direkte Gewalterfahrungen mit Moskau haben, drängen auf
       mehr Bündnisstärke.
       
       7 Könnte Russland jetzt schnell noch Finnland und Schweden überfallen,
       während die Nato mit der Türkei beschäftigt ist?
       
       Theoretisch ginge das, und Russlands Außenministerium hat bereits auf die
       Beitrittsgesuche „militärisch-technische Antworten“ angedroht – derselbe
       Moskauer Euphemismus, der bereits dem Überfall auf die Ukraine vorausging.
       Aber Außenminister Sergei Lawrow sagte auch, der Nato-Beitritt Finnlands
       und Schwedens mache „wahrscheinlich wenig Unterschied“, da beide Länder
       ohnehin längst mit der Nato zusammenarbeiten. Praktisch wäre so ein Angriff
       ohnehin selbstmörderisch für Russland. Die russische Armee hat schon jetzt
       wachsende Schwierigkeiten in der Ukraine.
       
       8 Und wenn das nichts wird mit dem Beitritt?
       
       Dann werden alle trotzdem miteinander enger zusammenarbeiten als vorher.
       Nach der russischen Besetzung der Krim und von Teilen der Ostukraine 2014
       unterzeichneten Schweden und Finnland bereits „Host Nation
       Support“-Verträge mit der Nato, die zwar keine Bündnisverpflichtung
       enthalten, aber die Stationierung von Nato-Kapazitäten auf den Territorien
       beider Länder für Manöverzwecke oder in Krisenzeiten erlauben. Sie sind
       beide sogenannte „Enhanced Opportunities Partners“ (EOP) der Nato, wie
       übrigens auch die Ukraine, Georgien, Australien und Jordanien.
       
       Solche können an Nato-Eingreiftruppen und Nato-Manövern teilnehmen und sich
       am Nato-Informationsaustausch beteiligen. Außerdem unterzeichneten die
       Regierungen in Stockholm und Helsinki am 11. Mai militärische
       Beistandsabkommen mit Großbritannien, dem wichtigsten europäischen
       Nato-Partner. Diese gelten unabhängig von einer Nato-Mitgliedschaft.
       Bilaterale Beistandsabkommen gelten auch als ein Modell für den zukünftigen
       Schutz der Ukraine ohne Nato-Mitgliedschaft, sollte es je zu einem
       Friedensschluss mit Russland kommen.
       
       20 May 2022
       
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