# taz.de -- Die Wahrheit: Warnung an die Fressfeinde
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (145): Tiere können sich
       > anders als Menschen ihrer Tarn- und Warn-Trachten nicht leicht
       > entledigen.
       
 (IMG) Bild: Das gewiefte Chamäleon tarnt sich nur, wenn ihm danach ist
       
       Viele Völker in Amazonien und Papua-Neuguinea kennen im Krieg und auf der
       Jagd Warn- und Tarntrachten. Bei den Bayern dient unter Umständen ein und
       dieselbe Tracht beiden Zwecken. Sie können jedoch auch darauf verzichten –
       im Gegensatz zu den Tieren und Pflanzen, die sich ihrer Warn- und
       Tarntrachten nicht so einfach entledigen können. Weswegen diese auch nicht
       der Kulturgeschichte, sondern der natürlichen Auslese geschuldet sein
       sollen, also evolutionär, das heißt mutativ entstanden sind und dann der
       Selektion im Hinblick auf nützlich oder schädlich unterworfen wurden.
       
       Das hat vor allem in der angloamerikanischen Forschung zu einer Unzahl von
       genetischen Erklärungsversuchen geführt, während an der französischen
       Forschung eher die kulturalistischen beziehungsweise
       spekulativ-philosophischen Ansätze interessieren. Hier steht immer noch
       Lamarck gegen Darwin. Die einen wie die anderen haben sich dabei meist auf
       Insekten konzentriert, die beispielsweise Blätter nachahmen, wobei die
       französischen Mimikry-Mimese-Forscher gern vom „Nutzen“ absehen. Der
       südfranzösische Insektenforscher und Nobelpreisträger Jean-Henri Fabre
       lehnte gleich alle Mimikry/Mimese-Theorien ab, er sprach jedoch auch von
       einer „Insektenästhetik“, weil er glaubte, „zumindest bei der Lehmwespe die
       Neigung zu erkennen, ihr Werk zu verschönern“ – mit glitzernden Steinchen
       und ausgebleichten Schneckenhäusern.
       
       ## Passionsblume und Bayer
       
       Was ist aber zum Beispiel mit einer im Kongo lebenden Riesenkröte, die das
       Aussehen des Kopfes der Östlichen Gabunviper nachahmt? Sicher, sie sieht in
       ästhetischer Hinsicht auch beeindruckend aus, aber der Verdacht liegt doch
       nahe, dass sie damit vor allem ihre Fressfeinde warnen oder abschrecken
       will.
       
       Steckt also ein Wille dahinter, wenn sich ein harmloses Tier oder auch eine
       Pflanze eine giftige Art anverwandelt? Zu Ende gedacht würde das auf „Die
       Abschaffung der Arten“ hinauslaufen, wie der Science-Fiction-Autor Dietmar
       Dath 2014 sein Buch über die zukünftigen Lebewesen genannt hat, die „aus
       der Evolution das schlechthin Willentliche gemacht haben“. Dies ähnelt
       Walter Benjamins Mimese-Definition als „Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu
       produzieren“. Die Biologen tun sich nach wie vor schwerer, hinter der
       Mimese/Mimikry von Tieren und Pflanzen einen Willen zu vermuten, denn diese
       können ihre Tracht ja nicht wie die Bayern einfach wechseln, sehen wir von
       Chamäleon und Krake ab. Es braucht dazu wohl eine lange Entwicklung. Wenn
       zum Beispiel Passionsblumen-Arten Eier auf ihren Blättern imitieren, um
       laut Wikipedia „eiablagebereite Schmetterlinge der Gattung Heliconius
       abzuwehren“.
       
       ## Ragwurz und Kriminologe
       
       Oder wenn bei der Orchideenart Fliegen-Ragwurz die Blüten in Form, Farbe
       und Geruch derart einer weiblichen Grabwespe ähneln, dass die Männchen sich
       mit ihnen verpaaren wollen und dabei zwei Pollenpakete auf die Stirn
       geklebt bekommen, die sie dann bei ihrem nächsten Paarungsversuch an der
       Narbe der Blüte einer anderen Fliegen-Ragwurzart abstreifen. Laut der
       Biologin des Berliner Botanischen Gartens, Birgit Nordt, geht die Täuschung
       teilweise so weit, „dass Bienenmännchen der Gattung Andrena die
       entsprechenden Ragwurz-Blüten sogar einem Weibchen vorziehen.
       Verhaltensforscher nennen das eine überoptimale Attrappe.“
       
       Ist hier die Nachahmung vielleicht zu weit gegangen? Die französischen
       Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari haben des ungeachtet ein
       ganzes postmodernes Beziehungs- und Organisationsmodell daraus gemacht.
       
       Sie übertrugen dabei die biologische Mimikry auf die soziale, was der
       französische Kriminologe und Soziologe Gabriel Tarde bereits 1890 in seinem
       berühmten Werk „Die Gesetze der Nachahmung“ vorwegnahm. Unter den Begriffen
       Nachahmung und Erfindung verstand Tarde „jede beliebige Neuerung oder
       Verbesserung in jeglicher Art von sozialen Phänomenen wie Sprache,
       Religion, Politik, Recht, Industrie oder Kunst“.
       
       Wikipedia weist darauf hin, dass sich heute auch Bruno Latour und Peter
       Sloterdijk auf Tardes Imitationstheorie beziehen. Dass eine Gesellschaft
       auf Nachahmung basieren soll, hat in den USA eine ausufernde, teils wütende
       Diskussion über Mimikry ausgelöst, die nun in der „Bionik“ erforscht wird,
       um sie technisch nachzuahmen.
       
       ## Falscher Fisch, echter Fisch
       
       Zurück zur Natur: Der Wiener Amphibienforscher Paul Kammerer setzte
       Salamander auf Untergründe, von denen sie grell abstachen. Es gelang diesen
       Tieren nicht nur, ihre Tarn- und Warntracht gewissermaßen umzufärben, indem
       sie die Farbe des Sandes, auf dem sie leben mussten, annahmen. Sie
       vererbten ihre der neuen Umgebung angepasste Färbung auch ihren Nachkommen.
       Sein Experiment war insofern lamarckistisch, als es ihm um die Vererbung
       erworbener Eigenschaften ging.
       
       Noch komplizierter ist die Anverwandlung im Falle von Falschen
       Putzerfischen. Die Echten Putzerfische fressen anderen großen und kleinen
       Fischen die Parasiten weg – im Maul, zwischen den Kiemen und Schuppen. Wie
       beim Friseur warten ihre Kunden geduldig, bis diese Putzerfische
       (Aspidontus taeniatus) sie bedienen. Den Wartenden nähert sich der Falsche
       Putzerfisch (Labroides dimidiatus), der die Echten in Gestalt, Färbung und
       Schwimmweise imitiert, um bei den eine Parasitenbeseitigung erwartenden
       Fischen Flossen- und Hautstücke herauszubeißen.
       
       In seinem Buch „Mimikry. Nachahmung und Täuschung in der Natur“ (1971) hat
       der Zoologe Wolfgang Wickler diesen Falschen Putzerfisch, der als Parasit
       nur so tut, als wäre er ein Parasitenvernichter, näher erforscht, wobei er
       die Begriffe „Signalsender“ und „-empfänger“ benutzte.
       
       ## Köperlich gedacht
       
       Dieser Parasit ist natürlich, wie andere Parasiten auch, nicht immer
       erfolgreich, denn die Wirte und Zwischenwirte sowie die in diesem Fall
       Imitierten sind auch nicht auf den Kopf gefallen, wenn man so sagen darf,
       und lassen sich laufend neue Gegenstrategien einfallen – es ist die reinste
       Waffenproliferation. „Genug, man muß die These wagen, daß überall, wo
       Wirkungen anerkannt werden, Wille auf Willen wirkt“, wie Nietzsche meinte.
       Viele Gehirnforscher gehen heute vom schieren Gegenteil aus: dass es selbst
       beim Menschen keine „Willensfreiheit“ (und damit auch keine
       „Schuldfähigkeit“) gibt, weil wir genetisch, hormonal und enzymatisch
       sozusagen ferngesteuert sind. Das ist Biologie minus Leben.
       
       Aber man muss den (freien) Willen gar nicht unbedingt rehabilitieren, man
       kann auch die These wagen: Was wir Menschen an Warn-, Tarn- oder auch
       Locktrachten an- und ausziehen (Maßanzüge, Camouflage-Jacken, Pelzmäntel,
       Reizwäsche), über die wir uns vorab Gedanken machen (durchaus im Vollzug
       einer Nachahmung), können Tiere und Pflanzen körperlich denken. So wie wir
       zum Beispiel eine Angel mit speziellen Blinkern als Köder für bestimmte
       Fischarten „erfanden“, haben Anglerfische am Kopf Angeln mit angehängten
       Leuchtködern „entwickelt“.
       
       16 May 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Höge
       
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