# taz.de -- Wiener Student in Haft in Ägypten: Freiheit für Ahmed!
       
       > Ahmed Samir Santawy ist eigentlich Student in Österreich – doch seit
       > einem Jahr sitzt er in Ägypten in Haft. Seine Kommiliton:innen geben
       > nicht auf.
       
 (IMG) Bild: Solidarität in Wien: Ahmeds Mitstudierende fordern dessen Freilassung, hier im Mai 2021
       
       Wien taz | Senf und Oliven stehen noch im Kühlschrank, als Lilly gemeinsam
       mit einer Kommilitonin Ahmeds Zimmer ausräumt. Die Verwaltung des Wiener
       Studierendenwohnheims Base 11 hatte ihnen mitgeteilt, sie könnten das
       Zimmer nicht länger wie ein abgesperrtes Museum ungenutzt lassen. Die zwei
       Frauen verpacken Ahmeds Kleidung, Bücher, Fotos und Porträts, die seine
       Verlobte Souheila von ihm gezeichnet hatte. Alles packen sie schnell ein,
       es ist zu beklemmend, zu intim. Ein Gefühl von Endgültigkeit. Aber
       irgendjemand musste es räumen, sagt Lilly. Das war im vergangenen Juni. Und
       noch immer ist Ahmed nicht zurück in Wien. Ein Jahr ist es nun her, dass
       Ahmed in Ägypten im Gefängnis sitzt.
       
       Es ist Dezember 2020, als Ahmed Samir Santawy nach Ägypten fliegt. Er will
       dem frostigen Wiener Lockdown entfliehen, vermisst die Sonne in seiner
       Heimat, die Straßen und Gerüche Kairos. Will seine Familie und
       Freund:innen wiedersehen und Interviews für seine Forschung zu
       Abtreibungsrechten in Ägypten führen – seit er miterlebt hat, wie eine
       Freundin von ihm auf illegalem Weg abtreiben musste, lässt das Thema ihn
       nicht mehr los. Er will dazu promovieren, studiert Soziologie und
       Anthropologie an der renommierten Central European University (CEU) in der
       österreichischen Hauptstadt.
       
       Am Flughafen in seinem Heimatland angekommen, halten die Behörden ihn drei
       Stunden fest. Sie befragen ihn zu seiner Forschung und seinem Leben in
       Österreich. Schließlich lassen sie ihn gehen. Einige Wochen später brechen
       schwer bewaffnete Sicherheitskräfte ohne Durchsuchungsbefehl in das Haus
       seiner Familie in Kairo ein und konfiszieren Aufnahmen der
       Überwachungskameras im Haus.
       
       Am ersten Februar schließlich wird er aufs Polizeirevier im Stadtteil El-
       Tagammoa el-Khamis bestellt. Ahmed erscheint zusammen mit seinem Vater,
       aber der muss draußen bleiben. Als sein Sohn nach Stunden nicht
       wiederkommt, kehrt er schließlich allein nach Hause zurück.
       
       [1][Wenige Tage nach Ahmeds spurlosem Verschwinden verliest die
       Staatsanwaltschaft für Staatssicherheit schließlich die unspezifisch
       formulierte Anklage]: Gegen ihn werde wegen Kontakten zu
       Terrororganisationen und der Verbreitung von Fehlinformationen ermittelt.
       Gemeint sind damit wahrscheinlich zwei Facebook-Posts, in denen er die
       ägyptische Coronapolitik kritisierte.
       
       ## Judith Butler fordert Freilassung
       
       Lilly sitzt im Online-Seminar, als jemand in die Whatsapp-Gruppe des
       Soziologie-Jahrgangs schreibt: Ahmed ist verschwunden. Wie betäubt beendet
       sie das Seminar und läuft an die frische Luft, weiß nicht, wohin mit sich.
       „Noch am selben Abend haben wir angefangen, uns zu organisieren.“ Der Grund
       für seine Festnahme seien sein heikles Forschungsthema und seine kritische
       Perspektive, glauben sie. Aber vielleicht auch einfach Pech. Seine Ankunft
       im Ägypten fällt mit dem zehnten Jahrestag der Aufstände des Arabischen
       Frühlings zusammen. Auf ägyptische Studierende, die im Ausland forschen,
       soll seine Festnahme wie eine Warnung wirken, nicht regimekritisch zu
       agieren.
       
       Ahmeds Kommiliton:innen, alle eng miteinander befreundet, wollen für ihn
       kämpfen. Aber was unternimmt man eigentlich, wenn einer plötzlich schuldlos
       im ägyptischen Gefängnis verschwindet?
       
       Sie beginnen, sich zu vernetzen, wollen Ahmeds Familie, seine Verlobte
       Souheila und die Anwälte unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt ist schon
       bekannt, dass Ahmed in der Untersuchungshaft gefoltert wurde. Nehmen
       Kontakt zu Amnesty International auf, setzen sich mit Journalist:innen
       in Verbindung, posten auf Social Media. Erstellen [2][Petitionen], sogar
       die bekannte Philosophin Judith Butler unterschreibt. Schreiben E-Mails an
       Politiker:innen, weltweit. Nur wenige antworten.
       
       Seit der gelenkten Wahl des früheren Militärchefs Abdel Fattah al-Sisi 2014
       hat sich die Situation der Menschenrechte in Ägypten dramatisch
       verschlechtert. [3][Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass
       Zehntausende Andersdenkende in Gefängnissen sitzen, die Zahl der
       Todesurteile steigt – eine offizielle Statistik existiert allerdings
       nicht.] In Österreich und Deutschland ist dieses Vorgehen bekannt. Doch
       Kritik am Führungsstil al-Sisis wird selten laut.
       
       ## Ahmeds Jahrgang graduiert ohne ihn
       
       Zur ersten Demo Ende Februar 2021, bei der seine Kommiliton:innen
       Ahmeds Freilassung fordern, kommt auch Ewa Ernst-Dziedzic, die
       Menschenrechtsbeauftragte der österreichischen Grünen. Drei
       Grünen-Politiker:innen stellen einen Antrag im Wiener Gemeinderat. Sie
       fordern den Bürgermeister auf, „im Namen der Republik Österreich alles in
       ihrer Macht stehende zu unternehmen, um eine sichere Rückkehr des Wiener
       Studenten nach Wien zu ermöglichen“. Zeitgleich zieht die Universität
       hinter den Kulissen auf diplomatischer Ebene an allen Strängen. Vergeblich.
       
       Wiederholt versucht nach Angaben von Amnesty International auch der
       österreichische Botschafter in Ägypten, den Fall Ahmed auf die Agenda zu
       rücken. Am Tag der Urteilsverkündung erscheint er im Gericht, darf den Saal
       aber nicht betreten. Seinen 30. Geburtstag am 4. Juli verbringt Ahmed in
       seiner Einzelzelle.
       
       Der Soziologiejahrgang graduiert ohne ihn, nimmt aber ein Video auf. Sie
       sagen ihm, wie sehr seine albernen Witze fehlen. Ahmed kriegt nichts davon
       mit. Alte Aufnahmen, die seine Kommiliton:innen regelmäßig posten,
       zeigen, wie er unbeschwert lacht und tanzt. „Irrsinnig lustig war es mit
       ihm, er hat immer um die Ecke gedacht“, sagt Lilly.
       
       Ende Juni verurteilt die ägyptische Regierung Ahmed zu vier Jahren Haft.
       Kurz nach der Urteilsverlesung im Juni tritt Ahmed in den Hungerstreik. 40
       Tage lang nimmt er nichts zu sich. Er kommt dem Hungertod nahe. Sein Bruder
       überzeugt ihn schließlich bei einem Besuch, den Streik zu beenden. Sprechen
       kann Ahmed zu diesem Zeitpunkt kaum noch, er erholt sich nur langsam. Immer
       wieder wird er zwischen Gefängnissen verlegt, bevor er schließlich aus der
       Einzelhaft darf. Souheila schickt ihm Briefe, schreibt ihm, wie sehr sie
       ihn vermisst und erzählt auf Facebook davon. Die analoge Post behalten die
       Gefängniswärter ein.
       
       Einige der Briefe erreichen Ahmed aber, er bittet seine Verlobte um
       Nachricht an seine Kommiliton:innen: „Meine Freunde, erinnert mich an die
       schönen Zeiten, die wir zusammen verbracht haben. Mein lausiges Gedächtnis
       wird immer schlechter und dumpfer, und ich kann mich nur noch auf die
       dunklen Momente in Wien besinnen“, schreibt er.
       
       Vor Lillys Augen spielt sich immer wieder ein Tag im Oktober 2020 ab,
       erzählt sie. Kurz vor dem Lockdown war das letzte Mal, dass sie aktiv Zeit
       mit Ahmed verbrachte. Sie gehen gemeinsam an die Donau, es sind die letzten
       warmen Sonnenstrahlen des Jahres. Hüpfen ins Wasser, obwohl es schon viel
       zu kalt zum Baden ist. Dann will Lilly nach Hause, Texte lesen. Ahmed ist
       enttäuscht, überredet sie, noch mal Schwimmen zu gehen. „Warum waren mir
       andere Sachen an diesem Tag wichtiger?“ fragt sie sich rückblickend.
       
       ## Hoffnung auf Begnadigung
       
       Dorit Geva, Professorin für Soziologie, unterrichtet Lilly und Ahmed an der
       CEU und betreut Ahmeds Masterarbeit. Im Winter reist sie nach Italien.
       Überall, von Mailand bis Sizilien, blickt ihr auf Graffitis das Gesicht
       eines jungen Mannes entgegen. „Libertà per Patrick Zaki!“, fordern sie. Ein
       Jahr vor Ahmed wurde Zaki, der an der Universität Bologna studierte, im
       Februar 2020 bei seiner Ankunft am Flughafen in Kairo verhaftet. Auf
       italienischen Druck hin entließ Ägypten ihn im Dezember vergangenen Jahres
       aus dem Gefängnis. Nun darf er italienischer Staatsbürger werden.
       
       „Warum wird unserem Ahmed so ein Engagement in Österreich verwehrt?“, denkt
       Geva und beschließt, nicht länger auf ein Wunder zu warten, sondern sich
       selbst für Ahmed einzusetzen. Für sie ist Ahmed ein leidenschaftlicher
       Forscher. Lustig, aber auch stur, versessen auf seine Masterarbeit. „Bei
       jedem alten soziologischen Text eines weißen Mannes fragte er: Welche
       Relevanz hat das heute noch für mich als Ägypter? Für ihn ist die
       Dekolonisierung von Lehrplänen viel mehr als eine hypothetische Sache, sie
       ist essenziell.“ Mit Souheilas Hilfe versucht Geva in Zusammenarbeit mit
       der Universität, ihm Bücher ins Gefängnis zu senden, damit er seine
       Masterarbeit beenden kann.
       
       Am Dienstag, dem ersten Jahrestag von Ahmeds Festnahme, prangt im Fenster
       des nüchtern grauen Glasgebäudes auf dem Campus der CEU eine lebensgroße
       Kartonfigur. „Freedom for Ahmed Samir“ steht in orangefarbenen Buchstaben
       auf Ahmeds Bauch geschrieben. Darüber sein warmes Lächeln und ein krausiger
       schwarzer Stoppelbart. Statt dem Menschen Ahmed selbst ist da nur noch ein
       weißer Karton mit seinem Gesicht. Gezeichnet hat sie der politische
       Künstler und Illustrator Gianluca Costantini. Am Vormittag wanderte die
       Figur mit seinen ehemaligen Kommiliton:innen zu einer Mahnwache vor
       die ägyptische Botschaft. Wie ungeladene Gäste kreuzen sie dort immer
       wieder auf, um seine Befreiung zu fordern.
       
       Das Gerichtsurteil gegen Ahmed ist nicht anfechtbar. Aber die letzte
       Hoffnung bleibt eine Amnestie und [4][Begnadigung des Präsidenten]. Die
       Chancen dafür sind klein, aber groß genug, um weiterzukämpfen. Für Geva,
       Lilly, Souheila und all die anderen. Dafür stehen sie vor der ägyptischen
       Botschaft.
       
       2 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Verschleppter-Student-in-Aegypten/!5749795
 (DIR) [2] https://www.esu-online.org/?policy=free-ahmed-samir
 (DIR) [3] /Repression-in-Aegypten/!5783766
 (DIR) [4] /Repressionen-in-Aegypten/!5821074
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marina Klimchuk
       
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