# taz.de -- Polnischer Politologe über SPD im Ukraine-Konflikt: „Das ist ein bisschen heuchlerisch“
       
       > Wie schaut man in Polen auf die Haltung der deutschen Politik gegenüber
       > Russland? „Scholz wird seiner Aufgabe nicht gerecht“, sagt Piotr Buras.
       
 (IMG) Bild: Russischer Soldat feuert während eines Manövers in der Region Rostov eine Haubitze ab, 26. Januar 2022
       
       taz am wochenende: Herr Buras, wie blickt man in Warschau auf die
       Spannungen mit Russland? 
       
       Piotr Buras: Sehr besorgt. Die Ukraine ist unser Nachbar. Ein Einmarsch
       Russlands würde einen Krieg an der Grenze Polens bedeuten. Damit ist unsere
       Sicherheit unmittelbar betroffen. Aber es geht noch um mehr – um die
       Sicherheitsarchitektur Europas und die Glaubwürdigkeit der Nato. Beide
       stehen auf dem Prüfstand. Zumindest für Polen ist das die schwierigste
       sicherheitspolitische Krise seit 1989/90. Für Europa waren die Balkankriege
       und der Kosovo auch sehr gefährlich. Aber ich glaube, nicht einmal diese
       Kriege wurden mit so viel Sorge beobachtet.
       
       Wie unterscheidet sich die jetzige Situation mit dem russischen Aufmarsch
       an der ukrainischen Grenze von 2014, als Russland die Krim annektierte und
       in der Ostukraine begann, Separatisten mit Soldaten und Waffen zu
       unterstützen? 
       
       Wladimir Putin hat jetzt im Dezember klipp und klar gesagt, worum es ihm
       geht – eben nicht mehr nur um territoriale Gewinne in der Ukraine. Sondern
       ums große Ganze, um die Regeln und Grundsätze, auf denen die europäische
       Sicherheitsarchitektur aufgebaut ist. Er will diese Regeln umschreiben und
       seine eigenen schaffen. Russland soll bestimmen können, was seine Nachbarn
       zu tun und zu lassen haben. Das macht es so gefährlich.
       
       Wie schätzt man vor diesem Hintergrund in Warschau die außenpolitische
       Debatte in Deutschland ein? 
       
       Das Image Deutschlands als Sicherheitspartner Polens war schon in den
       vergangenen Jahren nicht so gut. Viele sind nicht überrascht, dass
       Deutschland in dieser Krise nicht entschlossen handelt. Verblüfft ist man
       aber schon über die chaotische Kommunikation in Berlin. Die Bundesregierung
       hat sehr lange nicht mit einer Stimme gesprochen. Man hat viele Meinungen
       gehört, aber keine klare Linie gesehen.
       
       Sie vermissen Führung? 
       
       Ja, und zwar sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch in Europa. Olaf
       Scholz hat die Russlandpolitik zur Chefsache erklärt. Er ist dieser Aufgabe
       aber überhaupt nicht gerecht geworden. Deutschland erhebt keinen
       Führungsanspruch mehr in der Russlandpolitik. Egal, wie man zur Politik
       Angela Merkels stand – es war unumstritten, dass sie die federführende
       Person in der EU-Russlandpolitik war. Sie hat sich aktiv um den Konsens in
       der EU gekümmert. Diese Lücke versucht nun Emmanuel Macron zu füllen. Das
       Problem ist nicht, dass die deutsche Politik so viel schlechter als die
       Politik anderer europäischer Länder ist. Da sind sicher einige unschlüssig.
       Das Problem ist, dass Deutschland eine viel größere Verantwortung zukommt.
       Ich glaube, es wird in Deutschland oft nicht wirklich begriffen, wie groß
       diese Verantwortung ist und welche Erwartungen aus ihr erwachsen.
       
       Deutsche Politiker verweisen oft auf die deutsche Vergangenheit. Deshalb
       müsse man sich gerade gegenüber Russland zurückhalten. 
       
       Das war jahrzehntelang ein wichtiges Argument, ist aber doch längst
       überholt. Wir haben europaweit Meinungsumfragen gemacht und ein Ergebnis
       war ganz klar, dass die meisten Europäer Deutschland die Führungsrolle
       zutrauen. Das ist vielleicht auch eine Konsequenz der Merkel-Ära. Sie hat
       das Vertrauen in Deutschland massiv gestärkt. Der ehemalige polnische
       Außenminister Radosław Sikorski hat einmal gesagt: „Deutsche Macht fürchte
       ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.“ Das gilt für viele in Europa.
       In der deutschen Außenpolitik ist die Vergangenheit oft nur noch eine
       Ausrede. Gerade auch in dem aktuellen Konflikt mit Russland.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Es geht um die Verteidigung der Ukraine, deren Menschen unter den Nazis
       mindestens genauso gelitten haben wie die Russen. Aber es geht vor allem
       auch um die Verteidigung von Prinzipien, die aus der Erfahrung des Zweiten
       Weltkriegs heraus entwickelt wurden – wie etwa das Recht auf
       Selbstbestimmung und die Unversehrtheit der Grenzen. Verantwortung
       gegenüber der deutschen Vergangenheit bedeutet da, diese Prinzipien zu
       verteidigen.
       
       Die SPD tritt sehr zögerlich auf. Einige in der Partei plädieren mit
       Verweis auf Willy Brandts Entspannungspolitik dafür, gegenüber Russland
       keinen zu harten Kurs zu fahren. 
       
       Willy Brandt ist natürlich eine anerkannte Persönlichkeit, aber die
       SPD-Ostpolitik hat in Polen eher einen schlechten Ruf – es wird ihr
       unterstellt, sich vor allem auf Russland zu konzentrieren. Aus meiner Sicht
       war die Entspannungspolitik Willy Brandts in den 1970er Jahren die richtige
       Strategie. Nur ging es damals darum, den Status quo anzuerkennen. Und dann
       über persönliche Kontakte und Verhandlungen zu Verbesserungen etwa bei den
       Menschenrechten zu kommen. Heute will Wladimir Putin den Status quo
       überwinden. Er will das Recht des Stärkeren durchsetzen. Insofern ist es
       eine völlig andere Situation. Sich da auf eine Strategie zu berufen, der
       ganz andere Ausgangsbedingungen zugrunde lagen, ist keine gute Idee.
       
       In der SPD findet man auch die größten Befürworter der Ostseepipeline Nord
       Stream 2. Polen hat sie von Beginn an scharf abgelehnt. 
       
       Das ist natürlich der größte Zankapfel zwischen Polen und Deutschland.
       Polen wehrt sich seit Jahren gegen die Pipeline, weil es darin ein
       außenpolitisches Instrument der Russischen Föderation sieht – ein
       Infrastrukturprojekt, mit dem die Sicherheitslage in Europa beeinflusst
       werden kann. Unter anderem dadurch, dass man die Gaslieferungen über die
       Ukraine umgehen und sie so unter Druck setzen kann. Und dadurch, dass man
       mit der Pipeline Westeuropa und vor allem Deutschland noch abhängiger von
       russischem Gas macht. Mit diesen Warnungen fühlt man sich heute absolut
       bestätigt. Man sagt: „Seht mal, was da passiert. Die Russen haben die
       Gaslieferungen nach Europa gedrosselt. Die Russen sagen: Wir werden mehr
       Gas liefern, wenn Nordstream 2 in Betrieb geht. Und sie setzen die Ukraine
       unter Druck. Das ist genau das, was wir vorausgesagt haben.“
       
       Können Waffenlieferungen der Ukraine jetzt helfen? 
       
       Abschreckung ist nicht die beliebteste Strategie in Deutschland, aber sie
       ist in diesem Fall bitter nötig. Mit anderen Mitteln können wir eine
       Verschärfung des Konflikts nicht verhindern. Wir werden die Ukraine nicht
       in die Nato aufnehmen, wir werden keinen Krieg führen, wir werden selber
       keine Soldaten dahin schicken. Das ist uns klar, und das ist Putin klar. Er
       kalkuliert aber die Kosten einer Invasion. Und diese Kosten kann man mit
       Waffenlieferungen in die Höhe treiben. Es geht nicht darum, die Ukraine
       militärisch genauso stark zu machen, wie es Russland heute ist. Das wäre
       völlig illusorisch, das zu versuchen. Aber je besser die Ukraine sich
       verteidigen kann, desto höher wären die Kosten für die russische Armee.
       
       Die Bundesregierung will bisher nur mit 5.000 Helmen helfen. Man liefere
       keine Waffen in Krisengebiete. 
       
       [1][Das ist, Entschuldigung, ein bisschen heuchlerisch.] 2021 war der
       größte Käufer deutscher Waffen Ägypten, ein Land, das in den Krieg im Jemen
       verwickelt ist und weit von demokratischen Verhältnissen entfernt. Die
       Waffenexportgesetze verbieten solche Lieferungen nicht generell. Zur
       Selbstverteidigung sind Ausnahmen möglich. Und man kann wirklich nicht
       bestreiten, dass es in diesem Fall darum geht, dass die Ukraine sich
       verteidigen will.
       
       Abseits von Waffenlieferungen – was kann die EU jetzt tun? 
       
       Bei Sanktionen wird gern gesagt, man möchte sich noch nicht in die Karten
       schauen lassen. Aber man sollte ein Optionspaket auf den Tisch legen, wie
       das die Amerikaner gemacht haben. „Wir wissen noch nicht genau, was wir
       machen werden, aber das sind unsere Möglichkeiten.“ Dass das in der EU
       nicht vorbereitet wurde, halte ich für unverzeihlich.
       
       In der EU gibt es auch auf anderen Feldern tiefgehende Risse – etwa wegen
       Polens Justizreform. Kann man dennoch eine gemeinsame Russlandpolitik
       hinbekommen? 
       
       Die Rechtsstaatlichkeitskrise in Polen ist außer der geopolitischen Krise
       im Osten sicher die schwerste Krise der EU. Ich sehe auch hier das Problem,
       dass Deutschlands unzulängliche Politik in Bezug auf Russland die deutsche
       Glaubwürdigkeit in der EU untergräbt. Wenn das Ansehen Deutschlands unter
       der Russlandpolitik leidet, ist auch die Legitimität der Ampelregierung,
       sich in anderen Krisen entschlossener zu positionieren, viel schwächer. Die
       Ukrainekrise ist ein Test für die Einigkeit Europas in einer fundamentalen
       Frage. Die Europäer müssen zeigen, dass sie an einem Strang ziehen können.
       
       29 Jan 2022
       
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