# taz.de -- Pressefreiheit in der Türkei: Die Klagewut
       
       > Beleidigung des Präsidenten Erdoğan? Angebliche Terrorpropaganda? Das
       > sind beliebte Instrumente der türkischen Strafverfolgungsbehörden.
       
 (IMG) Bild: Ayse Bugra, Ehefrau von Osman Kavala, nach einer Verhandlung vor dem Strafgericht in Istanbul
       
       Berlin taz | Wer wissen will wie es aktuell um die Pressefreiheit in der
       Türkei bestellt ist, kann sich im Prozesskalender ein Bild machen. Obwohl
       die Situation türkischer JournalistInnen international aus den Schlagzeilen
       verdrängt wurde, hat sich seit der großen Aufregung um Deniz Yücel und
       Meşale Tolu in den Jahren 2017/18 nicht viel verändert. Für den 25. Januar
       waren zwei Prozesse gegen JournalistInnen angekündigt: In Istanbul wird
       Caner Taspinar wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt, in Diyarbakır
       Ramazan Akoğul wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen
       Vereinigung.
       
       Am 26. Januar stehen die Journalistinnen Derya Okatan und Hatice Şahin vor
       Gericht. Die eine wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung, die andere
       wegen Terrorpropaganda. Am 27. Januar geht es mit vier Verfahren weiter:
       Der in Deutschland lebende Hayko Bağdat wird in Istanbul wegen
       Terrorpropaganda angeklagt, die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin und die
       Journalistin Reyhan Çapan wegen Verletzung des Presserechts und Velat
       Öztekin wiederum wegen Beleidigung des Präsidenten.
       
       Angebliche Terrorpropaganda, häufig bei kurdisch-stämmigen
       JournalistInnen, und Beleidigung des Präsidenten sind die beliebtesten
       Instrumente der Strafverfolgungsbehörden, um JournalistInnen anzuklagen
       und aus dem Verkehr zu ziehen.
       
       Der derzeit spektakulärste Fall ereignete sich am Wochenende, als eine der
       bekanntesten Fernsehjournalistinnen des Landes, Sedef Kabaş, mitten in der
       Nacht aus dem Bett geholt und zur Polizeistation abgeführt wurde. Nach
       einem länglichen Verhör und einer demütigenden Untersuchung in einem
       Krankenhaus wurde sie am Samstagabend einem Haftrichter vorgeführt, der
       eine Untersuchungshaft für die 52-jährige Journalistin und Mutter eines
       behinderten Kindes anordnete. Angeblich wegen Fluchtgefahr, tatsächlich
       weil sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die gesamte AKP-Parteispitze
       eingemischt hatten und Sedef Kabaş als „besonders bösartige“ Person, die
       den Präsidenten „besonders niederträchtig“ beleidigt habe, denunzierten.
       
       ## 38.600 Personen wegen Beleidigung des Präsidenten angeklagt
       
       Kabaş’ angebliches Verbrechen ist ein Tweet, in dem sie eine Volksweisheit
       zitierte: Geht ein Ochse in einen Palast, wird er nicht zum König, sondern
       der Palast wird zum Stall.
       
       Die Frau arbeitet bei einem TV-Sender, der der Opposition nahesteht und der
       am Montag ebenfalls mit einer Anklage überzogen wurde. Vor allem mit dem
       Vorwurf der Präsidentenbeleidigung versucht Erdoğan seine KritikerInnen
       mundtot zu machen. Nach offiziellen Angaben von August 2021 sind in der
       Amtszeit von Erdoğan bislang 38.600 Personen wegen Beleidigung des
       Präsidenten angeklagt worden. Darauf stehen bis zu vier Jahre Haft. Alle
       fünf Präsidenten vor Erdoğan brachten es in einem Zeitraum von rund 30
       Jahren dagegen nur auf 1.800 Beleidigungsklagen insgesamt.
       
       Obwohl [1][die deutsche Journalistin Meşale Tolu], die neben Deniz Yücel im
       Jahr 2017 ebenfalls verhaftet worden war und mehrere Monate in U-Haft saß,
       in der vergangenen Woche nach einem viereinhalb Jahre andauernden Prozess
       freigesprochen worden war, sitzen nach wie vor etliche Deutsche, die
       meisten davon Doppelstaatler, in der Türkei in Haft.
       
       Nach Auskunft des Auswärtigen Amts im August 2021 waren 61 Bundesbürger in
       Haft, gegen 58 weitere hatte die Türkei eine Ausreisesperre verhängt, sie
       konnten das Land nicht verlassen. Vielen der DeutschtürkInnen werden in der
       Türkei kritische Tweets zur Last gelegt. Wie viele der Personen allerdings
       aus politischen Gründen oder wegen ganz ordinärer krimineller Vergehen
       angeklagt sind, wollte das Auswärtige Amt nicht angeben.
       
       ## Türkei ignoriert zuletzt mehrfach Entscheidungen aus Straßburg
       
       Ob Deniz Yücel, dem der Menschenrechtsgerichtshof nun eine Entschädigung
       von 13.300 Euro zugesprochen hat, das Geld jemals zu sehen bekommt, steht
       ebenfalls in den Sternen, denn die Türkei hat in der letzten Zeit mehrfach
       Entscheidungen aus Straßburg nicht mehr umgesetzt. Die beiden bekanntesten
       Fälle sind der frühere Parteichef der prokurdischen HDP, Selahattin
       Demirtaş, und der Kulturmäzen Osman Kavala, deren Freilassung der EGMR
       mehrfach gefordert hatte und die dennoch nach wie vor in der Türkei in Haft
       sitzen. Wegen Kavala hat der Europarat, dessen wichtigste Institution eben
       der EGMR ist, bereits mit dem Ausschluss der Türkei gedroht. Der
       Ministerrat des Europarats wird nun ein Vertragsverletzungsverfahren gegen
       die Türkei einleiten.
       
       25 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wolf Wittenfeld
       
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