# taz.de -- Sudans Jugend demonstriert gegen Militärs: Die Straßen des Protests
       
       > „Madaniya!“, Zivilregierung! Mit diesem Ruf leisten Menschen in Khartum
       > Widerstand. Auch drei Jahre nach der Dezemberrevolution.
       
       An einer Straßenkreuzung in der sudanesischen Hauptstadt Khartum versammelt
       sich nach Sonnenuntergang ein Gruppe junger Männer. Sie haben Autoreifen,
       Stöcke und leere Wasserkanister dabei. Einige legen die Reifen in die Mitte
       der Kreuzung und zünden sie an. Schwarzer beißender Qualm steigt in die
       Luft. Der Verkehr auf der Straße verlangsamt sich. Andere Männer trommeln
       auf ihren leeren Kanistern. Sie singen: „Die Menschen sind stärker, es gibt
       keinen Weg zurück!“
       
       Zwei junge Männer verteilen Flugblätter. Mehr und mehr Menschen versammeln
       sich. Autos hupen und Passant:innen rufen „Madaniya!“, zu Deutsch:
       Zivilregierung. Nach einiger Zeit ziehen die jungen Männer mit ihren
       Trommeln singend weiter durch die Straßen der Fünf-Millionen-Stadt. Viele
       Menschen kommen aus den Häusern, schauen, gehen ein Stück mit, stimmen in
       die Gesänge ein.
       
       Die jungen Männer mobilisieren zum „Miliyuniya“, dem Millionenmarsch, der
       am nächsten Tag stattfinden soll. Solche Demonstrationen finden
       mittlerweile wöchentlich in Khartum statt. Meist verlaufen sie friedlich,
       bis Polizei und Militär gewaltsam eingreifen.
       
       Die jungen Männer betonen, dass in ihrem Stadtteil bisher noch niemand bei
       Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften gestorben ist. „Wir sind
       anders als die anderen Revolutionäre“, sagt einer von ihnen stolz. „Wir
       sehen die Soldaten trotz allem als unsere Brüder an, wir reden mit ihnen,
       manchmal geben wir ihnen zu essen und trinken, um ihnen zu zeigen, dass wir
       alle zusammen in diesem Land leben können.“
       
       Es ist ihm wichtig hervorzuheben, dass sich ihr Kampf allein auf die
       Selbstverteidigung beschränken würde. Denn ganz unvorbereitet gehen sie
       nicht zur Demonstration. Die Teilnehmer tragen medizinische Masken und
       Schwimmbrillen gegen das von der Polizei versprühte Tränengas. Manche von
       ihnen haben selbst genähte Lederhandschuhe dabei, mit denen sie die
       Tränengaskartuschen zurückwerfen, andere nehmen Steine und gelegentlich
       Molotowcocktails mit. Doch gegen die mit Maschinenpistolen ausgerüsteten
       Soldaten und Milizionäre können sie nur wenig ausrichten.
       
       ## Der Aufstand gegen den Diktator und die Folgen
       
       Einen Tag später, nach der großen Demonstration, hat der Stadtteil 13 Tote
       zu verzeichnen, darunter ein 14-Jähriger. Die Menschen sind wütend und
       traurig, scheinen aber zugleich noch entschlossener, den Kampf
       fortzusetzen. Es geht ihnen, so sagen sie, um die „Vollendung der
       Revolution“. Der 19. Dezember gilt als der dritte Jahrestag dieser
       „[1][Dezemberrevolution]“, der den langjährig diktatorisch regierenden
       Machthaber Omar al-Bashir hinweggespült hat.
       
       Der Aufstand beginnt im Dezember 2018 mit einer Erhöhung der Brotpreise. In
       den Städten Damazin und Atbara kommt es zu ersten Protesten. Sudans 43
       Millionen Einwohner leben zur Hälfte in absoluter Armut, Verteuerungen von
       Grundnahrungsmitteln bedeuten für sie Hunger – derweil kontrolliert die
       regierende Elite um Diktator Bashir den größten Teil der Wirtschaft. Das
       Bashir-Regime hat ein System entwickelt, das nur einigen wenigen erlaubt,
       Teil einer vorwiegend arabisch-muslimischen Oberschicht zu sein. Die
       Mehrheit der Bevölkerung ist davon ausgeschlossen.
       
       Die Proteste breiten sich rasch aus. Es geht bald nicht länger nur um
       wirtschaftliche Forderungen. Im April 2019 setzt das Militär [2][Omar
       al-Bashir] ab. Doch das genügt der Bevölkerung nicht, der Aufstand geht
       weiter. Die Millionenmetropole Khartum wird über Wochen durch
       Demonstrationen nahezu vollständig blockiert.
       
       Am 3. Juni 2019 lösen Soldaten ein Sit-in vor dem Militärhauptquartier
       unter dem Einsatz von Schusswaffen auf. Mindestens 120 Menschen kommen ums
       Leben, Unzählige werden verletzt und vergewaltigt, bis heute gelten viele
       als vermisst.
       
       Doch auch das kann die Proteste nicht stoppen. Im August desselben Jahres
       einigen sich schließlich Militärs und Zivilgesellschaft auf eine
       Verfassungscharta. Eine Übergangsregierung wird gegründet, die zur Hälfte
       aus einer technokratischen Zivilregierung unter der Leitung des
       Premierministers [3][Abdalla Hamdok] besteht, zur anderen Hälfte aus einem
       Militärrat, geführt von General Abdel Fattah al-Burhan. Die Ziele: das Land
       ordnen, politische Strukturen aufbauen und die Wirtschaft stärken. Am Ende
       der Übergangsperiode winken für das Jahr 2022 freie Wahlen.
       
       ## Viele Menschen auf der Straße fühlen sich verraten
       
       Tatsächlich entwickelt sich ein Machtkampf zwischen den über einhundert
       verschiedenen Parteien des Landes, deren Anhänger:innen nun darauf
       hoffen, endlich aus der Opposition heraus an lukrative Regierungsposten zu
       gelangen. Viele der Revolutionär:innen, die zuvor auf der Straße ihr Leben
       riskiert hatten, sehen sich verraten. Sie wollten einen „neuen Sudan“,
       stattdessen erleben sie ein Ringen der alten politischen Kräfte. Zudem
       verschärft sich die wirtschaftliche Krise, Inflation und Arbeitslosigkeit
       steigen.
       
       Doch auch innerhalb der revolutionären Kräfte gibt es Unstimmigkeiten. So
       spaltet sich der Gewerkschaftsbund „Sudanese Professional Association“. Der
       an der Übergangsregierung beteiligte Parteienzusammenschluss FFC (Kräfte
       für Freiheit und Wandel) wird von Grabenkämpfen zerrüttet. Am 25. Oktober
       dieses Jahres greift das Militär erneut nach der Macht. General Burhan
       putscht, Premierminister Abdalla Hamdok wird unter Hausarrest gestellt.
       
       Das ist allerdings kein besonders kluger Schachzug des Militärs, denn
       Hamdok erlangt nun kurzzeitig eine Art Heldenstatus. Überall auf den
       Straßen von Khartum finden sich seine Bilder, gepaart mit der Forderung
       nach seiner Freilassung. Die Militärs haben den Widerstand der Straße
       unterschätzt. Noch am Tag des Putsches entwickeln sich spontan erste große
       Proteste, die das Militär trotz drastischer Maßnahmen nicht in den Griff
       bekommt. Das Internet wird gleich über drei Wochen abgeschaltet,
       Telefonverbindungen an Protesttagen gekappt. Die Demonstrationen gehen
       dennoch weiter.
       
       Am 21. November wird der Premierminister von General Burhan wieder in sein
       Amt [4][eingesetzt]. Abdalla Hamdok unterzeichnet ein neues Abkommen mit
       den Militärs. Doch auch das betrachtet die Protestbewegung nicht als einen
       Sieg, sondern sieht darin eine Verfestigung des Putsches. Hamdok verliert
       damit schlagartig an Rückhalt. Viele sehen ihn nun als einen Verräter,
       manche denken, er verfolge einen Plan. Das Gesicht der Revolution ist er
       jedenfalls nicht mehr.
       
       ## Für eine reine Zivilregierung
       
       Anders als zu Beginn des sudanesischen Aufstands geben sich die
       Protestierenden heute nicht mehr mit dem Kompromiss einer
       zivil-militärischen Übergangsregierung zufrieden. Sie wollen eine reine
       Zivilregierung, ohne Einmischung des Militärs, und sie sind entschlossen,
       so lange auf der Straße zu bleiben, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Bis
       heute.
       
       Ein- bis zweimal wöchentlich wird nun in Khartum demonstriert. Aber was
       heißt demonstrieren? Es sind eher Festzüge, detailreich geplant. Mittags
       gegen 13 Uhr sammeln sich kleine Gruppen an zuvor festgelegten Orten. Eine
       Gruppe stimmt revolutionäre Gesänge an, andere Menschen kommen zusammen und
       bilden gemeinsam einen Protestmarsch, der einer zuvor vorgegebenen Route
       folgt. Am Ende vereinigen sich häufig verschiedene Proteste an einem
       zentralen Ort. Dort gibt es Kundgebungen, politische Gedichte und
       Sprechgesänge sind zu hören. Während in der Menschenmenge gesungen und
       getanzt wird, werden an den Rändern Tränengasangriffe der Polizei
       abgewehrt.
       
       Waren die Initiator:innen früher vornehmlich Aktivist:innen aus dem
       gebildeten Mittelstand, so nehmen nun vermehrt auch solche Menschen an den
       Demonstrationen teil, die in Sudan „die Straße“ genannt werden. Am ersten
       großen Protest nach dem Putsch beteiligten sich Menschen aller sozialen
       Schichten und Altersklassen, Männer und Frauen. Sogar ganze Familien sind
       unterwegs, Kinder singen Lieder wie: „Zivilregierung!? Jajajajaja!
       Militärregierung!? Oooooh, nein!“ Bis das Militär immer brutaler reagiert.
       
       In diesen Wochen sind es wieder größtenteils junge Menschen, die
       protestierend auf die Straße gehen. „Du musst rennen können“, erklärt eine
       junge Frau mit Kopftuch und zeigt auf ihre Sneakers. Für gewöhnlich trage
       sie kein Kopftuch, erklärt sie, aber das helfe, unerkannt zu bleiben, und
       sei zudem ein Schutz gegen das Tränengas.
       
       Diese jungen Menschen, sie nennen sich „Shabab“ (die Jungen), sind unter
       dem Bashir-Regime geboren und aufgewachsen. Sie waren schon zu Beginn der
       Revolte die treibende Kraft der Straße. Der Unterschied ist: Heute sind
       auch viele Angehörige niedrigerer sozialer Schichten unter ihnen, die in
       diesem Land keine aussichtsreiche Zukunft haben, weil sie nicht über die
       Mittel verfügen, um auf eine Privatschule zu gehen und im Ausland zu
       studieren. Soziale Chancengleichheit ist zu einem weiteren Motiv der
       Protestbewegung geworden.
       
       Ahmed, dessen vollständiger Name hier nicht genannt werden kann, ist Anfang
       zwanzig und stammt aus der Krisenregion [5][Darfur] im Westen Sudans. Schon
       als Kind floh er mit seinen Eltern nach Khartum. „Die alte Regierung hat
       bestimmt hundert Menschen aus meiner Familie getötet“, sagt er. Bei den
       Protesten gegen den Putsch habe er einen engen Freund verloren. „Ich stehe
       hinter dem Frieden, aber ich schwöre, würde Burhan vor mir stehen, ich
       würde ihn töten“, so äußert sich Ahmed über den Chef der Militärs.
       
       Die Grausamkeiten des sudanesischen Militärs in Darfur finden langsam
       Eingang in das kollektive Gedächtnis der Protestierenden in Khartum, wo sie
       lange kaum Beachtung fanden. Sie singen: „Wo ist der Frieden, wenn Darfur
       blutet?“ 30 Jahre lang hat das Bashir-Regime die ethnische Spaltung Sudans
       vorangetrieben. Dies zu überwinden gehört ebenfalls zu den Zielen der
       Protestbewegung.
       
       Die Koordination der Proteste in Khartum übernehmen sogenannte
       Widerstandskomitees. Sie bemühen sich darum, unter der Bevölkerung ein
       Bewusstsein für politische Themen zu schaffen. Bei Diskussionsrunden oder
       Filmabenden innerhalb der Nachbarschaft wird darüber debattiert, wie man
       politische Forderungen in Realpolitik umgesetzten könnte, welche Einflüsse
       geopolitische Mächte auf den Sudan haben oder wie es innerhalb der eigenen
       Reihen zu Entscheidungsfindungen kommen kann.
       
       Die Widerstandskomitees sind Graswurzelorganisationen, die ihren Ursprung
       in den Protesten des Jahres 2013 haben, als vom Arabischen Frühling
       inspirierte Proteste in Khartum mit Gewalt niedergeschlagen wurden. Die
       Komitees geben Informationen weiter und mobilisieren Menschen für Märsche,
       fachen direkte Aktionen an und rufen zu zivilem Ungehorsam auf. Zuletzt
       konzentrierten sich viele von ihnen darauf, logistische Probleme in ihren
       Nachbarschaften zu lösen, etwa für ausreichend Brot und Wasser zu sorgen.
       Damit erreichen die meist sehr jungen Protestierenden auch Menschen, die
       schon etwas älter sind oder sich nicht als Teil der Bewegung verstehen.
       Zivile Strukturen entstanden, Vertrauen wurde aufgebaut.
       
       Dass das gefährlich ist, hat das Militär erkannt, Viele Mitglieder der
       Komitees sind inhaftiert worden. Doch die flachen Hierarchien ermöglichen
       es, die Arbeit fortzusetzen. „Sie funktionieren wie die Hydra“, sagt ein
       Student, dessen Name hier nicht genannt werden kann. „Wenn sie einen
       verhaften, kommen zwei nach.“
       
       Es ist ein Merkmal dieser Bewegung, dass sie keiner Führungspersonen
       bedarf. Zwar gibt es Sprecher:innen, die hervortreten, auch
       Influencer:innen auf den sozialen Medien. Aber insgesamt zeichnet sich
       dieser Widerstand durch seine horizontale Organisation aus und bildet damit
       nicht nur einen klaren Gegenentwurf zu Militär und Diktatur, sondern macht
       Basisdemokratie für die junge Generation erstmalig leb- und erfahrbar.
       
       „Die Straße“ besteht aus mehr als den jungen Menschen, die körperlich in
       ihr in Erscheinung treten. Sie ist auch das Netzwerk um sie herum, die
       Nachbar:innen, Freund:innen und Familie, die Diaspora. Ob Kommunikation
       über Social Media, finanzielle und materielle Unterstützung für die
       Protestierenden, Versorgung der Verwundeten oder Hilfe für Hinterbliebene –
       die Möglichkeiten der Teilhabe sind vielfältig.
       
       Nicht nur in Khartum, auch in anderen Teilen des Landes wird protestiert.
       Die Widerstandskomitees sind landesweit vernetzt. Sie folgen einem
       gemeinsamen Eskalationsplan, der pünktlich zum Jahrestag am 19. Dezember in
       neuen Großprotesten gipfeln soll.
       
       ## „Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit“
       
       „Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit“, unter dieser Parole sind die Ziele
       der Bewegung genannt. Dazu zählen Rede- und Religionsfreiheit, politisches
       Mitspracherecht, das Recht zur selbstständigen Gestaltung des eigenen
       Lebens. Der Traum ist ein friedliches Zusammenleben ohne Rassismus oder
       religiöse Diskriminierung, ohne Gewalt durch Sicherheitsbehörden und ohne
       staatliche Unterdrückung, ohne Diktatur, ohne Islamismus.
       
       Vielen Aktiven in den Widerstandskomitees gefällt die Idee eines föderalen
       Systems für Sudan, da es der ethnischen Vielfalt im Land entgegenkommen
       könnte. Eine weitere Idee ist die Gründung einer eigenen Revolutionspartei,
       sodass sie ihre Forderungen nach einer demokratischen Wahl selbst in die
       Tat umsetzen können. Auf andere politische Kräfte möchte man sich
       jedenfalls nicht mehr verlassen.
       
       Vereint ist die heterogene Bewegung durch einen gemeinsamen Feind: das
       Militär. „Gib deinen Rücken nicht dem Militär, das Militär wird dich nicht
       beschützen! Gib deinen Rücken der Straße, die Straße wird dich nicht
       betrügen!“, so lautet einer der häufigsten Slogans bei den
       Millionenmärschen. „Die Straße ist ehrlich, sie beschützt dich. Das Militär
       hingegen tötet.“
       
       Viele Teenager:innen stehen in den ersten Reihen der Proteste, werfen
       Tränengasbomben zurück und stellen sich vor die Soldaten, mit dem Wissen,
       womöglich erschossen zu werden. Fragt man die jungen Leute nach ihrer Angst
       vor dem Tod, lautet die Antwort immer wieder: „Allah hat den Zeitpunkt des
       Todes für jeden Menschen bereits festgeschrieben.“ Lieber, so sagen sie,
       wollten sie für die Revolution sterben, als ohne Zukunft am Leben zu
       bleiben.
       
       Saskia Jaschek promoviert in Anthropologie und forscht derzeit in Sudan zu
       sozialen Bewegungen und gesellschaftlichem Wandel
       
       19 Dec 2021
       
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