# taz.de -- Biografie über Sexualpädagogen Kentler: Aufklärung und Missbrauch
       
       > Pädagogischer Eros auf dem Holzweg: Teresa Nentwig zeichnet Leben und
       > Wirken des Sexualpädagogen Helmut Kentler nach. Die Biografie ist
       > erhellend.
       
 (IMG) Bild: Heute gilt sein Werk als umstritten: Helmut Kentler im Jahr 1971
       
       Jugend, Erziehung und Sexualität – fast immer, wenn es in den 1960er bis
       1980er Jahren um diese Themen ging, war Helmut Kentler (1928–2008) mit von
       der Partie. Der Sexualpädagoge war ein gefragter Experte in
       Ratgebersendungen und Talkshows, auf Tagungen und in politischen Gremien.
       
       Das Markenzeichen des Professors aus Hannover war, neben seinem Charisma,
       seine Sicht auf Sexualität: Die sexuelle Befreiung des Menschen, so
       Kentlers Credo, sei der Schlüssel zum individuellen Glück und zu einer
       demokratischen Gesellschaft. Durch eine emanzipatorische Sexualerziehung
       könne man aus verklemmten Untertanen mündige StaatsbürgerInnen machen.
       
       Mit Werken wie „Sexualerziehung“ (Rowohlt 1975) erreichte Kentler eine
       breite Öffentlichkeit. Heute gilt sein Werk als umstritten: Kentler trat
       für die Entkriminalisierung von sexuellen Beziehungen zwischen Kindern und
       Erwachsenen ein. Für Empörung sorgte besonders [1][seine Unterbringung von
       Jugendlichen bei vorbestraften Päderasten in Berlin.]
       
       Die Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig hat sich bereits in mehreren
       Forschungsarbeiten kritisch mit Helmut Kentlers Wirken auseinandergesetzt.
       Nun hat sie die erste wissenschaftliche Kentler-Biografie vorgelegt: „Im
       Fahrwasser der Emanzipation? Die Wege und Irrwege des Helmut Kentler“.
       
       ## Zeitzeug:innen und Aufzeichnungen
       
       Auf 744 Seiten nähert sie sich dem Mann und seinem Werk mit der Methode der
       kontextuellen Biografik: Anhand verschiedener Lebensstationen geht sie
       offenen Fragen nach: Wie kam Kentler, der zunächst Experte für
       Jugendtourismus war, zu seinem Forschungsgebiet? Wie wurde er 1975
       Professor der TU Hannover? Und: Ab wann, wie und aus welchen Gründen setzte
       sich Kentler für „gewaltfreie“ Sexualkontakte zwischen den Generationen
       ein?
       
       Nentwig hat dazu ein umfangreiches Quellenstudium betrieben, sie
       recherchierte in Archiven und zeitgenössischer Literatur, befragte
       Zeitzeug:innen und durchforstete Kentlers Aufzeichnungen. In ihrem
       umfangreichen, aber gut lesbaren Werk kommt sie ihrem Forschungsobjekt
       recht nah – und liefert neue Erkenntnisse über Motivation, Netzwerk und das
       Privatleben des Mannes, den die feministische Zeitschrift Emma einen
       „Schreibtischtäter“ nannte.
       
       Als prägend für Kentlers Jugend, der in Köln als Sohn eines Berufsoffiziers
       aufwuchs, schildert Nentwig eine Zeit in Berlin- wo der damals 13-jährige
       in der Bündischen Jugend aktiv wurde. Die dort propagierte Idee des
       „pädagogischen Eros“ machte Kentler später zum Grundstein seiner „Thesen zu
       einer nichtrepressiven Sexualerziehung“, die ihn 1967 schlagartig bekannt
       machten.
       
       Kentlers von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse inspirierten Ideen kamen
       nicht überall gut an, wie Nentwig betont: Selbst auf dem Höhepunkt des
       Liberalisierungsdiskurses hätten sich nicht nur Konservative an der
       Forderung gestört, Kinder so früh wie möglich in das Sexuelle einzuführen.
       
       ## Das „Pflegeväter-Experiment“
       
       Nentwig zeichnet nach, wie etwa der Soziologe Gerhard Amendt auf einer
       Tagung versuchte, Kentlers „Pflegeväter-Experiment“ als Missbrauch zu
       skandalisieren – aber bei den Kolleg:innen auf „Desinteresse“ stieß.
       [2][Fahrlässig auch die Uni Hannover, die Kentlers Dissertation in
       Sozialpädagogik] trotz schwerer fachlicher Mängel annahm – und sich bis zu
       dessen Emeritierung 1996 nie kritisch mit seinen Positionen
       auseinandersetzte.
       
       Nentwig betont immer wieder die Versäumnisse der Wissenschaft, die Kentler
       auch dann nicht hinterfragte, als er ab Ende der 1970er Jahre zum
       Aktivisten für die Sache der Pädosexuellen wurde: Er war aktiv in
       Organisationen wie der Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft
       Pädophilie (DSAP), als Gerichtsgutachter entlastete er
       missbrauchsverdächtige Männer – worauf er stolz war.
       
       Seinen Glauben an „einvernehmliche“, gewaltlose Sexualbeziehungen mit
       Kindern stützte er auf wenige Studien, die Nentwig als methodisch
       ungenügend und interessengeleitet entlarvt.
       
       Nentwig geht es aber nicht darum, zu verurteilen. Sie versucht vielmehr zu
       verstehen: Woher bezog Kentler Einflüsse, wer unterstützte ihn auf seinem
       Weg in die gesellschaftliche „Deutungselite“?
       
       ## Freundschaften und Jugendarbeit
       
       Dazu fädelt die Politikwissenschaftlerin, die ihr Handwerk am Institut für
       Demokratieforschung in Göttingen gelernt hat, akribisch Kentlers
       Beziehungen zu einem Teil des Nerother Wandervogels und zur Burg
       Balduinstein auf – einem Ort, an dem sexuelle Übergriffe auf
       Minderjährige begangen wurden, mit einem Täter war Kentler persönlich
       befreundet.
       
       Eine weitere Kontinuität, die Nentwig herausarbeitet, betrifft Kentlers
       Wirken in der evangelischen Jugendarbeit. Bereits während des Studiums in
       Freiburg entwickelte Kentler für die Evangelische Akademie Bad Boll ein
       Ferienlager für „Industriejugendliche“.
       
       Dort begann, wie Teresa Nentwig zeigt, nicht nur Kentlers Vorliebe für
       pädagogische „Feldversuche“, die er im Nachhinein subjektiv gefärbt
       aufbereitete, sondern auch seine Vernetzung in evangelischen Kreisen: 1962
       bis 1965 arbeitete Kentler am Studienzentrum für evangelische Jugendarbeit
       im bayerischen Josefstal. Später war er aktiv im Arbeitskreis
       Homosexualität und Kirche (HuK), die eine Entstigmatisierung von
       Homosexualität forderte.
       
       Kentler, der sich selbst in den 1970ern outete, unterstützte auch auf
       politischer Ebene die Abschaffung des §175, unter anderem im
       Sonderausschuss für die Strafrechtsreform. Dort trat er auch für die
       völlige Straffreiheit sexueller Beziehungen mit Kindern ein – mit dem
       Argument, dass „erotische Elemente in Erziehungsprozessen […] sicher höchst
       wertvoll“ seien und dass der Gesetzgeber deshalb „hier seine Finger
       heraushalten sollte“.
       
       ## Die Adoptivsöhne
       
       Nentwig zeigt, wie tief Kentler auch privat im päderastischen Milieu
       verwurzelt war: Demnach war der [3][Professor aus Hannover] selbst
       ephebophil, begehrte also Jungen in der Pubertät, wie er seinem
       langjährigem Freund, dem Psychologen Gunter Schmidt, in einem Brief
       gestand.
       
       Anhand eines weiteren Briefes weist Nentwig sogar erstmals nach, was bis
       dahin nur ein Gerücht war: dass Helmut Kentler zumindest mit einem seiner
       drei Adoptivsöhne sexuell verkehrte: „Mein jüngerer Sohn, M., gibt mir so
       viel Kraft, Lust, positives Lebensgefühl […]. Ich bin so dankbar dass ich
       kein alternder resignierter Homo sein muß, sondern daß ich in einer mich
       doch eher erfüllenden Liebesgeschichte drinstehe, die seit 13 Jahren läuft
       […]“.
       
       Nentwig merkt dazu an: „M. war zum damaligen Zeitpunkt 26 Jahre alt,
       Kentler hatte ihn 1984 adoptiert. […] Gleichzeitig gibt es Hinweise darauf,
       dass M. Kentler Freundinnen hatte.“
       
       ## Rat suchen
       
       Weitere Zweifel an der Gegenseitigkeit der Liebesbeziehung ergeben sich
       laut Nentwig aus einem Gespräch mit Kentlers Lehrstuhlmitarbeiterin: Diese
       berichtet, dass zwei von Kentlers Pflegesöhnen sie um Rat gebeten hätten,
       da sie unter den sexuellen Annäherungen litten, aber nicht zurück ins Heim
       wollten. M. brachte sich 1991 um, ein weiterer Adoptivsohn zog zwei Jahre
       nach der Adoption aus – und brach seine Berufsausbildung ab.
       
       Am Ende dieser erhellenden Lektüre bleibt das Bild eines Mannes, der
       einiges für die bundesrepublikanische Sexualerziehung geleistet hat. Aber
       der auch nie in der Lage war, seinen größten fachlichen wie persönlichen
       Irrtum einzugestehen.
       
       9 Dec 2021
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nina Apin
       
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