# taz.de -- Tödlicher Angriff auf David Amess: Radikalisierung im Lockdown
       
       > Der Täter war der Polizei aus einem staatlichen Präventionsprogram gegen
       > Radikalisierung bekannt. Offenbar knüpfte er erneut Kontakte.
       
 (IMG) Bild: Polizei vor dem Haus der Familie des Täters in London, Sonntag
       
       München taz | Nach dem Mord am konservativen Abgeordneten [1][David Amess]
       in Großbritannien am Freitag ist mehr über den mutmaßlichen Täter bekannt
       geworden. Es handelt sich um den 25-jährigen Ali Harbi Ali, ein gebürtiger
       Brite mit somalischen Eltern. Am Samstag verlängerte Scotland Yard seine
       Untersuchungshaft mit Anklageverdacht auf Terrorismus bis Freitag.
       
       Drei Adressen in London, darunter in Kentish Town im Nordlondoner
       Stadtbezirk Camden, wurden polizeilich durchsucht. In Kentish Town leben
       seit mehreren Jahrzehnten viele Flüchtlingsfamilien aus Somalia, darunter
       die Familie des Täters, die in den 1990er Jahren nach Großbritannien kam.
       
       Harbi Ali hatte sich widerstandslos festnehmen lassen, nachdem er in einer
       Methodistenkirche in Leigh-on-Sea am Freitag mittag auf den konservativen
       Wahlkreisabgeordneten David Amess eingestochen hatte – bis zu 17 Mal stach
       er zu, so Presseberichte. Amess hatte in der Kirche eine Bürgersprechstunde
       abgehalten, zu der sich Harbi Ali bereits eine Woche vorher angemeldet
       haben soll. Er sei eigens aus London angereist, heißt es.
       
       Der 25-Jährige war dem staatlichen Entradikalisierungsprogramm
       [2][„Prevent“] bekannt. An dieses Programm überweisen Polizei, Schulen,
       aber auch Moscheen und andere Gemeinschaftsgruppen vor allem Jugendliche,
       sobald der Verdacht besteht, dass diese unter Gefahr stehen, unter
       radikalen Einfluss zu geraten, egal aus welcher politischen Richtung.
       Dennoch galt Harbi Ali nicht als ausreichend gefährlich, um weiter
       geheimdienstlich überwacht zu werden. Es wird nun davon ausgegangen, dass
       Harbi Ali sich während der Coronalockdowns mit ostafrikanischen
       militant-islamistischen Gruppen wie Al-Shabaab aus Somalia neu
       radikalisiert haben könnte.
       
       Die Polizei gab außerdem am Wochenende bekannt, dass Amess am Anfang
       vergangener Woche vor einer Attacke gewarnt worden war. Amess soll trotz
       der Warnung darauf bestanden haben, seine Sprechstunde wie gewohnt
       durchzuführen. Die Warnung stehe aber laut Polizei nicht in Zusammenhang
       mit dem Mord.
       
       ## Aus gutsituierter somalischer Familie
       
       Harbi Ali soll einer gutsituierten somalischen Familie angehören. Sein
       Vater Harbi Ali Kullane ist ein ehemaliger Medien- und
       Kommunikationsverantwortlicher des [3][somalischen Premierministeramtes] in
       Mogadischu. Die Familie soll in den 1990er Jahren, als Somalia im
       Bürgerkrieg versank, nach Großbritannien ausgewandert sein; Harbi Ali
       Kullane sei zeitweise zurückgekehrt, um in Mogadischu seinen Sprecherposten
       aufzunehmen, aber lebe seit drei Jahren wieder in London, so die Sunday
       Times. Sein 25-jähriger Sohn lebte mit ihm an derselben Adresse, die
       inzwischen von der Polizei durchsucht wurde und bewacht wird.
       
       In einem [4][öffentlichen Schreiben] verurteilten Gruppen der
       britisch-somalischen Community die Ermordung und sprachen ihr gemeinsames
       Beileid aus. Auch verschiedene islamische Gemeinschaften aus Southend und
       Umgebung sprachen ihre große Anteilnahme aus und legten gemeinsam einen
       Kranz vor der Kirche nieder, in welcher Amess ermordet worden war. Sie
       betonten, dass Amess zu Lebzeiten an vielen wichtigen muslimischen Festen
       und Begebenheiten teilgenommen hatte.
       
       Dass Amess ein Abgeordnter war, der sich für alle Menschen interessierte
       und auf sie offen zuging, wiederholten viele, die ihn kannten, darunter
       Parlamentssprecher Lindsay Hoyle – Amess war einer seiner Stellvertreter –
       und Innenministerin Priti Patel, Abgeordnete eines Nachbarwahlkreises zu
       dem von Amess, die ihn daher gut kannte.
       
       ## Bessere Schutzmaßnahmen für Abgeordnete
       
       Hoyle und Patel übersehen seit Freitag gemeinsam Maßnahmen zum besseren
       Schutz von Abgeordneten. Das dürfte auch Thema werden, wenn an diesem
       Montag das Unterhaus in London von den Herbstferien zurückkehrt. Viele
       Abgeordnete, insbesondere Frauen und Angehörige ethnischer Minderheiten,
       werden eigenen Angaben zufolge in der Öffentlichkeit ständig bedroht.
       
       Labour-Abgeordnete Tulip Siddiq gab an, sie erhalte regelmäßig Drohungen,
       vergewaltigt und ermordet zu werden, die auch auf ihre Familie übergehen
       würden. Die ehemalige liberaldemokratische Parteiführerin Jo Swinson
       erinnerte daran, dass ihr junger Sohn zu Zeiten ihrer Parteiführung bedroht
       wurde, und dass „weißes Pulver“ an sie geschickt wurde, in klarer
       Anspielung auf Anthrax-Terrorattacken der Vergangenheit. In London steht
       Bürgermeister Sadiq Khan nach Drohungen längst unter 24-Stunden-Schutz, und
       der ehemalige konservative Gesundheitsminister Matt Hancock erhielt neulich
       Leibwächter bei seiner Teilnahme am Marathonlauf, nachdem er Morddrohungen
       von Impfgegnern erhalten hatte.
       
       Innenministerin Patel gab an, dass Abgeordnete seit der Ermordung von Jo
       Cox 2016 das Recht auf Personenschutz hätten. Nun müsse geprüft werden, wie
       die Sicherheitsvorkehrungen erhöht werden könnten, ohne die Fundamente der
       demokratischen Gesellschaft wie eben die wöchentlichen Bürgersprechstunden
       der Abgeordneten zu beeinträchtigen. Die schwarze Labour-Abgeordnete Diane
       Abbott sagte, sie würde Sprechstunden in Zukunft am liebsten hinter
       Trennscheiben durchführen.
       
       Parlamentssprecher Hoyle forderte zudem, dass die Art und Weise, wie in der
       Politik gesprochen wird, sich ändern müsse. Erst vor zwei Wochen hatte die
       stellvertretende Labourvorsitzende Angela Rayner auf ihrer Parteitagsrede
       konservative Politiker pauschal als „Abschaum“ („Tory Scum“) bezeichnet und
       weigert sich bis heute trotz massiver Kritik, den Begriff zurückzunehmen.
       
       Als politisches Signal ist vor diesem Hintergrund zu verstehen, dass sich
       Oppositionsführer Keir Starmer, Innenministerin Priti Patel,
       Unterhaussprecher Lindsay Hoyle und Premierminister Boris Johnson am
       Samstag zu einer gemeinsamen Kranzniederlegung vor dem Tatort in
       Leigh-on-Sea versammelten.
       
       17 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.davidamess.co.uk/
 (DIR) [2] https://www.lbhf.gov.uk/crime/prevent-strategy-overview-and-contact-details
 (DIR) [3] http://opm.gov.so/
 (DIR) [4] https://theatm.org/press-release/condolence-statement-from-the-somali-organisations-and-community-leaders/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
       
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