# taz.de -- Georgien vor den Kommunalwahlen: Georgischer Albtraum
       
       > Die Regierungspartei im georgischen Tiflis schert sich wenig um
       > Demokratie. Die EU darf vor allem die jungen Menschen dort nicht im Stich
       > lassen.
       
 (IMG) Bild: Premierminister Irakli Garibaschwili im Wahlkampf am 27. Oktober in Tiflis
       
       „Nazis, Hooligans, Verräter!“ Die Liste wüster Beschimpfungen, mit denen
       führende Vertreter*innen der georgischen Regierungspartei Georgischer
       Traum (KO) ihre politischen Gegner*innen derzeit verunglimpfen, ließe
       sich fortsetzen. Besonders Ministerpräsident Irakli Garibaschwili lässt
       seinen Hasstiraden freien Lauf. Den ehemaligen Präsidenten Michail
       Saakaschwili, der seit dem 1. Oktober in Georgien im Gefängnis sitzt,
       verglich er mit Adolf Hitler. Aufmüpfigen Kommunen, die für eine/n
       Vertreter/in der Opposition stimmen sollten, drohte er offen mit pekuniärem
       Liebesentzug.
       
       Am Sonntag gehen in der Südkaukasusrepublik die Kommunalwahlen in die
       zweite Runde. Zwar hat der KO im ersten Durchgang offiziellen Angaben
       zufolge mit 47 Prozent der Stimmen einen Großteil der Bürgermeisterposten
       und Sitze in den Gemeindevertretungen erobert. Doch jetzt geht es vor allem
       um fünf selbst verwaltete Städte – [1][darunter die Hauptstadt Tiflis].
       
       Dort hat die größte Oppositionspartei Vereinte Nationale Bewegung (ENM)
       gute Chancen, das Rennen zu machen. Jene ENM ist es auch, die im Verbund
       mit mehreren Kleinstparteien die Kommunalwahl zu einem Referendum über die
       Regierung und deren Politik erklärt hat. Das alles spielt sich vor einer
       verschärften Polarisierung der Gesellschaft ab. Mit der Möglichkeit, dass
       das Land weiter destabilisiert werden könnte.
       
       Wir schreiben das Jahr 2012 – genauer gesagt den 1. Oktober. Die KO des
       milliardenschweren Unternehmers Bidzina Iwanischwili verwies die ENM in die
       Opposition. Deren Gründer, der damalige Staatschef Saakaschwili, ein
       strikter Verfechter einer Annäherung an EU und Nato, erkannte die
       Niederlage an und emigrierte in die USA. Iwanischwili trat zwar ein Jahr
       später als Premier zurück, spielt jedoch bis heute eine maßgebliche Rolle
       in der Politik.
       
       ## Von Rechtsstaatlichkeit verabschiedet
       
       Nicht zuletzt dieser friedliche Machtwechsel infolge der Wahl, von der OSZE
       mit dem Gütesiegel frei und fair versehen, nährte Hoffnungen, dass eine
       demokratische Transformation gelingen könnte. Doch diese Zeiten sind vorbei
       – aus dem Georgischen Traum ist ein Albtraum geworden. Allein die
       vergangenen zwölf Monate [2][bieten genügend Anschauungsmaterial dafür],
       dass sich der KO von Werten wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
       verabschiedet hat.
       
       Dabei sind Zielscheibe dieses Feldzuges nicht nur oppositionelle
       Politiker*innen, sondern auch die Zivilgesellschaft bzw. das, was davon
       noch übrig geblieben ist. Jüngstes Beispiel: der Fall Michail Saakaschwili.
       Nach achtjähriger Abwesenheit und wegen Machtmissbrauchs zu einer
       mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, wurde der frühere Staatschef [3][kurz
       nach seiner Einreise Anfang Oktober festgenommen]. Es muss stark bezweifelt
       werden, dass ihm in Georgien ein fairer Prozess gemacht wird.
       
       ## Politische Motive bei Festnahme
       
       Vielmehr liegt der Verdacht nahe, dass hier aus politischen Motiven ein
       Exempel statuiert werden soll. Wie anders wäre die Äußerung von
       Regierungschef Garibaschwili zu verstehen, dass es gegen Saakaschwili, der
       seit Haftbeginn im Hungerstreik ist, weitere Anklagepunkte geben werde,
       sollte er sich nicht benehmen. Welche Folgen Ungehorsam haben kann, wissen
       auch Vertreter*innen der Zivilgesellschaft zu berichten.
       
       Ein Marsch der LGBTQ-Community im vergangenen Juli [4][artete zu einer Jagd
       eines rechten Mobs auf die Teilnehmer*innen aus]. Auch über 50
       Journalist*innen wurden tätlich angegriffen, wenige Tage später erlag
       ein Kameramann seinen Verletzungen. Versammlungsfreiheit, Schutz von
       Minderheiten? Von wegen. Die Regierung gab den Veranstalter*innen die
       Schuld. Ob jemand von den Schlägertrupps zur Verantwortung gezogen wird?
       Nach den Erfahrungen der Vergangenheit zu urteilen, wohl kaum.
       
       ## Einschüchterung und Drohungen
       
       Auch die Begleitumstände der aktuellen Kommunalwahlen sprechen allen
       demokratischen Standards Hohn. [5][Wähler*innen wurden eingeschüchtert],
       Mitarbeiter*innen von staatlichen Einrichtungen oder Organisationen,
       die staatliche Mittel erhalten, bei Androhung von Kündigung gezwungen, für
       den KO zu stimmen. Über 600 Bewerber*innen der Oppositionsparteien
       zogen aus Angst vor Repressionen ihre Kandidatur noch vor dem ersten
       Wahlgang zurück. Unternehmen, die den KO für den Wahlkampf großzügig mit
       Spenden bedacht hatten und mit Iwanischwili verbandelt sind, erhielten
       allein in diesem Jahr staatliche Aufträge im Wert von über 40 Millionen
       US-Dollar – wie Berichten von Transparency International zu entnehmen ist.
       
       Dass der KO so agieren kann, ist auch dem Zustand der Justiz geschuldet.
       Denn trotz vollmundiger Ankündigungen der Machthaber lässt eine Reform, die
       über Kosmetik hinausgeht, auf sich warten. Beobachter*innen
       beschreiben die Situation vielmehr als „Klan-Herrschaft“ regierungstreuer
       Richter*innen. Diese werden in intransparenten Verfahren berufen und
       urteilen eher nach politischen Opportunitäten denn nach Gesetz und Recht.
       
       ## Hoffnungen junger Menschen
       
       Mittlerweile dämmert es auch der Europäischen Union, dass etwas gewaltig
       schiefläuft in Georgien. Ein weiterer Beweis dafür ist eine Vereinbarung
       vom 19. April 2021, die Brüssel zwischen Regierung und Opposition
       vermittelt hatte. Der Deal: die Ansetzung vorgezogener Parlamentswahlen,
       sollte die KO bei den Kommunalwahlen weniger als 43 Prozent der Stimmen
       erhalten. Wenige Wochen später stieg die KO aus. Klarer hätte Tiflis seine
       Geringschätzung gegenüber den angeblich so wichtigen westlichen Partnern
       nicht ausdrücken können.
       
       Doch der KO ist nicht ganz Georgien. Vor allem viele junge Menschen setzen
       ihre Hoffnungen auf den Westen und stehen für Demokratie und Menschenrechte
       ein. Sie im Stich zu lassen wäre verantwortungslos und fahrlässig. Das gilt
       vor allem angesichts des Nachbarn Russland, der durch ständige Störfeuer
       seinen Einfluss und Zugriff auf Georgien auszubauen versucht, aber an soft
       power nichts anzubieten hat. Die EU muss ihre Georgien-Politik überdenken.
       Die Zeit drängt, und sie ist reif dafür.
       
       29 Oct 2021
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Oertel
       
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