# taz.de -- Geflüchtete aus Haiti: Kein Land in Sicht
       
       > Zehntausende Haitianer:innen versuchen, über Mexiko in die USA zu
       > fliehen. Unterwegs mit Pierre-Louis, der dafür kämpft, dass seine Familie
       > in die Hauptstadt reisen darf.
       
 (IMG) Bild: Haitianer:innen versuchen über den Rio Grande in die USA zu kommen
       
       Mexiko-Stadt taz | Pierre-Louis grüßt knapp und schildert die Lage. Seit
       sechs Uhr früh steht er in der Schlange, die so lang ist, als würde ein
       neues iPhone auf den Markt kommen. Die beißende Kälte der Häuserschlucht
       lässt die Schutzsuchenden frieren. Etwa 150 Haitianer:innen warten im
       Juárez-Viertel in Mexiko-Stadt endlose Stunden, um legale Papiere zu
       bekommen. Es ist der erste Versuch von Pierre-Louis, an diesem Montagmorgen
       bei der Mexikanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (Comar) ein Visum zu
       bekommen.
       
       Schlecht stehen die Chancen hierfür nicht – aus rechtlicher Sicht dürfen
       die mexikanischen Behörden Asylbewerber:innen nicht einfach
       abschieben. Aber: Unterstützung von der Regierung bekäme er keine, erzählt
       der 26-Jährige. Seine Frau und sein einjähriger Sohn sitzen in Acuña fest,
       einer Grenzstadt im Norden Mexikos. „Ich vermisse sie sehr“, sagt
       Pierre-Louis, „aber ich muss kämpfen.“ Er will sie nach Mexiko-Stadt holen.
       
       Pierre-Louis ist einer von Zehntausenden haitianischen Geflüchteten in
       Mexiko, die von dort versuchen, in die USA zu kommen. Auch wenn das
       ziemlich aussichtslos ist. So wurden laut der Internationalen Organisation
       für Migration allein seit dem 19. September 7.621 Menschen aus den USA
       zurück nach Haiti geflogen. Die Fluchtrouten in die USA sind dabei
       unterschiedlich. Manche versuchen die USA per Boot aus Kuba zu erreichen.
       Andere probieren über die Landesgrenze in Mexiko ihr Glück.
       
       Dabei werden viele bereits an der Grenze zu Guatemala aufgehalten. Wieder
       andere haben den amerikanischen Traum bereits aufgegeben und bleiben
       vorerst in Mexiko. Zwei Tage zuvor vertreibt der strömende Regen die
       Menschen in Mexiko-Stadt von der Straße. Da die Behörde geschlossen ist,
       sind nur wenige Geflüchtete vor Ort. Einige von ihnen schlafen auf der
       Straße, den Bänken vor dem Gebäude oder den Treppen im Eingangsbereich.
       Pierre-Louis ist vor wenigen Stunden in Mexiko-Stadt angekommen.
       
       ## Von Dorf zu Dorf
       
       Fünf Tage habe er gebraucht, um von der Grenzstadt Tapachula im Süden zur
       Hauptstadt zu gelangen. Von Dorf zu Dorf, mit Taxis und kleinen Bussen,
       damit die „Migras“, die Migrationsbeamt:innen, ihn nicht schnappen und
       abschieben können. Eine alte Frau mit Maske und Gesichtsschutzschild aus
       Plastik kommt vorbei, drückt einer haitianischen Geflüchteten lächelnd
       etwas in die Hand, das nach einer essbaren Frucht aussieht. Pierre-Louis
       erzählt weiter, dass er bereits vor vier Jahren nach Chile geflüchtet sei.
       
       Er legt die blaue Plastiktüte zur Seite, kramt etwas aus seinem
       verschlissenen Geldbeutel heraus: seinen chilenischen Ausweis. Im Vergleich
       zu Mexiko ist Chile relativ stabil und sicher. Trotzdem wandern viele
       Haitianer:innen, die nach dem Erdbeben 2010 in das Land gekommen waren,
       jetzt wieder aus.
       
       Das hat mehrere Gründe. Eine gängige Erklärung dafür, die man in
       Lateinamerika immer und immer wieder hört, ist jene, die der Staatssekretär
       für Inneres der chilenischen Regierung gibt. Viele Haitianer:innen, die
       Chile verlassen, würden nach Möglichkeiten in Nordamerika suchen, erklärt
       Juan Francisco Galli. „Das hat mit der neuen Politik von Präsident Biden zu
       tun, der signalisiert hat, dass sie offen für die Aufnahme von Migranten
       sind, und das hat zu einem bedeutenden Zustrom geführt“, so der
       Staatssekretär im Interview mit BBC Mundo.
       
       Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn für die haitianischen
       Migrant:innen in Chile gibt es zwei große Probleme. Zum einen: der
       unsichere Aufenthaltsstatus. Chiles Präsident Sebastian Piñera boxte ein
       neues Migrationsgesetz durch, das am vergangenen 20. April in Kraft trat.
       Das Ziel: „ordenar la casa“, das Haus aufräumen.
       
       Die neue Regelung besagt: Wer vor dem 18. März 2020 ins Land kam, darf nur
       noch maximal 180 Tage in Chile bleiben. Außerdem verlangen die Behörden in
       dem südamerikanischen Staat nun eine Fülle an Papieren, die laut vieler
       Geflüchteter unmöglich vorzuweisen sei, etwa ein „Hintergrundzertifikat“
       aus ihrem Heimatland.
       
       Eine weitere Realität, die die chilenische Regierung wohl nur ungern
       zugeben will, ist das enorme Maß an Rassismus und Fremdenfeindlichkeit des
       Andenstaats. Nur ein Beispiel: In der Stadt Iquique im Norden fand Ende
       September eine Demonstration statt. Der wenig originelle Name lautete
       „Keine Migranten mehr“. Knapp 5.000 Menschen „demonstrierten“ gegen
       Migrant:innen, die ohne Papiere eingereist waren. Nach Angaben lokaler
       Behörden kam es zu Übergriffen, bei denen Demonstrierende Orte überfielen,
       an denen sich Schutzsuchende aufhielten, sie zerstörten deren Zelte und
       verbrannten teils auch deren Eigentum.
       
       Erst vor wenigen Tagen deckten Einheiten der Polizeiermittlungsbehörde ein
       Menschenhandelsnetzwerk in Chile auf. Neun Personen wurden festgenommen.
       Das Netzwerk soll laut Interpol 1.000 Haitianer:innen an die US-Grenze
       gebracht haben – darunter 267 Kinder unter sechs Jahren. Laut der
       chilenischen Polizei wurden viele Kinder nicht mit ihren richtigen Eltern
       auf die Reise geschickt.
       
       Joseph hat es eilig. Er sitzt mit angespanntem Körper in einem
       Internetcafé, einen Straßenblock von der Flüchtlingskommission Comar
       entfernt. Joseph, 32 Jahre alt, ein kleiner, drahtiger Typ, ist einer der
       wenigen hier, die aufgrund des starken Erdbebens vergangenen August
       geflohen sind.
       
       Öffentliche Strukturen funktionieren in Haiti so schlecht, dass noch immer
       viele durch das verheerende Erdbeben 2010 zerstörte Häuser nicht wieder
       aufgebaut wurden. Der Großteil hier hat die Heimat bereits vor vielen
       Jahren zurückgelassen. Das Café ist voll von haitianischen Geflüchteten,
       die Papiere ausdrucken, um ein Visum für den Aufenthalt in Mexiko zu
       ergattern. Er entschuldigt sich: „Ich muss zu meiner Frau und dem Kind“,
       und rennt mit dem Stapel an Papieren Richtung Behörde.
       
       ## „Sie entführen dich und töten dich mit Macheten“
       
       Viele hier wollen gar nicht in die USA, sie haben die Illusion des
       amerikanischen Traums bereits abgeschrieben. Sie haben die Bilder
       berittener Polizisten gesehen, die ihre Landsleute verprügeln, die
       Ablehnung, die ihnen immer noch entgegengebracht wird, die Rückflüge ins
       Heimatland. Oder sie haben Angst, an der Grenze als Familie getrennt zu
       werden. Jene Bilder demaskieren die Biden-Harris-Regierung, deren angeblich
       humanitäre Flüchtlingspolitik nur eine Fortführung der Trumpschen
       Abschottungspolitik ohne offen rassistischen Ton ist.
       
       „Es tut wirklich weh, so was zu sehen“, sagt Pierre-Louis dazu. Auch das
       Nachbarland, die Dominikanische Republik, ist für die meisten
       Haitianner:innen keine Option. Pierre-Louis zuckt kurz bei der Frage.
       „Nein, nein. Da kann man nicht rüber. Sie entführen dich und töten dich –
       mit Macheten.“
       
       Jean und sein Kumpel Ricardo haben bereits alle Papiere abgegeben. Sie
       wirken entspannt und optimistisch. Jean, 31, war früher DJ, kann fließend
       Spanisch und Englisch, auch Geldprobleme hat er nicht, so wie viele andere
       hier. Warum so viele aus Haiti fliehen? „Es ist die Sicherheitslage. Guck
       mal: Wenn nicht mal der Präsident deines eigenen Landes sicher ist, einfach
       so erschossen wird, dann …“ Er schüttelt den Kopf, ohne den Satz zu
       beenden.
       
       Auch wenn jeder hier eine andere Geschichte mitbringt – eine Ansicht teilen
       alle: Seit [1][Präsident Jovenel Moïse] am 7. Juli in seinem Haus ermordet
       wurde, ist die Lage im Land noch unsicherer und chaotischer geworden.
       
       In Mexiko erwartet viele Migrant:innen ein Land, das selbst unter einer
       enorm prekären Sicherheitslage leidet. Die praktische Straflosigkeit,
       extreme Korruption und Willkür staatlicher Akteure sowie krimineller
       Gruppierungen macht Mexiko zu einem gefährlichen Pflaster für meist
       schutzlose Asylsuchende. Dazu kommt: Die Regierung hilft in der Regel
       nicht. Armando Vilchis Vargas nimmt kein Blatt vor den Mund: „Wir bekommen
       keinerlei Hilfe von der Regierung. Absolut gar nichts! Diese Regierung ist
       die schlimmste, die wir je hatten“, sagt der Betreiber der
       Flüchtlingsherberge „Hermanos en el camino“ in Metepec bei Mexiko-Stadt. Es
       fehle an allem: Lebensmitteln, Hygieneartikeln.
       
       Seine Herberge sei voll ausgelastet. „Es werden immer mehr“, sagt Vilchis
       Vargas, der keine Kapazitäten mehr hat, um weitere Geflüchtete aufzunehmen.
       Die einzigen Spenden kämen von der mexikanischen Zivilgesellschaft, die
       Vargas lobt. Doch auch Fremdenfeindlichkeit sei weit verbreitet.
       
       „Die Leute sagen: Es reicht doch kaum für uns Mexikaner, und dann kommen
       noch die ganzen Flüchtlinge“, erklärt er. Der als moderat links bis
       links-populistisch rezipierte Präsident Mexikos, Andrés Manuel López
       Obrador, stellte Ende September klar: „Wir wollen nicht, dass Mexiko zu
       einem Migrantenlager wird.“ Es komme jedoch auch vor, dass von staatlicher
       Seite aus noch weniger als nichts passiere: Vargas erzählt, in seiner
       16-jährigen Arbeit mit Geflüchteten höre er immer wieder, wie Polizisten
       Migrant:innen bedrohten und ihnen Geld abknöpften.
       
       Geld, das sie meist ohnehin nicht haben. Migrant:innen sind ein
       beliebtes Ziel krimineller Gruppen: Erpressungen, Entführungen,
       Zwangsrekrutierungen. Vor knapp einem Monat entführte eine Gruppe
       bewaffneter Männer im Bundesstaat San Luis Potosí in Mexiko 38
       Migrant:innen haitianischer und kubanischer Herkunft. Auch einige
       Mexikaner:innen waren unter den Entführten.
       
       Taxifahrer Bernardo teilt gerne seine Meinung zum Thema. Früher, vor vielen
       Jahren, sei er Bundespolizist gewesen. Da sei die „Sache schon schlimm
       gewesen“. Aber jetzt sei es völlig außer Kontrolle. „Ganz ehrlich: Da
       helfen nur noch Schläge. Man muss die Situation unter Kontrolle bringen.“
       Pierre-Louis wartet noch immer in der Schlange. Neben ihm steht jetzt sein
       Onkel, der nicht sprechen kann oder will.
       
       Die Behörde hat mittlerweile geöffnet, aber es geht nur schleppend voran.
       Es kann sein, dass sein Antrag abgelehnt wird, und er das ganze Prozedere
       bei den Behörden etliche Male wiederholen muss. Immerhin hat Pierre-Louis
       mittlerweile eine Bleibe gefunden. Er ist froh, nachts nicht auf der Straße
       schlafen zu müssen. Aber sicher ist für Pierre-Louis und alle weiteren
       Migrant:innen nichts: Ende September begann auch Mexiko, wie die USA,
       mit ersten Rückführungsflügen in die haitianische Hauptstadt
       Port-au-Prince.
       
       13 Oct 2021
       
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