# taz.de -- Vom Ostseeurlaub nach Berlin: Neukölln ist nicht Bullerbü
       
       > Ist Berlin eigentlich gefährlich? Wie es ist, die eigene Heimatstadt mal
       > mit den staunenden Augen des Ostseeurlaubers zu besuchen.
       
 (IMG) Bild: Großstadtdschungel par excellence: Karl-Marx-Straße in Berlin-Neukölln
       
       Berlin taz | Ein Herbsttag an der mecklenburgischen Ostsee, ein
       Ausschreiten in bester Luft, an der Seite eine Spaziergangsfreundschaft,
       spontan erwachsen aus der Zeit in der Rehaklinik. Sie ist seit ein paar
       Jahren im Ruhestand, aus der Gegend von Rostock, ein langes Leben in der
       DDR, kein Verdruss insgesamt, nur die Frage: „Sie sind aus Berlin?“ Ja.
       „Und ist es da …“, dann drucksend, „… gefährlich?“ Äh, bitte – woher sie
       das denn habe? „Also im Fernsehen, da sah ich mal ’ne Reportage über
       Berlin, so, Neukölln, vom Zoo im Westen, und am Alex, da war gerade einer
       umgebracht worden … Außerdem: Die Müllabfuhr, habe ich gesehen, klappt ja
       auch nicht so.“
       
       Was folgte, als meine Antwort, war eine astrein linke, gleichwohl
       megafreundliche, ja sanfte Belehrung in die Tücken des Blicks von außen auf
       die Stadt, in der ich seit 25 Jahren lebe, und zwar gefahrlos.
       
       „Nein, das ist alles sehr hübsch, und die Menschen, nun, manchmal rau, aber
       herzlich. Und der Schmutz? Okay, manche Ecken sind nicht gerade so wie
       gebohnert, aber das gehört zu einer superaufregenden, alles in allem dann
       doch nicht stressenden Hauptstadt dazu, außerdem gibt es wirklich sehr
       viele Schrebergärten und Parkanlagen, in denen respektvolle menschliche
       Umgangsformen sehr üblich sind.“
       
       Meine mitschreitende Bekanntschaft guckte etwas skeptisch, aber sie schien
       mir zu glauben: Dahin will ich wirklich und ernsthaft zurück, also nach
       Hause? Ich jedenfalls klang in ihren Ohren, vielleicht, glaubwürdig, und
       kam mir vor wie ein Propagandist wider den Geist der gewaltlüsternen
       Kolportagen in den schlimmen TV-Sendern.
       
       Anderntags ein Ausflug nach Hause, Wochenendfreizeit, die Bahn fährt
       akkurat, die Waggons immer voller werdend, bis Gesundbrunnen, ein Bahnhof
       im Wedding, dort, wo einst Hertha BSC als Verein geboren wurde und die
       unmittelbare Einwohnerschaft das neue Berlin lebt, arm, aber immer eilig.
       Freitag am späteren Nachmittag, es dunkelt schon, kein wie in Rostock
       gemächliches Durchkommen zum nächsten Gleis, zur U-Bahn, zu den Bussen, in
       die Mall mit den Supermärkten. Alles ist durcheinander, und ja, alles niest
       und rotzt, rüpelt und rempelt, und zwar so, dass sich sogar niemand
       beschwert, was diesseits der direkten Gewaltandrohung liegt. Schockierend
       großstädtisch offenbar. Und dann die U-Bahn.
       
       In Kopenhagen, diesem Legoland, das als dänische Hauptstadt ausgegeben
       wird, sind die U-Bahnen vergleichsweise ultrasauber, hier in Berlin – ein
       Sauhaufen sondergleichen. Durch die Waggons schleichen sich
       Bettler*innen, auch nicht gerade beschmusenswert, vorsichtig formuliert,
       hier und dort hört man das Klimpern von Kleingeld in die Becher. Immer
       wieder tauscht sich alles aus, nie ist Ruhe im Karton, alles quatscht und
       plappert, und im Übrigen am lautesten die auswärtigen Touristen, die es
       hier nach Neukölln und Kreuzberg zieht. Kennt man ja: Sie sind lauter als
       die anderen, weil sie sich selbst hören müssen, um sich nicht verloren zu
       fühlen wie Gepäck am Bahnhof.
       
       ## Der metropole Dschungel
       
       Dann der Hermannplatz, ein Abgrund an Nervosität, gezähmter natürlich.
       Schließlich mein Höhepunkt der Wiederannäherung an Berlin, wo man selten
       grüßt, anders als an der Ostsee, und immer eher hastet, die Sonnenallee.
       Auferstanden aus Ruinen durch die Einwander*innen nicht erst seit 2015,
       die Fußwege voll gestellt mit Teehausstühlen, außerdem die größte
       Frisördichte der Welt – der Berliner als solcher findet ja alles in seiner
       Stadt am besten „in der Welt“, nötigenfalls auch die Anzahl der
       Haarschneide-Start-ups – von den Massen an wuselnden Menschen, darunter
       auch immer wieder Hipster, die sich hier zu behaupten haben, abgesehen.
       
       Wer es durch diesen metropolen Dschungel schafft, weiß, wie Berlin geht.
       Aber dieser Unrat auf den Böden, die Kippen und Plastikbecher to go auf den
       Flächen rund um die Bäume … Ja, so sieht es aus, da gibt es faszinierten
       Gemütern aus den Rostocker Vorstädten oder anderen Teilen der Provinz
       nichts zu beschönigen: Berlin fühlt sich nicht an, als sei es auch nur
       irgendwie so sortiert wie etwa das englische Midsomer in „Inspector
       Barnabys“ Ermittlungsgebiet.
       
       Wobei: So viele in der Regel spektakulär inszenierte Tötungsdelikte wie in
       dieser scheinharmonischen Landschaft durch oft die allerbesten bürgerlichen
       Kreise gibt es in Berlin zu keiner Zeit zu beklagen. Hier, in Berlin am
       hektischen Freitag-Spätnachmittag – um Rostock herum gilt 18.30 Uhr als
       Auftakt der Zeit für das Sofaprogramm, nicht als später Nachmittag –, ist
       diese meine Stadt wie ein mühselig unter der Decke gehaltener
       Hysterieausbruch: Metropole eben.
       
       Montag, wir gehen wieder spazieren, meine Rehafreundin fragt, wie es denn
       so war. Ich entschuldige mich für mein Getue, dafür, dass ich
       unhöflicherweise so getan habe, als spräche sie Fieses aus, gegen Berlin.
       Ich sage ihr: Okay, die Dokus auf RTL II, Sat1 oder sonst einem gedungenen
       Horrorproduktionssender, gegen die sei nix einzuwenden.
       
       Weil: Abgesehen von der Attraktivität, die in allen
       Sodom-und-Gomorrha-Fantasien liege, hätten sie genau das empfunden, was
       Sache ist. Berlin ist kein Dorf, es ist auch vermüllt, es ist hektisch und,
       abgesehen von Steglitz und Friedrichshagen, immer im Energiemodus, selbst
       nachts. Insofern: Wenn Sie mal zu Besuch kommen, um mal was anderes zu
       sehen – herzlich willkommen.
       
       17 Sep 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
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