# taz.de -- Der Hausbesuch: Er baut sich seine Welt
       
       > Daniel Hahn füllt leere Räume mit Träumen, und das in München. Mit
       > Frachtcontainern, einem ausrangierten Ausflugsschiff und immer als „Wir“.
       
 (IMG) Bild: Daniel Hahn in seiner Küche: Das Bahnwärter Thiel ist zehn Minuten zu Fuß von hier
       
       Manche Menschen denken sich ihre Stadt schön. Und dann tun sie alles dafür,
       dass sie auch schöner wird. Daniel Hahn ist so einer.
       
       Draußen: An der Implerstraße in Sendling rauscht der Verkehr vorbei,
       Menschen hasten durch den Regen zur U-Bahn. Direkt neben einer 1911
       erbauten Schule geht es durch einen Eingang im ersten Stock in einen
       ruhigen Hinterhof; der Großstadtlärm ist wie verschluckt.
       
       Drinnen: Daniel Hahn ist erst vor Kurzem mit seiner Freundin in die
       Zweizimmerwohnung gezogen. Im Haus aber wohnt der 31-Jährige schon länger.
       Schlicht ist die Wohnung eingerichtet mit alten Möbeln. Zwischen Ocker,
       Braun und Dunkelgrün finden sich zwei Farbkleckse: das hellblaue Zahnrad
       eines Karussells in der Küche und eine knallrote Drehorgel im Wohnzimmer.
       Die Wohnung eines Unternehmers stellt man sich geschleckter vor, aber hier
       lebt schließlich auch ein Kreativer.
       
       Umtriebigkeit: Kreativ zu sein ist allerdings nur eine Facette von Hahn.
       Viel stärker ist seine Umtriebigkeit. Er sieht Dinge dort, wo andere nichts
       sehen. Und genau an diesen Orten schafft er Räume voller Leben. Alternativ
       und unkonventionell, und das im gediegenen München.
       
       Trubel: Hahn hat zwei jüngere Brüder und zwei Halbgeschwister, die beim
       Vater aufwuchsen. Zu Hause waren es aber dennoch fünf Kinder, da die Mutter
       als Sozialpädagogin Pflegekinder betreute. Der Trubel fand ein Ende, als
       Hahn noch keine zehn Jahre alt war, weil die Mutter krank wurde und nicht
       mehr arbeiten konnte. Leicht sei das für niemanden gewesen: „Meiner Mutter
       ging es zunehmend schlechter und wir waren halt drei pubertierende Jungs.“
       Schon früh musste Hahn als Ältester im Haushalt helfen und auf seine Brüder
       aufpassen, schließlich erwachsen werden.
       
       Lebensentwurf: Hahn wuchs in Sendling auf, ging auf eine Waldorfschule in
       Schwabing. Eigentlich sollte fürs Lernen auch noch genug Zeit bleiben, aber
       die Verantwortung für die Geschwister war zu groß, die Kraft für die Schule
       fehlte. Nach dem Realschulabschluss hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über
       Wasser – er servierte, verkaufte Semmeln, half bei Umzügen, arbeitete auf
       dem Bau. Wohin er wollte, wusste er nicht. „Ich habe mich nie getraut,
       einen Lebensentwurf zu denken“, erzählt er. Also fing er in einem
       Kinderheim an. Er wusste schließlich, wie es mit Kindern so läuft. Das
       langfristige Ziel: sein Abitur nachholen.
       
       Kreativität: Hahn wollte immer Fußball spielen, aber er durfte zuerst nur
       zum Hockeyschläger greifen, machte dann Kickboxen. In seiner Zeit im
       Kinderheim lernte er jemandem aus dem Pathos Transport Theater kennen, das
       nicht nur Theater, sondern damals auch Technoclub war. Der war ein „netter
       Typ“, und weil Hahn ja kickboxen konnte, fing er dort nebenher als
       Türsteher an. Eigentlich war das gar nicht seine Berufung. Mit der Zeit
       übernahm er immer mehr Aufgaben, holte seine Freunde und Brüder dazu.
       
       Bewusstsein: „Es war nicht relevant, was man gelernt hatte oder wie alt man
       war“, erinnert sich Hahn. Wer anpackte, machte mit. Trotzdem wollte er
       weiterhin studieren. „Bis ich gemerkt habe: Hey, ich mach eigentlich schon
       genau das, was mir Spaß macht. Das hat mir einen richtigen Schub gegeben.“
       Eine Ausbildung sollte es dennoch sein, entschied er, und machte eine zum
       Veranstaltungskaufmann beim Club Harry Klein. Nebenbei verbrachte er jede
       freie Minute im Theater.
       
       Zelt: Die Theaterhalle war mit der Produktion immer gut besetzt. Doch Hahn
       wollte mehr – und kaufte ein altes Zirkuszelt, gründete „Wannda e. V.“. Der
       Verein bekam für das Zelt ein Gelände auf Zeit, was folgte, war ein
       dreimonatiges Festival. Seitdem zieht Wannda jedes Jahr auf andere
       Brachflächen in München und veranstaltet im Sommer Lesungen, Flohmärkte,
       Workshops, Kunstfilmabende, Ausstellungen, Raves und mehr.
       
       Leidenschaft: Hahn sagt selten „ich“, fast immer „wir“. Die Projekte bauten
       anfangs auf ehrenamtliche Unterstützung. Auch sein Leben kann man von
       seinen Unternehmungen nicht trennen. „Es war für alle eine Leidenschaft“,
       sagt er. Die Pacht für die Brachflächen ist teuer, die Erschließung auch.
       „Und man muss sehr professionell arbeiten, der Leistungsdruck ist hoch“,
       sagt Hahn. Das Gute allerdings: Jeder konnte sich in diesen Leerräumen, die
       sie mit Leben füllten, entwickeln. Erfahrungen sammeln. Und selbstbewusst
       werden.
       
       Cut: Von heute auf morgen war im Pathos Transport Theater dann Schluss,
       trotz des durchgetakteten Jahresprogramms. Ein altes Dokument tauchte auf:
       Die Munitionsfabrik hatte gar keine Genehmigungen für solche
       Veranstaltungen. „Das war dramatisch, weil es so erfolgreich war“, sagt
       Hahn. Auf dem Höhepunkt konnten seine Mitstreiter:innen und er das
       nicht auf sich sitzen lassen, und so begann die lange Suche nach einem
       neuen Ort. Sie fanden eine Fläche am alten Schlachthof, die zur
       Zwischennutzung ausgeschrieben war.
       
       Bahnwärter: Da erinnerte sich Daniel Hahn an seinen Jugendtraum. An den
       Gleisen am Südbahnhof im Schlachthofviertel steht ein kleines
       Bahnwärterhäuschen. „Als ich in der Schule ‚Bahnwärter Thiel‘ las, haben
       sich die ganzen Szenen vor meinem inneren Auge dort abgespielt“, erinnert
       er sich an die Hauptmann-Novelle. „Ich dachte mir immer: Ich würde da gerne
       ein Kulturprojekt machen.“ Schon mit 18 fragte er über Immobilienmakler bei
       der Deutschen Bahn an, ob man das leerstehende Häuschen nutzen konnte. Ohne
       Erfolg.
       
       Neuanfang: Sein Traum, dieses „heilige Projekt“, blieb. Bis Hahn ein
       anderes Gelände am Südbahnhof bekam. Ein recycelter Holzpavillon sollte das
       Fundament bilden. Aufbau, Statik, Wasserleitungen, Strom, Behördenkram –
       nach sechs Wochen stand die Halle. Über einen Tipp bekam Hahn einen alten
       Bahnwaggon, per Schwertransport ging dieser in den ehemaligen Viehhof: So
       war die Veranstaltungslocation [1][„Bahnwärter Thiel“] geboren. Als sie
       endlich stand, waren sämtliche Ressourcen aufgebraucht, der Kreditrahmen
       ausgereizt. „Das war total auf Kante genäht“, sagt Hahn. „So knapp, dass
       wir nicht mal mehr den Gabelstapler tanken konnten.“
       
       Umzüge: Die Zwischennutzung war auf sechs Monate begrenzt, dann zog der
       Bahnwaggon vor die Hochschule für Fernsehen und Film in die gestriegelte
       Maxvorstadt, wo der „Rasen überall sehr sorgfältig gemäht“ ist. 2017 zogen
       sie an einen neuen Standort auf dem ehemaligen Viehhof um, dürfen dort bis
       2027 bleiben. Seitdem kamen Tram- und U-Bahn-Wagen, viele Frachtcontainer
       und andere Kuriositäten hinzu.
       
       „MS Utting“: Und noch etwas Neues tat sich auf. Das romantische
       Ausflugsschiff [2][„MS Utting“], Jahrgang 1950, drehte auf dem Ammersee
       seine letzten Runden, bevor es ersetzt werden sollte. Pläne für eine
       weitere Verwendung gab es nicht, keiner traute Hahn und seinen Leuten, die
       in Turnschuhen statt Sicherheitsschuhen rumliefen, zu, das Boot auch nur
       einen Zentimeter vom Wasser wegzubewegen. Doch sie schafften es nach
       München, seit 2017 steht es auf einer ungenutzten Eisenbahnbrücke nicht
       weit vom Bahnwärter Thiel. Und heute kann dort gegessen, getrunken und
       gefeiert werden.
       
       Intensität: All die Projekte seien eine „Achterbahn der Gefühle“, da die
       Räume stets neu erschlossen werden müssen. Jeder Rückschlag bringt das
       gesamte Konzept ins Schwanken, jede Genehmigung erleichtert das Herz.
       „Immer wieder bin ich nachmittags ins Bett, weil ich am Boden zerstört
       war“, sagt Hahn. Über Nacht kam die Hoffnung zurück. Er hat ein kleines
       Büchlein, in dem er alle Ideen niederschreibt. Dann kam Corona. Jetzt gilt
       es Projekte zu erhalten. Für Hahn eine „sehr kräftezehrende Zeit“. Er sei
       ins Zweifeln gekommen, stellte seinen Lebensweg infrage.
       
       Dorf im Dorf: Die eigentliche Einnahmequelle, der Motor von Hahns Projekten
       sind der Club im Bahnwärter Thiel und die Wannda-Festivals. Alle anderen
       Formate werden querfinanziert. Die letzten Jahre arbeitete Hahn mit seinen
       Mitarbeiter:innen daran, etwa hundert Ateliers in den Containern zu
       etablieren. Kreative aller Art sollen dort zusammenkommen. Es sei ein „Dorf
       im Dorf“, mitten in einer großen Stadt, in der Platz umkämpft ist. Nicht
       erst seit der Corona-Epidemie träumt er von anderen Orten, wo mehr möglich
       ist.
       
       Raus: Daniel Hahn baut sich einfach das zusammen, was ihm fehlte: seine
       eigene Welt, in der man sich entfalten kann. Auch, wenn es ohne Kommerz
       nicht geht, nicht in München, und nicht, wenn man faire Löhne zahlen will.
       „Es zerreißt dich“, sagt er. „Wir wollen nicht von Zwischennutzung zu
       Zwischennutzung ziehen.“ München sei eine Herausforderung. Für etwas
       Längerfristiges zieht es ihn nun mit seinem Bruder Julian raus: Sie
       restaurieren ein verlassenes Café in einer Waldschlucht im bayerischen Bad
       Kohlgrub. Das Bahnwärterhäuschen seiner Träume am Südbahnhof wird
       abgerissen, dieser Zug ist abgefahren. Vielleicht nach 2027 auch der aus
       München.
       
       11 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.bahnwaerterthiel.de/
 (DIR) [2] https://www.alte-utting.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Weinzierler
       
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