# taz.de -- Schleswig-Holstein plant Lockerungen: Durchseuchung der Schulen kommt
       
       > Die schleswig-holsteinische Landesregierung will die Coronamaßnahmen in
       > Schulen lockern. Sie nimmt in Kauf, dass Schüler:innen krank werden.
       
 (IMG) Bild: Risiko-Strategie: Auf Masken sollen Schüler:innen in Schleswig-Holstein bald verzichten dürfen
       
       Hamburg taz | Die Empörung auf Twitter ist groß. Unter dem Stichwort
       Durchseuchung geht das Video eines dreijährigen Mädchens viral, das beatmet
       wird. Die Botschaft ist klar – man sollte Kinder nicht einfach Corona
       überlassen. Am Montag im Kieler Landtag wird aber deutlich: Zur Infektion
       der meisten Schulkinder gibt es wenig Alternativen.
       
       Die Expert:innen, die der Bildungsausschuss des Landtags in
       Schleswig-Holstein eingeladen hatte, sprachen am Montag Klartext. Die vier
       Wissenschaftler:innen sagten eine Durchseuchung der jüngeren
       Schulkinder voraus. „Das ist deren einzige Möglichkeit, Immunität zu
       erwerben“, erklärt Anne Marcic, Infektionsschutzreferentin im
       Gesundheitsministerium.
       
       Ausgangspunkt war das Bestreben, die Maskenpflicht in den Schulen zu
       lockern. Der schleswig-holsteinische CDU-Bildungspolitiker Tobias von der
       Heide fordert, die Maskenpflicht am Sitzplatz aufzuheben. Das sei wichtig,
       da Kommunikation auch durch Mimik stattfinde. Außerdem will er die
       Massentestungen einschränken. So sollen Schulkinder bald nur noch getestet
       werden, wenn sie Symptome haben oder als Kontaktpersonen eingestuft
       wurden. Er könne sich allerdings vorstellen, dass bei höherer lokaler
       Inzidenz die Testpflicht für alle wieder in einzelnen Landkreisen
       eingeführt werden könne.
       
       Aktuell werden alle Schüler:innen in Schleswig-Holstein zwei Mal pro
       Woche mit einem Antigen-Schnelltest getestet. In der vergangenen Woche
       waren es 478.101 Tests. Davon waren aber nur 234 positiv. Von der Heide
       möchte das Testsystem deshalb zwei Wochen nach den Herbstferien
       weitestgehend auslaufen lassen. Dadurch würden mit Corona infizierte
       Reiserückkehrer:innen nach den Ferien noch entdeckt werden. 98
       Prozent der Lehrer:innen hätten zudem schon ihre Erstimpfung erhalten.
       
       Weniger optimistisch wirkt Kai Vogel. Der bildungspolitische Sprecher der
       in Schleswig-Holstein oppositionellen SPD-Fraktion unterstützt zwar die
       Lockerung der Maßnahmen, begeistert klingt er am Telefon aber trotzdem
       nicht: „Die Schulen werden wohl leider Hochinzidenzgebiete werden.“ Die
       Alternative zur Durchseuchung der Drei- bis Zwölfjährigen sei aber nur die
       Rückkehr zum Distanzunterricht. Das wollten alle vermeiden. „Die Lösung
       kann nicht sein, die Schule wieder über Monate dichtzumachen. Die Kinder
       sollen auch soziales Miteinander lernen“, sagt Vogel.
       
       Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen haben Kinder weitaus seltener schwere
       Covid-19-Verläufe als Erwachsene. Auch die Sterberate ist bei Kindern und
       Jugendlichen minimal. Seit Ausbruch der Pandemie bewegt sich die Zahl der
       unter 17-jährigen Coronatoten in Deutschland im unteren zweistelligen
       Bereich.
       
       Was den Bildungspolitiker:innen aber aktuell Kopfzerbrechen
       bereitet, ist [1][Long Covid]. So werden die Langzeitfolgen nach einer
       Corona-Infektion wie Müdigkeit, weniger Belastbarkeit und teilweise
       neurologische Folgen genannt. Die Krankheit ist kaum erforscht. Was man
       allerdings weiß: Long Covid tritt vollkommen unabhängig von der Schwere der
       Coronaerkrankung auf. Und auch Kinder sind betroffen.
       
       Neueste Studien schätzen das Risiko für Kinder eher gering ein. Eine
       [2][aktuelle Studie] aus England, die im renommierten Fachjournal The
       Lancet erschien, zeigt, dass sich etwa 4,4 Prozent der Kinder nach 28 Tagen
       noch nicht vollständig von Covid-19 erholt haben.
       
       Das wäre eins von 20 Kindern, das über längere Zeit an Symptomen wie
       starker Abgeschlagenheit leidet. Die Daten sind außerdem nicht
       hundertprozentig auf die aktuelle Situation übertragbar, da sie sich auf
       einen Zeitraum beziehen, in dem noch die Alpha-Variante vorherrschte. Das
       frustriert auch Kai Vogel: „Wir haben einfach keine belastbaren Studien zu
       dem Thema.“
       
       ## Immunisierung durch Infektion
       
       Bisher riecht das schleswig-holsteinische Lockerungsprojekt deshalb
       gefährlich nach einem Blindflug. Da aber in nächster Zeit keine
       Impfstoffzulassung für unter 12-Jährige abzusehen ist, gibt es wenig
       Handlungsspielraum für die Politiker:innen. Immunisiert werden können die
       Jüngeren auf absehbare Zeit nur durch Infektion.
       
       Neben der Schule haben Kinder meist noch viele andere Kontakte: zum
       Beispiel in Vereinen und in ihren Familien. In Schleswig-Holstein sind erst
       63,1 Prozent der Einwohner:innen komplett geimpft. Für die Ungeimpften
       könnten die Kinder somit eine gefährliche Infektionsquelle werden. Außerdem
       steigt bei hoher Fallzahl auch immer das Risiko, dass sich Mutationen im
       Virusgenom bilden und somit neue Varianten in Umlauf kommen. Wie gut die
       bisherigen Impfstoffe dann helfen, ist nicht abzusehen.
       
       All das zeigt: Auch wenn eine Durchseuchungsstrategie gerade in der
       Abwägung mit erneutem Distanzunterrichts-Chaos gewinnt, ist sie keine
       optimale Lösung. Die mangelhafte Studienlage macht die Strategie in der
       Praxis zu einem gigantischen Feldversuch. Möglicherweise ist das aber
       besser, als Kinder erneut auf unbestimmte Zeit nach Hause zu schicken. Denn
       die negativen Folgen des Homeschoolings kommen erst langsam ans Licht. Und
       was bisher bekannt ist, [3][sieht alles andere als gut aus.]
       
       25 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Spaetfolgen-von-Covid-19/!5777303
 (DIR) [2] https://www.thelancet.com/journals/lanchi/article/PIIS2352-4642(21)00198-X/fulltext
 (DIR) [3] /Umfrage-zu-Lernrueckstaenden/!5784595
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Finn Walter
       
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